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Dienstag, 19. Februar 2013

Schreibtechniken: Die Cluster-Methode


Wer schöpferisch arbeitet – vor allem, wenn er schreibt –, muß sich die speziellen Funktionen beider Gehirnhälften in geeigneter Weise nutzbar machen. (Gabriele L. Rico, Garantiert schreiben lernen, S. 66)
Im Leben der meisten Menschen hat sich Erkenntnis nur zufällig eingestellt. Wir warten auf sie, so wie der Mensch früher auf den Blitz wartete, um ein Feuer zu entfachen. Geistige Zusammenhänge herzustellen ist jedoch unser entschiedenstes Lernmittel, die Essenz der menschlichen Intelligenz: Verbindungen zu knüpfen; hinter das Gegebene zu schauen; Muster, Beziehungen und den Kontext zu begreifen. (Marilyn Ferguson, Die sanfte Verschwörung; zitiert nach Rico, S. 34)

But in most lives insight has been accidental. We wait for it as primitive man awaited lightning for a fire. But making mental connections is our most crucial learning tool, the essence of human intelligence: to forge links; to go beyond the given; to see patterns, relationships, context. (The Aquarian Conspiracy)
Sie haben Ihr Thema gefunden, haben eine umfassende Vita für jede einzelne Ihrer Figuren erstellt (vielleicht sogar nach meinen Anregungen auf http://juttas-schreibtipps.blogspot.de/2008/08/auch-ihre-figuren-haben-eine-biographie.html) und Pläne der Handlungsorte gemalt, haben monatelang recherchiert, das Gerüst steht, Sie wollen loslegen, sitzen vor dem leeren Blatt Papier und denken „Hilfe, was nun?“, weil Sie nicht wissen, wie Sie das alles sprachlich umsetzen sollen, wie Sie Texte schaffen, die über das Althergebrachte, Gewohnte hinausgehen sollen, sprich von einem großen Publikumsverlag auf Anhieb gedruckt werden. Nun, letzteres kann ich nicht versprechen, aber zumindest zum Hervorkitzeln Ihrer Kreativität gibt es verschiedene Methoden wie die Mind-Map, die der britische Mentaltrainer und Autor Tony Buzan Anfang der 1970er Jahre ausarbeitete.

Clustering versus Mind-Mapping

Nehmt einige Bogen Papier und schreibt drei Tage hintereinander ohne Falsch und Heuchelei alles nieder, was euch durch den Kopf geht. Schreibt, was ihr denkt von euch selbst, von euern Weibern, von dem Türkenkrieg, von Goethe, von Fonks Kriminalprozeß, vom Jüngsten Gerichte, von euern Vorgesetzten – und nach Verlauf der drei Tage werdet ihr vor Verwunderung, was ihr für neue, unerhörte Gedanken gehabt, ganz außer euch kommen. Das ist die Kunst, in drei Tagen ein Originalschriftsteller zu werden! (Ludwig Börne, Die Kunst, in drei Tagen ein Originalschriftsteller zu werden, 1823)
Auf die Mind-Map-Methode möchte ich hier nicht eingehen, denn ich schwöre auf eine ähnliche Methode zum Entdecken der eigenen Kreativität, die Gabriele L. Rico etwa um die gleiche Zeit in den USA entdeckte, eine Methode, die erstaunliche Einfälle und verblüffende Assoziationen auslöst und so den Einstieg in das Thema erleichtert und lebende Figuren schafft: das Clustering (von engl. Cluster = Gruppe, Haufen, Anhäufung; to cluster = anhäufen, zusammenballen, zu Büscheln anordnen). – Der Schreiblehrer Jürgen vom Scheidt empfiehlt, beide Methoden nacheinander zu benutzen, mehr dazu siehe hier. – Beide Methoden beruhen auf der von Sigmund Freud entwickelten Methode der freien Assoziation, was bedeutet, dass man ohne nachzudenken oder gar zu zensieren das schreiben soll, was einem gerade so einfällt, zu der er sich wahrscheinlich von Börne inspirieren ließ (siehe Klaus Thonack: Selbstdarstellung des Unbewussten: Freud als Autor, 1997, S. 110). Doch im Gegensatz zu Rico kommt sie bei Buzan erst an zweiter Stelle, vor allem aber beruht das Mind-Map auf strengen formalen Regeln wie die Dicke der Striche für die Verzweigungen, unterschiedlich große Buchstaben und unterschiedliche Farben. Bei Rico schreibt man das Wort, um das es geht, in die Mitte eines Blatts Papier, malt einen Kreis drumrum, assoziiert davon ausgehend weitere Wörter mit Kreisen darum und verbindet sie mit Strichen. Fertig. Nur leider hat sich Buzans Methode mittlerweile durchgesetzt, vielleicht aufgrund seines besseren Vermarktungskonzepts.

Rico schreibt dazu in ihrem Buch Garantiert schreiben lernen: Sprachliche Kreativität methodisch entwickeln – ein Intensivkurs:
1976, fünf Monate nach Abschluß meiner Dissertation, erfuhr ich gleichermaßen aufgeschreckt und ermutigt, daß der englische Pädagoge Tony Buzan ein Verfahren zur Förderung kreativer Fähigkeiten entwickelt hat, das dem Clustering ähnelte. Er hat seine „Mapping“ genannte Methode in einem Buch mit dem Titel Use Both Sides of the [Your] Brain vorgestellt. Obwohl Clustering und Mapping zu unterschiedlichen Übungen und Lernprozessen führen und auch äußerlich in vieler Hinsicht voneinander abweichen, schien es, als hätten Tony Buzan und ich unabhängig voneinander eine Entdeckung gemacht, für die die Zeit gekommen war. (S. 10)
Aufbauend auf dieses Buch, das sie 1983 unter Writing the natural way: Using right-brain techniques to release your expressive powers veröffentlicht hatte und das 1984 in Deutschland erschien (Tony Buzan veröffentlichte The Mind Map Book erst 1993, in Deutschland wurde es unter dem Titel Das kleine Mind-Map-Buch: Die beste Methode zur Steigerung ihres geistigen Potentials sogar erst 2002 herausgegeben), wurde auch in Deutschland das kreative Schreiben (Creative Writing) modern. Schreibwerkstätten, ob privat (so wie ich meine Lichterfelder Bleistiftspitzen) oder an Institutionen wie Volkshochschulen, schossen wie Pilze aus den Boden, und so mancher Schreiblehrer wurde zum Guru.

Okay, wir waren von der Schule her gewohnt, Aufsätze zu einem vorgegebenen Thema schreiben zu müssen, aber das Neue an diesen Workshops war, dass das Schreiben spielerisch war und das Thema meist von den Teilnehmern selbst gewählt wurde. Es kam auch dort auf Regeln an wie Einleitung, Hauptteil und Schluss, aber wir lernten, dass es beim Schluss nicht darum geht, das bereits Gesagte zusammenzufassen, sondern wir lernten, wie man gut endet (ebenso wenig, wie das Schreiben der ersten Sätze in der Schule beigebracht worden war, von anderen Aspekten des Schreibhandwerks ganz zu schweigen). Wir mussten auch unter Zeitdruck schreiben, aber es kam nicht darauf an, dass das Geschriebene lesbar war (Handschrift 5 drohte auf dem Zeugnis). Und da war kein Lehrer, der uns die Lust am Schreiben, die Spontaneität, durch das subjektive Bewerten des sprachlichen Ausdrucks und der Ausführung vergällte. Denn nicht der Dozent allein bewertete, sondern die Texte wurden in der Gruppe kritisch besprochen. Die Teilnehmer tauschten Erfahrungen und Erkenntnisse aus, und so entstand eine Gruppendynamik, die das Schreiben beflügelte. Und die Cluster-Methode half auch unerfahrenen Teilnehmern, Texte zu den vorgegebenen Themen zu verfassen. Ich hätte zum Beispiel sonst nie eine Geschichte über einen Leuchtturm schreiben können oder über eine Popcornverkäuferin. Ehrlich gesagt, wäre ich gar nicht auf die Idee gekommen, darüber etwas zu schreiben.

Über das Clustering


Rico erzählt, wie sie das Verfahren des Clusterings entdeckte:
Als ich 1973 in Stanford mit meiner Doktorarbeit [Metaphor and Knowing] begann, stieß ich zufällig auf einen Artikel* des Neurochirurgen Joseph E. Bogen, in dem dieser sich mit der Frage auseinandersetzt, welche Zusammenhänge zwischen den unterschiedlichen Funktionsweisen der beiden Gehirnhälften und der Kreativität bestehen. (…)
Das Buch The Hidden Order of Art des Psychiaters Anton Ehrenzweig, das ich zu jener Zeit las, enthält ein kompliziertes, an eine Straßenkarte erinnerndes Schaubild, mit dem Ehrenzweig verdeutlichen will, was bei einer schöpferischen Ideensuche in unserem Gehirn geschieht. Als ich darüber nachdachte, wie man einen solchen Suchprozess auf dem Papier darstellen könnte, und dabei verschiedene Möglichkeiten durchspielte, stieß ich auf das Verfahren, das ich Clustering genannt habe. Beim Betrachten von Ehrenzweigs Schema schrieb ich das erste Wort, das mir in den Sinn kam, in die Mitte eines leeren Blattes, zog einen Kreis darum und fügte, wie elektrisiert durch die Gedankenverbindungen, die sich in meinem Kopf um diesen Mittelpunkt herum sammelten und in alle Richtungen ausstrahlten, immer neue Einfälle, Assoziationen zu diesem einen Wort hinzu. (S. 8-9)

* Bogen, J. E., & Bogen, G. M. (1969): „The Other Side of the Brain III: The Corpus Callosum and Creativity“. In Bulletin of the Los Angeles Neurological Societies, 34, pp. 191–220.

Die beiden Gehirnhälften


Das Clustering beruht auf der Erkenntnis, dass die beiden Gehirnhälften die gleichen Informationen auf unterschiedliche Weise verarbeiten: Die linke Hälfte steuert das begriffliche Denken, die rechte das bildliche, wobei das begriffliche Denken an die Sprache gebunden ist und das rationale, logische Darstellen der Wirklichkeit, das Einteilen in Einzelheiten, die genau bezeichnet werden können, und die Fähigkeit, Gedanken auszudrücken bedeutet. Es behindert das schöpferische Denken, denn es kontrolliert, wertet, kritisiert und zensiert dessen Einfälle bis zur Schreibblockade. Das bildliche Denken hingegen aktiviert die Kreativität und führt zu selbständigem Denken und zum Ausbrechen aus gewohnten Mustern.

Schon Friedrich Schiller beschreibt in seinem Brief vom 1. 12. 1788 an Christian Gottfried Körner, der sich in seinem Brief vom 24. 11. 1788 über die „Furcht vor der Stümperei” und die mangelnde „Fruchtbarkeit“ seines Tuns beklagte und meinte, er „tauge vielleicht besser für Gegenstände, wobei Scharfsinn und ein gewisses Gefühl für Zweckmäßigkeit erfordert wird. (…) Kunstgefühl ist bei bei weitem noch nicht Kunsttalent, und schon mancher hat durch diese Verwechselung seine wahre Bestimmung verfehlt“, die Gefahr der Kreativitätsblockade und empfiehlt ihm die Methode des freien Einfalls:
Der Grund Deiner Klagen liegt, wie mir scheint, in dem Zwang, den Dein Verstand Deiner Imagination auflegte. Ich muß hier einen Gedanken hinwerfen und ihn durch ein Gleichniß versinnlichen. Es scheint nicht gut und dem Schöpfungswerke der Seele nachtheilig zu sein, wenn der Verstand die zuströmenden Ideen, gleichsam an den Thoren schon zu scharf mustert. Eine Idee kann, isoliert betrachtet, sehr unbeträchtlich und sehr abenteuerlich sein, aber vielleicht wird sie durch eine, die nach ihr kommt, wichtig; vielleicht kann sie in einer gewissen Verbindung mit anderen, die vielleicht ebenso abgeschmackt scheinen, ein sehr zweckmäßiges Glied abgeben: – alles dies kann der Verstand nicht beurtheilen, wenn er sie nicht so lange festhält, bis er sie in Verbindung mit diesen anderen angeschaut hat. Bei einem schöpferischen Kopfe hingegen, däucht mir, hat der Verstand seine Wache vor den Thoren zurückgezogen, die Ideen stürzen pêle-mêle [franz. = Buntes Durcheinander, Mischmasch] herein, und alsdann erst übersieht und mustert er den großen Haufen.
Beim begrifflichen Denken hat die Sprache die Aufgabe, zu benennen, sich wortwörtlich auszudrücken und Wörter zu Sätzen zu bilden, beim bildlichen Denken löst sie Assoziationen wie Erinnerungen und Sinneseindrücke aus und geht über die wortwörtliche Bedeutung hinaus. Ihr begriffliches Denken deutet beispielsweise das Wort Zeit lexikalisch und lässt Sie einen Gebrauchstext verfassen, Ihr bildliches Denken sieht den Ablauf der Zeit in Ihrem Leben, die Gefühle, die Sie damit verbinden, und lässt Sie einen literarischen Text über die Zeit schreiben.

Rico führt ein dazu ein eindrucksvolles Beispiel an:
Billy ging in die sechste Klasse. Seine Lehrerin wiederholte den Stoff der letzten Mathematikstunde und forderte ihn auf, das Unendliche zu definieren. Billy rutschte auf seinem Stuhl hin und her, rückte aber nicht mit der Sprache heraus.
Die Lehrerin wurde ungeduldig. „Also komm schon, Billy, was ist Unendlichkeit?” Er blickte zu Boden.
Verärgert wiederholte sie ihre Aufforderung, woraufhin er murmelte: „Die Unendlichkeit ist sowas wie ‘ne Schachtel Cream of Wheat [Markenname eines in den USA sehr beliebten Instant-Frühstückbreis für Kinder, jmw].”
„Red keinen Unsinn!” fuhr sie ihn an und rief Johnny auf, der darauf brannte, sein Wissen loszuwerden.
„Das Unendliche ist unermeßlich und grenzenlos in Raum, Zeit oder Menge”, erklärte er. Die Lehrerin war zufrieden. War es doch die einzig richtige Antwort, die sie sich vorstellen konnte.
Und genau das ist der Haken. Billy hatte mit einem komplexen Bild der rechten Gehirnhälfte geantwortet. (…) Als man ihm später etwas verständnisvoller zuhörte, konnte er sein Bild erläutern: „Auf einer Schachtel Cream of Wheat ist ein Mann drauf, der hat eine Schachtel Cream of Wheat in der Hand mit einem Mann drauf, der eine Schachtel Cream of Wheat in der Hand hat – und das geht immer und immer so weiter, auch wenn man es nicht mehr sieht. Ist das nicht Unendlichkeit?” (S. 64)
Beim Clustering werden beide Gehirnhälften aktiviert und verbunden. Das Bewusste und das Unbewusste verbinden sich.
In der Pubertät gewinnt die linke Gehirnhälfte, also das begriffliche Denken, die Oberhand. Die Schule fördert iese Entwicklung dadurch, dass sie dieses Denken belohnt, ja, es wird bereits im Vorschulalter gedrillt: Die Schüler sollen auf ein Leben vorbereitet werden, das ihnen ermöglicht, als nützliches Mitglied der Gesellschaft aktiv am Wirtschaftsleben teilzunehmen. – Der Jurist Gerhard Huhn wirft dem deutschen Bildungssystem in seiner Studie Kreativität und Schule sogar Verfassungswidrigkeit vor, weil es vor allem die Entwicklung der linken Hirnhälfte fördere und die der rechten Gehirnhälfte vernachlässige (SPIEGEL vom 13. 4. 1992). – Jugendliche, deren bildliches Denken weiter vorherrscht, werden oft als Träumer belächelt und ausgegrenzt. Auch deshalb hören so viele junge Menschen, die als Kinder begeistert Geschichten erfanden und das nicht nur, um ihre Ängste zu verarbeiten – wenn sich nachts Bäume in Monster verwandeln oder der schwarze Mann um die Ecke späht –, und sie aufschrieben, sobald sie Buchstaben malen konnten, auf zu schreiben. Manche Menschen haben allerdings Glück: Ihr Talent wird früh erkannt und gefördert, oder sie finden jemanden, der die Liebe zum Schreiben wieder weckt. Und manchmal ist das literarische Talent stärker als alle Hindernisse und setzt sich durch. Per Olov Enquist sagt dazu in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen:
Ich glaube, es gibt in allen Menschen einen oft unterschätzten Drang, Künstler zu sein. In einigen existiert er ganz stark und bricht sich seinen Weg, andere haben keine Möglichkeit, ihm nachzugehen.
– Doch wie viele Jahre verschwenden diese Menschen, bis sie aus der Außenseiterrolle ausbrechen und ihrer inneren Stimme folgen. –

Für Dorothea Brande sind die „beneidenswertesten Schriftsteller”
jene, die, häufig unbeabsichtigt und unbewußt, der Tatsache Rechnung tragen, daß ihr Wesen verschiedene Seiten hat, und die in ihrer Arbeit und in ihrem Leben mal der einen, mal der anderen Seite den Vorzug geben. (Zitiert nach Rico, S. 79)
Rico schreibt dazu:
Dorothea Brande wäre sicherlich erstaunt gewesen, wenn sie erfahren hätte, wie genau ihre 1934 postulierten metaphorischen „Ichs“ – der „Künstler“ und der „Kritiker“ – modernsten Erkenntnissen der Hirnforschung entsprechen.
Das Clustering liefert Ideen für alle Art von Texten – ob Geschäftsberichte, Werbung, Webtexte oder Romane –, es wird bei der Selbstanalyse, beim autografischen Schreiben und in der Poesietherapie angewandt, dem Schriftsteller bietet es aber die Chance, etwas für ihn Neues, Überraschendes, zu schreiben. Für mich war es das Tor zu vielen, vielen Gedichten und Geschichten.

Wie funktioniert das Clustering? 


Nach soviel Theorie endlich zur Praxis:  Schreiben Sie das Wort, um das es Ihnen geht (oder mehrere Wörter, zum Beispiel ein Sprichwort oder eine Gedichtzeile) – das Kernwort – in die Mitte eines Blatts Papier und kreisen Sie es ein. Der Kreis ist wichtig, denn er ist, wie Rico schreibt, anders „als die von Menschen geschaffenen Quadrat- und Rechteckformen, die uns von der Wiege bis zur Bahre ‚einschachteln’ (…), eine natürliche, fließende, organische Form“, die in den „Riten vieler Völker eine besondere Rolle spielt – ursprünglich als Kreis, den Zuhörer und Zuschauer um Geschichtenerzähler, Tänzer und Priester bildeten”. Er „ist auf einen Mittelpunkt bezogen, er konzentriert, bündelt” (S. 42). Im Gegensatz zum Mind-Map gibt es für das Clustering noch keine Software, Sie müssen das Cluster also ganz altmodisch auf einem Blatt Papier erstellen und nicht im Rechner. Aber ich glaube eh, dass man kreativer ist, wenn man die Wörter mit der Hand schreibt und Kreise darum malt.

Lassen Sie Ihre Gedanken um das Wort kreisen [sic!] und schreiben Sie dann weitere Wörter, die Ihnen dazu einfallen – Gefühle, Personen, Filmtitel was auch immer –, wiederum in Kreise und verbinden Sie alle Wörter mit Strichen. Fällt Ihnen etwas anderes ein, verbinden Sie das neue Wort mit dem Kernwort und notieren dazu Ihre Einfälle. Sie werden sehen, wie sich jede Menge Wörterketten bilden. Sie können auch ein Widerspruchscluster, zum Beispiel zu kalt/heiß, Frau/Mann oder alt/jung, bilden. Dazu schreiben Sie zwei Kernwörter auf die Seite und notieren zu jedem Ihre Assoziationen.

Es geht nicht darum, wahllos Wörter aufzuschreiben, sondern zu jeder Assoziation neue Assoziationen zu finden. Vergessen Sie alle Logik, lassen Sie Ihre Einfälle sprudeln. Vergessen Sie auch die Schere im Kopf, haben Sie Mut zu ungewöhnlichen Gedanken, denn alles ist erlaubt. Denken Sie nicht darüber nach, was Sie da so schreiben, und konzentrieren Sie sich nicht, damit nicht Ihr begriffliches Denken Oberhand gewinnt, was oft geschieht, wenn man zum ersten Mal clustert. Doch suchen Sie nicht verzweifelt nach Einfällen. Wenn der Kopf leer bleibt oder Sie Widerstand spüren, weil das begriffliche Denken zu stark wird, betrachten Sie das Cluster, vielleicht fällt Ihnen zu den anderen Wörtern etwas ein, oder spielen Sie ein bisschen, malen zum Beispiel die Kreise mit den wichtigen Wörtern aus, bis Sie die Blockade überwunden haben.

Nach spätestens fünf Minuten entsteht aus dem Chaos ein Muster und Sie beginnen zu schreiben. Achten Sie dabei nicht auf Satzbau oder Rechtschreibung, das hemmt nur den Schreibfluss. Feilen können Sie später. Meist wird Ihnen ein Text einfallen, der geschlossen, der rund [sic!] ist – der Anfang wiederholt sich im Ende. Sie müssen nicht jedes Wort berücksichtigen, sondern nur die Wörter, die wichtig sind, schließlich sieht niemand das ursprüngliche Cluster. Sie werden merken, wie die Wörter aus Ihnen fließen und wie dabei jedes Zeitgefühl verloren geht.

Für Rico ist das ein „gefrorener Moment” (S. 97). Für Alastair Reid ist das der Augenblick, da „tiefstes Erstaunen die Sinne durchzuckt, wie eine Flamme. (…) In diesem Moment des Innewerdens fängt das Wort Feuer, entzündet ein weiteres, und bald lodert beim Schreiben ein Steppenbrand über die Seiten” (zitiert nach Rico, S. 97). Auch Sie werden überrascht, manchmal sogar bestürzt sein über das, was aus Ihnen entsteht. Aber das ist natürlich, ja sogar erwünscht.

Die Methode ist auch nützlich beim Entwerfen von Figuren: Nehmen Sie den Namen der Figur, zu der Sie mehr wissen wollen, als Kernwort und sammeln Sie dazu die Assoziationen wie Stärken und Schwächen der Figur oder ihr Verhalten in bestimmten Situationen. Auch Einzelheiten der Handlung lassen sich auf diese Weise erforschen. Sie können mit dem Clustering auch Probleme lösen, die Sie hindern, an Ihrem Text weiterzuarbeiten: Fassen Sie sie in einem Wort oder in mehreren Wörtern zusammen und nehmen Sie diese als Ausgangspunkt. Wenn Sie immer noch nicht weiterkommen, wählen Sie einen anderen Begriff für Ihr Problem. Und nicht zuletzt hilft das Clustern bei Schreibblockaden (siehe http://juttas-schreibtipps.blogspot.de/2007/11/die-angst-vor-dem-weien-blatt-papier-iv.html) – Sie sehen, den Möglichkeiten sind keine Grenzen gesetzt. –

Auf eine Gefahr muss ich jedoch nachdrücklich hinweisen: Das Unterbewusstsein kann Erinnerungen und Gefühle sichtbar werden lassen, die besser verborgen geblieben wären. Gerade für Anfänger kann das gefährlich werden, obwohl er lernen muss, sich mit seinem Inneren auseinanderzusetzen. Hören Sie sofort auf zu clustern, wenn Sie die aufkommenden Gefühle zu überwältigen drohen.

Beispiel


Ich möchte Ihnen das Clustering am Beispiel Hexe zeigen. Sie sehen, wie weit die Assoziationen führen, ohne dass alle in dem Gedicht verwendet werden.


Ich bin die schreibende hexe
mit dem sanften lächeln auf den lippen
Ich bin im irgendwo zuhaus.
Ich habe 1000 x gelebt
1001 x gedacht
1002 x widersprochen
1003 männer haben mich begehrt
und hatten alle vor mir angst
Sie haben mich geteert
gefedert
verbrannt –
habt ihr mein triumphierendes lachen gehört?
Ich bin unbesiegbar
unzerstörbar
unbeirrbar
Ich bin jünger als der jüngste tag
und mein wissen ist älter als die zeit
Ich bin urmutter und urvater
erde und mond
allumfassend
alles verstehend
mit blutigen tränen
Ihr erkennt mich
an meinem sanften lächeln auf den lippen

Mittwoch, 16. Januar 2013

Schopenhauer über Lesen und Bücher

Es ist in der Litteratur nicht anders, als im Leben: wohin auch man sich wende, trifft man sogleich auf den inkorrigibeln Pöbel der Menschheit, welcher überall legionenweise vorhanden ist, Alles erfüllt und Alles beschmutzt, wie die Fliegen im Sommer. Daher die Unzahl schlechter Bücher, dieses wuchernde Unkraut der Litteratur, welches dem Waizen die Nahrung entzieht, und ihn erstickt. Sie reißen nämlich Zeit, Geld und Aufmerksamkeit des Publikums, welche von Rechtswegen den guten Büchern und ihren edelen Zwecken gehören, an sich, während sie bloß in der Absicht, Geld einzutragen, oder Aemter zu verschaffen, geschrieben sind. Sie sind also nicht bloß unnütz, sondern positiv schädlich. Neun Zehntel unserer ganzen jetzigen Litteratur hat keinen anderen Zweck, als dem Publiko einige Taler aus der Tasche zu spielen. Dazu haben sich Autor, Verleger und Rezensent fest verschworen.

Ein verschmitzter und schlimmer, aber erklecklicher Streich ist es, der den Litteraten, Brodschreibern und Vielschreibern gegen den guten Geschmack und die wahre Bildung des Zeitalters gelungen ist, daß sie es dahin gebracht haben, die gesammte elegante Welt am Leitseile zu führen, in der Art, daß diese abgerichtet worden, a tempo zu lesen, nämlich Alle stets das Selbe, nämlich das Neueste, um, in ihren Cirkeln einen Stoff zur Konversation daran zu haben. (…) Was aber kann elender seyn, als das Schicksal eines solchen belletristischen Publikums, welches sich verpflichtet hält, allezeit das neueste Geschreibe höchst gewöhnlicher Köpfe, die bloß des Geldes wegen schreiben, daher eben auch stets zahlreich vorhanden sind, zu lesen, und dafür die Werke der seltenen und überlegenen Geister aller Zeiten und Länder bloß dem Namen nach zu kennen! – Besonders ist die belletristische Tagespresse ein schlau ersonnenes Mittel, dem ästhetischen Publiko die Zeit, die es den ächten Produktionen der Art, zum Heil seiner Bildung, zuwenden sollte, zu rauben, damit sie den täglichen Stümpereien der Alltagsköpfe zufalle.

Daher ist, in Hinsicht auf unsere Lektüre, die Kunst, nicht zu lesen, höchst wichtig. Sie besteht darin, dass man Das, was zu jeder Zeit so eben das größere Publikum beschäftigt, nicht deshalb auch in die Hand nehme, wie etwa politische oder kirchliche Pamphlete, Romane, Poesien u. dgl. m., die gerade eben Lärm machen, wohl gar zu mehreren Auflagen in ihrem ersten und letzten Lebensjahre anfangen: vielmehr denke man alsdann, daß wer für Narren schreibt allezeit ein großes Publikum findet, und wende die stets knapp gemessene, dem Lesen bestimmte Zeit ausschließlich den Werken der großen, die übrige Menschheit überragenden Geister aller Zeiten und Völker zu, welche die Stimme des Ruhmes als solche bezeichnet. Nur diese bilden und belehren wirklich.

Vom Schlechten kann man nie zu wenig und das Gute nie zu oft lesen: schlechte Bücher sind intellektuelles Gift, sie verderben den Geist. – Weil die Leute, statt des Besten aller Zeiten, immer nur das Neueste lesen, bleiben die Schriftsteller im engen Kreise der cirkulirenden Ideen und das Zeitalter verschlammt immer tiefer in seinem eigenen Dreck.

Arthur Schopenhauer

(Über Lesen und Bücher. In Parerga und Paralipomena: kleine philosophische Schriften, § 303, 1862, S.  589)

Sonntag, 16. Dezember 2012

Vom Schreibhandwerk


Ich glaube, daß ich ein Arbeiter, ein Handwerker bin. Schreiben ist für mich nicht so sehr eine Sache der Stimmung. (Friedrich Dürrenmatt, Der Klassiker auf der Bühne, 1996, S. 126)

Die Kunst fängt an, wenn man mit dem Handwerk vertraut geworden ist. (Elizabeth George,
Wort für Wort oder Die Kunst, ein gutes Buch zu schreiben
, 2011; siehe auch
http://juttas-schreibtipps.blogspot.de/2012/11/elizabeth-george-uber-das.html)

Schriftsteller werden, Dichter werden! Lernen, lernen, lernen! Am Grossen, Schönen, Edlen
mich emporarbeiten aus der jetzigen tiefen Niedrigkeit! Die Welt als Bühne kennen lernen,
und die Menschheit, die sich auf ihr bewegt! (Karl May, Mein Leben und Streben, 2006, S. 65)

Wer da glaubt, in Deutschland allein bedürfe es weder des Lehrens noch Lernens, weil bei uns die Schriftsteller naturhaft in Feld und Wald und Wiese wüchsen, der sollte nicht klagen, daß unser Land mehr Feld-, Wald- und Wiesenschriftsteller hervorbringe als andere Völker – Völker, bei denen Schriftstellerei an Universitäten und anderen Anstalten mit größtem Ernst praktisch gelehrt und gelernt wird. (Otto Schumann, Das Manuskript: Handbuch für angehende Autoren, Lektoren und Pädagogen, 1977, S. 5)
Für Pierre-Auguste Renoir ist das Malen „nicht eine Angelegenheit von Träumerei oder Inspiration, sondern ein Handwerk, wozu es eines guten Handwerkers“ bedürfe (zitiert nach Patricia Highsmith: Suspense oder Wie man einen Thriller schreibt). Und Theodor W. Adorno beruft sich auf Paul Valéry, wenn er sagt, „man solle nicht gleich nach Ewigkeitswerten rufen, sondern die technisch-handwerklichen Dinge, die Werkstatt, würdigen, weil hier am unmittelbarsten die ethischen Werte erscheinen, in der Form selbst“. Auch die Dichter diskutierten in ihren Briefen mit Kollegen öfter technische Probleme des Schreibens als den Sinn ihrer Gedichte oder philosophische Themen. (Zitiert nach Norbert Mecklenburg: Literarische Wertung, 1977, S. 146)

Doch viele, ach viel zu viele deutsche Autoren meinen, ihr Handwerkszeug – sechsundzwanzig Buchstaben, Papier und ein Stift oder ein PC – befähige sie dazu, gute Texte zu schreiben. Und viele Menschen, die das Bedürfnis zu schreiben in sich spüren und etwas zu sagen wissen, wagen gar nicht erst, ihre Gedanken zu Papier zu bringen, oder sie schreiben und schreiben und verstehen nicht, dass sie niemand druckt, weil sie nicht wissen, dass man das Schreiben lernen kann. Die Schubladen quellen über von Manuskripten. Wie viele begabte Schriftsteller bleiben unentdeckt! Aber Verlage drucken nun mal nur Bücher, von denen sie meinen, dass sie sich verkaufen, schließlich sind sie keine Wohltätigkeitsvereine. Von den Unmengen an unverlangt eingesandten Manuskripten, die sie jedes Jahr erhalten, wird noch nicht einmal ein tausendstel Prozent gedruckt (siehe unter anderem http://www.hyperwriting.de/loader.php?pid=534). Um sozusagen der Leuchtturm darunter zu sein, muss man nicht nur eine tolle Romanidee haben und möglichst etwas Neues sagen, sondern auch sein Handwerk verstehen.

Nur weil man ein paar Tasten klimpern kann, spielt man nicht auf Anhieb die Mondscheinsonate, und wer einen Pinsel halten kann, ist nicht der wiedergeborene Leonardo (und wir sind keine Frisöre, nur weil wir eine Schere, oder Schuhmacher, weil wir eine Ahle halten können). Oder, wie der berühmte Dirigent Arturo Toscanini als Redner bei einer Jubiläumsveranstaltung so schön gesagt haben soll: „Jeder Esel kann den Takt schlagen, aber Musik machen – das ist schwierig.“

Nach allen Regeln der Kunst


Es ist merkwürdig, jeder Künstler lernt sein Handwerk, nur Autoren springen im Dreieck, wenn sie etwas von – pfui – Handwerk und – noch mehr pfui – Schreibregeln hören. Sie wollen nichts von irgendwelchen Regeln wissen (die im übrigen nicht etwa von Creative-Writing-Dozenten, bekannten Autoren oder Germanistikprofessoren aufgestellt wurden, sondern die Schriftsteller seit Aristoteles’ Zeiten, von den griechischen Tragödiendichtern über Shakespeare, Goethe und Schiller bis John Irving (dessen Roman Zirkuskind (A Son of the Circus) für mich das Beispiel für eine meisterhafte  Umsetzung des Handwerks ist) und Stephen King (auch Schreiber von Horrorromanen müssen ihr Handwerk beherrschen) und wie die Bestsellerautoren alle heißen, anwenden) und wundern sich  über den Erfolg vor allem US-amerikanischer Schriftsteller, für die es selbstverständlich, dass der Schriftsteller sein Handwerk studiert (siehe http://juttas-schreibtipps.blogspot.de/2012/11/elizabeth-george-uber-das.html). Man stelle sich vor, ein Komponist würde sagen, er orientiere sich nicht an den Regeln für Klang und Rhythmus, ein Maler nicht an denen für Farbenlehre und Perspektive, ein Schuhmacher nicht an den Regeln für Orthopädie. Nicht grundlos spricht man von „nach allen Regeln der Kunst“ = vorschriftsmäßig; wie es sich gehört; ganz richtig, auch wenn diese Redewendung aus dem Meistergesang des Mittelalters stammt.

Damals gab es ein Normenbuch, die Tabulatur (von lat. tabula = Tafel) (auch Schulregister), in der die Regeln der Gesangskunst festgehalten waren. Nur wer diese beherrschte, wurde in die Zunft der Meistersinger  aufgenommen. Wer mehr als die zulässigen sieben Fehler beging, hatte sich „versungen und vertan“ (mehr dazu siehe Richard Wagners Opern: Ein musikalischer Werkführer, 2012, S. 62f.).  Das Sünden- und Strafregister enthielt fünfundzwanzig Strafregeln und sieben Schärfstrafen, die die unter anderem falsche Silben und Wörter, Grammatik, Versbau und Vortragskunst bestraften (siehe http://www.litde.com/die-dichtung-der-ritterlichen-welt/der-meistersang.php; mehr dazu siehe auch Vom Minnesang zum Meistersang und Ludwig Uhland: Einrichtung und Satzungen der Singschulen. In Uhlands Schriften zur Geschichte der Dichtung und Sage, 1866, S. 306ff., http://gutenberg.spiegel.de/buch/5081/3).

Mit der Zeit wurden die Regeln jedoch immer enger ausgelegt, und die Tabulaturen verzeichneten eher die Fehler, die von den Merkern – so genannt, weil sie sich die Fehler in Dichtung und Gesang zu merken hatten – bestraft wurden. (Bei Richard Wagner ist das ein gewisser Sixtus Beckmesser – und nun wissen wir auch, woher der Ausdruck beckmesserisch für kleinlich, pedantisch, engherzig stammt.)

Der Meistersang war durch die Regeln schließlich so erstarrt, dass der berühmte Meistersinger Hans Sachs
mahnte:
Vernehmt mich recht! Wie Ihr doch thut!
Gesteht, ich kenn’ die Regeln gut;
und daß die Zunft die Regeln bewahr’,
bemüh’ ich mich selbst schon manches Jahr.
Doch einmal im Jahre fänd’ ich’s weise,
daß man die Regeln selbst probir’,
ob in der Gewohnheit trägem G’leise
ihr’ Kraft und Leben sich nicht verlier’:
     und ob ihr der Natur
     noch seid auf der rechten Spur,
         das sagt euch nur,
wer nichts weiß von der Tabulatur.

(In Richard Wagner: Die Meistersinger von Nürnberg, 1868, S. 28, http://www.rwagner.net/libretti/meisters/g-meisters-a1s3.html)
Hans Sachs war es dann auch, der die erstarrtem Formen mit neuem Leben füllte (siehe http://www.jita.com.cn/Seiten/Begriffe/Musikalische_Begriffe_1.htm).

Über Sporn und Zügel


Als erster erwähnte Pseudo-Longin das Handwerk in seiner an Posthumus Flavius Terentianus gerichteten Schrift Vom Erhabenen [= das, was den Hörer bewegt und erschüttert, die Seelengröße] (Peri hypsous; De sublimitate; On the Sublime [die Links führen jeweils zu den Originaltexten]; Over de verhevenheid). (Pseudo deshalb, weil es unklar ist, ob der Grieche Dionysius Cassius Longinus, der im dritten Jahrhundert lebte, wirklich der Verfasser ist.)

Viele glaubten, so schreibt er, dass alle, die Regeln anwenden, sich eher selbst betrügen, denn das Talent sei angeboren und lasse sich weder lehren noch lernen. Ja, sie behaupteten sogar, dass Regeln dieses Geschenk verdürben oder schwächten. Doch nur der Unterricht, so Longinus, könne dem Genie Schranken setzen und ihn vor allen Ausschweifungen und Verirrungen bewahren. Es sei sogar gefährlich, es ohne Regeln, „ohne Anker und Ruder“, sich selbst zu überlassen. Denn:
Oft genug braucht das Genie den Sporn der lebhaften Empfindungen: aber eben so muß es durch den Zügel der kältern Überlegung [Regeln, jmw] zurückgehalten werden.
(…)
Die Natur findet, die Kunst [lat. ars, jmw] räth; und, was noch mehr als alles von der Wichtigkeit der Regeln auch in den Werken des Geschmacks überführen muß, das selbst, ob’s die Natur ist, die das Genie begeistert, woher lernen wir das anders als aus den Beobachtungen der Kunst? Gewiß, wenn die, die den Schülern der Kunst ihre Regeln und Vorschriften so übel nehmen, dieses alles überlegen wollten, so würden sie unsere Theorien nicht für überflüßig und so unnütz halten, als sie thun.
(In Johann Georg Schlosser: Longin vom Erhabenen mit Anmerkungen und einem Anhang, 1781, S. 36f. Es lohnt sich, Longinus zu lesen, entweder in der Übersetzung von Karl Heinrich von Heinecken als Digitalisat (97 Seiten) oder der von Schlosser, der mit den „Plattheiten“ in der Übersetzung von Heinecken gar nicht zufrieden war (siehe S. XIf.), die durch die Anmerkungen 335 Seiten umfasst.

Longinus formuliert dann auch anhand vieler Beispiele antiker Autoren eine Menge Warnungen und Verbote für Dichter. Dazu gehören der sprachliche Schwulst – der übertriebene Pathos, die Hülsen –, denn man erreiche dadurch das Gegenteil dessen, was man beabsichtigt hat: „Nichts sey trunkener als ein Wassersüchtiger“. Wer so schreibt, sehe einem „Menschen ähnlich (…), welcher grosse Pausbacken machet, und doch nur in eine Kindertrompete stößt“. Solche Autoren bildeten sich ein, „daß sie von einer Begeisterung, oder von einem göttlichen Eifer getrieben werden, da sie doch nur tändeln und wie Kinder spielen“. Und doch sei das Schwülstige am schwersten zu vermeiden, denn alle, „die erhaben reden wollen, befürchten nichts so sehr, als daß man sie einer Schwachheit oder Mattigkeit beschulde“, und folgten dem Sprichwort „In grossen Dingen zu fehlen ist keine Schande“ (S. 6ff. der Übersetzung von Heinecken). Das echte Pathos werde nicht durch Schreien, sondern durch Schweigen ausgedrückt.

Als zweites nennt Longinus das Frostige, also den unangemessenem Pathos, das, „wobey es die Seele friert“ (Schlosser, S. 52)  So bemängelt er, dass Herodot die schönen makedonischen Weiber einen Augenschmerz  nennt. Das könne damit entschuldigt werden, dass die, die das sagen, Barbaren und dazu Betrunkene sind. Aber das reiche nicht, denn man müsse sich durch die Beschreibung solcher Leute keinen „ewigen Schandfleck anhängen“ (S. 11 der Übersetzung von Heinecken; dass ich hier aus beiden Übersetzungen zitiere, liegt daran, dass mir mal die eine, mal die andere Übersetzung besser gefällt). Dazu kommen zu kurze und zu lange Sätze, denn erstere verdunkelten den Verstand, letztere hätten weder Kraft noch Nachdruck; die schlechten Wörter, denn wenn man etwas Großes, etwas Schönes sagen will, darf man sich keinen Ausdruck erlauben, der nicht der Sache würdig sei, es sei denn, er sei unbedingt nötig (S. 89ff.).

All diese Fehler, durch die „die Schriften verunzieret werden“, kommen, so resümiert Longinus, durch die Begierde, immer etwas Neues, Unerhörtes sagen zu wollen, worin die „Raserey der heutigen Welt“ bestehe (S. 11).

Aber Longinus nennt auch fünf Quellen für den hohen Stil (und bringt dazu wiederum viele Beispiele), die sich aufteilen in natura und ars: Zur natura zählen die Fähigkeit, große, eindrucksvolle Gedanken hervorzubringen, und eine heftige, begeisterte Leidenschaft, die beide angeboren sind. Was aber gelehrt werden könne (die ars), sind die sorgfältige Ausführung in Hinsicht auf Gedanken und Ausdruck, die Sprache, also die Wahl der Wörter und Metaphern, sowie der poetische Ausdruck, also Wort- und Satzfügung (S. 14ff.; mehr zu dem Buch siehe Dietmar Till: Das doppelte Erhabene, 2006, S. 89ff., und Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste,  1792, S. 103ff).

Über göttliche Eingebungen


Regeln für einen guten Stil existieren seit den ersten Rhetorenschulen im fünften Jahrhundert vor Christus. Aristoteles Poetik, die Lehre von der Dichtkunst, gilt auch heute noch, auch wenn sie inzwischen modifiziert und erweitert wurde. Aber ebenso wenig wie beim Meistersang kann es Sinn des Schreibhandwerks sein, dass ein Buch nach allen Regeln der Kunst geschrieben wird, ihm aber die Seele fehlt. Umgekehrt bedeutet das jedoch nicht, dass sämtliche Regeln von vornherein abgelehnt werden, weil man von deutschen Schriftstellern „nur“ göttliche Eingebungen erwartet. Wer der Inspiration, dem Musenkuss, vertraut, wird lange warten müssen.

Niemand wird als begnadeter Schriftsteller geboren. Niemandem fließen die Wörter nur so aus der Feder, derweil der Normalsterbliche sich Wort für Wort mühsam abringen muss. Angeblich küsst die Muse den echten Schriftsteller, oder er galoppiert auf Pegasus ins Dichterschlaraffenland, wo klangvolle Wörter auf Bäumen wachsen und brillante Sätze vorbeifliegen und sich die Seiten von allein mit klugen Gedanken, außergewöhnlichen Figuren und einer mitreißenden Handlung füllen. Doch Musen küssen nun mal nicht auf Befehl.

Über Kunst


Der Begriff ars (von gr. téchne) bedeutet Kunst, Kunstfertigkeit, Kunstwerk, Handwerk, Geschicklichkeit, aber auch Kunstgriff (List, Betrug), Kunstwerk. In der Kunst ist also das Handwerk enthalten. Das von téchne abgeleitete Wort Technologia = Verarbeitungslehre wurde als ars (Pl. artes) ins Lateinische übernommen und steht für die Lehre der Kunst. Der davon abgeleitete Artifex war ein Künstler, Schöpfer, Handwerker, das Artificium ein Handwerk oder Kunstwerk. (Kunst kommt also nicht nur von Können – siehe http://juttas-zitateblog.blogspot.de/2011/06/uber-kunst-und-konnen-wollen-und-wulst.html).

Zu den sieben freien Künsten (septem artes liberales) gehörte im Mittelalter auch die Dichtkunst als erlernbares Handwerk. Johann Christoph Gottsched verwendete den Begriff jedoch auch später noch in seinem Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Nur heutzutage gilt im Gegensatz zum Komponieren, Malen, der Architektur, die gelehrt werden, für das Schreiben in Deutschland immer noch der Geniebegriff.

Aber was ist Schreiben denn anderes als Kunst? Der Komponist gebraucht Rhythmus und Klang für seine Musik, der Schriftsteller für die Musik seiner Sätze. Der Maler malt Bilder mit Farben, der Schriftsteller malt Bilder mit Worten, um ein Bild in seinem Leser entstehen zu lassen (siehe http://juttas-schreibtipps.blogspot.de/2008/08/ber-bewegung-wasserkessel-wut-und-das.html). Der Architekt entwirft Häuser, in denen Menschen zufrieden und selbst bestimmt leben können, der Schriftsteller konstruiert seinen Text wie ein Haus, mit einem Eingang, der zum Eintreten verlockt, mit Räumen, in denen das Leben tobt, und einem Ausgang, bei dem der Leser traurig ist, dass er das Haus verlassen muss.

Dass man in der Schule Aufsätze geschrieben hat, bedeutet nicht, dass man weiß, wie man ein gutes Buch schreibt. Niemand komponiert eine Oper, ohne Ahnung von Harmonie- oder Kompositionslehre zu haben.  Niemand ist Schuhmacher, nur weil er weiß, wie Schuhe aussehen, sich welche zurecht schustert, sie einer Schuhkette anpreist und erwartet, dass sie der Kassenschlager des Jahres werden. Der Einkäufer wird auf dem ersten Blick feststellen, dass die Schuhe handwerklich mies sind, weil sich die Sohlen beim ersten Regen lösen, die Farbe nach kurzer Zeit abblättert und sich der Käufer auf der Stelle Blasen laufen wird. (Ebenso stellt der Mensch, der die eingehenden Manuskripte beurteilt – oft sind es Praktikanten –, schon nach spätestens einer Seite fest, ob das Manuskript was taugt.)

Das Wie ist wichtiger als das Worüber


Auch wenn die Muse küsst – die richtige Ausführung muss der Schriftsteller selbst finden. Er kann lernen, welche Worte er wählen muss, um seine eigene Sprache zu finden, wie er Sätze bauen muss, um seinen Leser zu fesseln, wie er das ausdrückt, was er sagen will – wie er Bilder im Leser erzeugt. Er kann lernen, wie ein Thema ausgearbeitet wird, wie Erzählperspektive, literarische Orte und Erzählzeit eingesetzt werden, wie Charaktere geschaffen, Spannung erzeugt und Pointen gebaut werden. Und er kann lernen, sprachliche Bilder einzusetzen und Klischees und Kitsch sowie sprachliche Schlampereien von Phrasen bis zu missglückten Metaphern zu vermeiden.

Doch der Schriftsteller kann das Handwerk noch so gründlich studieren: Regeln machen aus einem schlechten Text keinen guten, wenn er sich nicht auszudrücken vermag. Das Talent für den sprachlichen Ausdruck hat ihm die Fee in die Wiege gelegt – das Talent wohl bemerkt: damit es zur Kunst wird, muss er üben, üben, üben. Er darf es aber auch nicht vergeuden: Er muss sich immer bemühen, das Beste zu geben, das, was ihm möglich ist.

Auf ein Wort zu Schreibregeln


Denken Sie beim Schreiben nicht unentwegt an die Regeln. Sie machen sich dann so viele Gedanken darüber, dass Sie keinen vernünftigen Text zu Papier bringen. Kein Stürmer holt sein Fußballlehrbuch aus der Tasche und schlägt nach, was er machen soll, wenn er frei vor dem Tor steht. Er schießt einfach. Werden Sie wieder zum Kind, das Geschichten erzählt und Spaß daran hat. Die Regeln helfen aber, wenn Sie beim Lesen Ihres Textes feststellen: Du liebe Güte, das stimmt vorn und hinten nicht, weil Sie halt doch zu sehr daneben geschossen haben; vor allem müssen Sie sie beim Überarbeiten beachten. Mit der Zeit werden Sie die Regeln jedoch ohnehin verinnerlicht haben, eben wie ein Fußballspieler ohne Nachzudenken aufs Tor zielt.

Longinus geht es darum, wie man erreicht, dass man die „Nachwelt mit dem ewigen Ruhm seines Namens“ erfüllt (S. 2). Fragen Sie sich also: Welchen Anspruch habe ich? Möchten Sie für Freunde und Verwandte schreiben oder wollen Sie mehr, wollen Sie an die Öffentlichkeit gehen mit Lesungen und Veröffentlichungen? Weil Sie meinen, dass Sie einen wirklich guten Text geschrieben haben, weil Sie etwas erschaffen haben, weil Sie geschwitzt und gebangt und gefeilt haben, weil Ihr Herzblut daran hängt, Ihr Wissen, all Ihre Gefühle und vor allem viel, viel Zeit. Weil Sie die Menschen zum Staunen bringen möchten. Beides ist legitim, doch für Tante Frieda und Onkel Franz müssen Sie keine Regelbücher durcharbeiten. Doch nichts ist frustrierender, als wenn die Zuhörer gähnen und sich auf alles andere konzentrieren (auf die neueste Benzinpreiserhöhung oder auf das Rendezvous mit Sebastian am nächsten Sonnabend zum Beispiel), als auf das, was Sie erst stolz vortragen, um dann verzweifelt nach dem nächsten Mauseloch zu suchen. Spätestens in dem Augenblick werden Sie sich wünschen, das Handwerk gelernt zu haben. Doch, etwas ist noch frustrierender: Wenn Sie nicht gedruckt werden. Wettern Sie nicht über die Verlage, die Ihre Manuskripte ständig zurückschicken. Überlegen Sie, woran das liegt.

Regel Nummer 1: Jede Regel kann gebrochen werden, wenn es begründet ist – etwa weil Sie Ihren Leser irritieren oder zum Hinsehen bringen wollen –, doch dazu müssen Sie die Regeln beherrschen, müssen Sie Ihre eigene künstlerische Identität gefunden haben. Regel Nummer 2: Sie müssen nicht jede Regel beherzigen und jeden Satz von Schreibratgebern buchstabengetreu befolgen; Sie müssen aber wissen, warum Sie das nicht tun.

Dienstag, 13. November 2012

Gertrude Stein über Substantive und „Rose ist eine Rose ist eine Rose ist eine Rose“ + Anmerkung


Poesie ist damit beschäftigt das Substantiv zu gebrauchen, zu mißbrauchen, zu verlieren, zu wollen, zu verleugnen, zu vermeiden, anzubeten, zu ersetzen. Sie tut das, tut das immer, tut das und tut nichts als das. Poesie tut nichts als Substantive gebrauchen, verlieren, zurückweisen und zufriedenstellen und betrügen und liebkosen. Das ist was Poesie tut, das ist was Poesie zu tun hat, einerlei weiche Art von Poesie es ist. Und es gibt sehr viele Arten von Poesie.

Als ich sagte.

Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose ist eine Rose.

Und als ich das dann später zu einem Ring gemacht hatte, machte ich Poesie, und was tat ich, ich liebkoste, liebkoste ganz und gar und wandte mich an ein Hauptwort.

Nun lassen Sie uns an Poesie denken, an irgendeine Poesie, alle Poesie, und lassen Sie uns sehen ob das nicht so ist. Natürlich ist es so, jeder kann das wissen.

Poetry is concerned with using with abusing, with losing with wanting, with denying with avoiding with adoring with replacing the noun. It is doing that always doing that, doing that and doing nothing but that. Poetry is doing nothing but using losing refusing and pleasing and betraying and caressing nouns. That is what poetry does, that is what poetry has to do no matter what kind of poetry it is. And there are a great many kinds of poetry.

When I said.

A rose is a rose is a rose is a rose.

And then later made that into a ring I made poetry and what did I do I caressed completely caressed and addressed a noun.

Now let us think of poetry any poetry all poetry and let us see if this is not so. Of course it is so anybody can know that.

Gertrude Stein

(In Poetik und Grammatik (Poetry and Grammar), http://lemonhound.com/2012/10/13/gertrude-stein-poetry-grammar/)


Eine Anmerkung zu Gertrude Steins Worten

Sie werden häufig zitiert, meist verwundert, manchmal abfällig, aber immer aus dem Zusammenhang gerissen, vermutlich, weil ihre Werke nicht gelesen werden. Ihr Einfluss auf die Literatur ist gegenwärtiger als ihr eigenes Werk (man denke nur an ihren Einfluss auf Ernst Jandls Gedichte wie ottos mops oder wien: heldenplatz und an Thomas Bernhards Satzspiralen). Wer weiß schon, dass sie ursprünglich aus dem Gedicht Sacred Emily (Heilige Emily) stammen, das sie 1913 geschrieben hatte:
Color mahogany.
Color mahogany center.
Rose is a rose is a rose is a rose.
Loveliness extreme.
Extra gaiters.
Loveliness extreme.
Sweetest ice-cream.
Page ages page ages page ages.
Wiped Wiped wire wire.
Sweeter than peaches and pears and cream.
Wiped wire wiped wire.
Extra extreme.

(In Geography and Plays. Boston 1922, S. 187; http://www.lettersofnote.com/p/sacred-emily-by-gertrude-stein.html)
Aber bekannt geworden sind die Worte vor allem durch ihr Kinderbuch Die Welt ist rund (The World is Round), das 1939 erschien. Einer der ersten US-amerikanischen Kinderbuchverlage, Young Scott Books, der ein Jahr zuvor gegründet wurde, hatte bekannte Schriftteller um eine Geschichte für Kinder gebeten. Ihr Zögling Ernest Hemingway winkte ab, aber Gertrude Stein sagte im Alter von 65 Jahren zu und schrieb die Geschichte eines kleinen weinerlichen Mädchen namens Rose (es geht hier also nicht um eine Blume), das oft singen muss, gern nachdenkt, suchen, finden und benennen möchte und ihren Lehrern nicht vertraut, die sagen, dass die Welt und die Sonne und der Mond und die Sterne rund sind, und alles „drehte sich immer rundherum immer rundherum“. Und als sie sich einmal beim Singen in einem Spiegel sah, stellte sie fest, dass auch beim Singen „ihr Mund rund (war) und drehte sich immer rundherum immer rundherum“. Und sie fragte sich, „war denn hierzulande alles nur rund drehte sich immer rundherum immer rundherum“? Aber den Bergen, die sich so hoch erheben, würde es sicher „gelingen, alles zum Stillstand zu bringen“. Also beschloss sie, mitsamt einem blauen Gartenstuhl auf die Spitze eines Berges zu klettern, um auf die Welt hinunterzusehen.

Unterwegs sah sie einen Baum, und sie dachte
ja er ist rund aber rundherum werde ich Rose ist eine Rose ist eine Rose ist eine Rose einschnitzen und dann ist’s einfach da und ich höre nirgends mehr irgendwas das mir in der Nacht Angst macht. (…) So nahm sie also ihr Taschenmesser, sie hatte weder einen Füller noch eine Feder von einem Huhn und sie hatte auch keine Tinte da konnte sie nichts tun, sie würde einfach auf ihrem Stuhl stehen und rundherum immer rundherum aber nicht krumm Rose ist eine Rose ist eine Rose ist eine Rose Rose ist eine Rose in die Rinde ritzen bis es ganz herum reichte. (…) Und Rose vergaß die Dämmerung vergaß die rosige Dämmerung und vergaß den Sonnenschein vergaß sie war da allein ganz allein und ritzte vorsichtig in die Ecken rein, die Ecken der Os und Rs und Ss und Es in Rose ist eine Rose ist eine Rose ist eine Rose.
(Die Welt ist rund. Ritter 2001, S. 70–72)
Gertrude Stein hat die Worte noch öfter gebraucht, und gern wurden sie von anderen variiert. So schreibt William S. Burroughs in From my Education: A Book of Dreams: „The word for word is word“ (Wort für Wort ist Wort) (zitiert nach Word Virus: The William S. Burroughs Reader. Grove 1998, S. 515) und in Naked Lunch (Nackter Rausch) „A rat is a rat is a rat is a rat“ (Eine Ratte eine Ratte ist eine Ratte ist eine Ratte) (S. 174) Wer mehr dazu wissen möchte, sehe auf http://en.wikipedia.org/wiki/Rose_is_a_rose_is_a_rose_is_a_rose nach.

– Für mich ist Die Welt ist rund jedenfalls eines der schönsten Kinderbücher überhaupt, was sicher auch an der Aufmachung und an den Zeichnungen von Franz Erhard Walther liegt. –

Montag, 12. November 2012

Konstantin Paustowski über das Schreiben

„Jeder Augenblick, jedes beiläufig hingeworfene Wort, jeder Blick, jeder tiefe oder nur als Scherz gemeinte Gedanke, jede unmerkliche Regung des menschlichen Herzens ebenso wie der fliegende Flaum der Pappeln oder das Blinken der Sterne in einer Pfütze bei Nacht – alles das sind kleine Körnchen Goldstaub.

Wir Schriftsteller gewinnen sie im Laufe von Jahrzehnten, diese Millionen kleiner Körnchen, wir sammeln sie, ohne es selbst zu merken, verwandeln sie in eine Legierung und schmieden dann aus diesen Legierung unsere ‚Goldene Rose’ – eine Erzählung, einen Roman oder eine Dichtung.“

Konstantin Paustowski

(In Die Goldene Rose. Gedanken über die Arbeit des Schriftstellers. Dietz o. J., S. 25)

Montag, 5. November 2012

Die Sprache wandelt sich


Wörter sind wie Lebewesen: Sie kennen Geburt und Tod, Jugend und Alter, Familie und Vorfahren.
(Duden-Newsletter; zitiert nach http://woerter.germanblogs.de/archive/2007/07/23/wie-kommt-ein-wort-in-den-duden.htm)

Jeden Tag erblicken neue Wörter (Neologismen, von gr. neos = neu, logos = Wort) das Licht der Welt. Doch nicht immer werden sie kampflos übernommen. Wörter wie belichten, Gepflogenheit, Jetztzeit, die heute selbstverständlich sind, waren im neunzehnten Jahrhundert heftig umstritten. Doch schließlich gewöhnte man sich an diese »anstößigen« Wörter – sie hörten auf, Neologismen zu sein.

Wandel der Bedeutung von Wörtern

Aber es ändert sich auch die Bedeutung von Wörtern. So schreibt Walter Porzig, dass sich
Aussprache, Wortschatz und Satzfügung bei den einzelnen Altersklassen einer Gemeinde und innerhalb derselben Familie bei Kindern und Erwachsenen verschiedener Altersstufen merkbar unterscheiden, ja, dass sie sich bei demselben Menschen im Laufe seines Lebens sehr allmählich aber dauernd ändern. Die Älteren unter uns können das an ihrer eigenen Sprache beobachten: ein Angeber war in meiner Jugend ein Denunziant, jetzt ist er ein Großtuer. Das heißt, daß die Bezeichnung Angeber für Denunziant außer Gebrauch gekommen ist und daß der Großtuer einen neuen Namen bekommen hat. Es handelt sich gar nicht um ein Wort, sondern um zwei Wörter Angeber, die nur zufällig gleich sind. Worauf es hier ankommt, ist, daß sich die Bezeichnung für die beiden Begriffe im Laufe eines Menschenalters völlig geändert hat. (Das Wunder der Sprache. Francke 1957, S. 301)
Brandschatzen bedeutet heute das Niederbrennen eines Anwesens, ursprünglich jedoch das Erpressen von Schutzgeld, damit es eben nicht niedergebrannt wird. Ein Geschäftsmann war zu Goethes Zeiten ein Staatsbeamter, Firma die Unterschrift eines Fürsten. Ekel stand für wählerisch und anspruchsvoll. Das Wort Dirne bezeichnete ein Mädchen und Weib eine Frau. Mit »Bin weder Fräulein, weder schön / Kann ungeleitet nach Hause gehn« aus Goethes Faust I begründet Gretchen, dass sie keine ledige Adlige sei, denn nur diese wurde damals als Fräulein bezeichnet.

Vogel hieß alles, was flog. In manchen Dialekten, vor allem in der Schweiz, werden Schmetterlinge heute noch Sommervögel genannt. Wilhelm Buschs »Jeder weiß, was so ein Mai- / Käfer für ein Vogel sei« in Max und Moritz ist also durchaus nicht komisch.

Veraltete Wörter (Archaismen; latinisiert vom altgriechischen archaios = alt, ehemalig)

»Jeder von uns«, so Hans Eggers,
könnte bemerken, daß seine eigene Sprache anders ist als die seiner Großeltern. Wir sagen er kommt, wo Großmutter vielleicht noch er kömmt sagt, und wenn wir heute wechselweise zu Haus und zu Hause sagen, bald eine neue, bald eine ältere Form verwendend, pflegt Großvater wohl noch regelmäßig das e des Dativs zu bewahren. Auffälliger noch als solche lautlichen Veränderungen sind die Wandlungen des Wort- und Ausdrucksschatzes. Manches Wort und manche Redewendung, die die Großeltern ständig im Munde führen, verstehen wir freilich, werden sie aber niemals selbst gebrauchen, und unser modisches genau für das schlichte ja, unser prima, unser mit achtzig Sachen und viele Ausdrücke unserer Tage werden sich die Alten unter uns nicht mehr angewöhnen. Und sprechen unsere Kinder und Enkel nicht wieder eine andere Sprache? Wir, die wir mitten im Leben stehen, werden uns nur schwer daran gewöhnen, die Sprößlinge als Teenager und Twens zu bezeichnen, und auch deren Ausdrücke für ein hübsches Mädchen, dufte Biene oder steiler Zahn, werden wir uns kaum noch zu eigen machen. (Deutsche Sprachgeschichte. Rowohlt 1986 , S. 10)
Wörter können aber auch wieder modern werden. Manche veraltete Wörter wie Hain, Fehde, Degen, Recke, Tafelrunde, hegen und küren wurden vor allem durch Schriftsteller neu belebt.

Alte und neue Wörter und die Weltliteratur

Viele heute alltägliche Wörter waren unseren Großeltern unbekannt (abgesehen von Schreibwerkstatt, Internet und Geldautomat), aber wussten Sie, dass es vor einhundertfünfzig Jahren noch nicht das Wort jubeln gab? Man jubilierte oder frohlockte. Hingegen sagen wir nicht mehr justament für ausgerechnet, zu diesem Behufe für zu diesem Zweck, Veloziped für Fahrrad, Comptoir für Büro, Droschke für Taxi, Elektrische für Straßenbahn oder Automobil, platterdings, Gendarm und Boudoir.

Dagegen wurden so aktuelle Wörter wie Nervosität, Unsicherheit, Gespaltenheit, schon vor zweihundert Jahren gebraucht, und Karl Kraus benutzte bereits das Wort ausgepowert: »Aber selbst wenn diese Journalistik nicht die Sprache ausgepowert hätte, gäbe es keinen Ausdruck, ihr moralisches Niveau zu bezeichnen.« (Fackel, H. 622, 1913, S. 201)

Johann Wolfgang von Goethe schrieb von der Anarchie, der Bundesregierung, vom ankiffen und von den Aktien. Berühmt ist er auch für die Prägung des Begriffs Weltliteratur. Erster Beleg ist der Tagebucheintrag vom 15.1. 1827: »An Schuchardt diktiert bezüglich auf französische und Welt-Literatur.« (Tagebücher. Cotta 1959, S. 368) Doch schon wenige Tage später, am 27. 1. 1827, schreibt er an Karl Streckfuss: »Ich bin überzeugt, daß eine Weltliteratur sich bilde«, und prophezeit: »Der Deutsche kann und soll hier am meisten wirken, er wird eine schöne Rolle bei diesem Zusammentreten zu spielen haben.« (Briefe, S. 215)

Der Begriff Weltliteratur wurde zwar erstmals von Christoph Martin Wieland um 1790 geprägt, doch dieser meinte damit die Literatur, die der homme du monde, der Weltmann, liest. Für Goethe hingegen ist Welt die Menschheit jenseits der nationalen Grenzen. Er versteht darunter die Literatur, die aus einem übernationalen Geist heraus geschaffen wurde, also die Kleinstaaterei auch in der Dichtung überwindet. (Und musste später erkennen, dass das auch ein Überschwemmtwerden mit trivialer fremdsprachiger Literatur bedeutet.) (Siehe dazu auch http://www.adglossar.de/Weltliteratur und Goethes Aufsatz über die Weltliteratur auf http://www.wissen-im-netz.info/literatur/goethe/aufsatz/07.htm)

Modewörter

Heute selten gebrauchte Wörter wandeln sich schnell zu Modewörtern, andererseits klingen Wörter, die früher als Modewörter bezeichnet wurden, heute wieder unverbraucht. Vor über hundert Jahren prangerte Gustav Wustmann in Allerhand Sprachdummheiten: Kleine deutsche Grammatik des Zweifelhaften, des Falschen und des Häßlichen. Ein Hilfsbuch für alle, die sich öffentlich der deutschen Sprache bedienen Modewörter an, die heute noch lebendig sind, wie belanglos, Darbietung, Ehrung, einwandfrei, erheblich, erhellen, großzügig, jugendlich, Prozent/Prozentsatz (für Teil), schreiten, selbstlos, unerheblich, unerfindlich, unentwegt. – Ob sie einen Text verschönern, steht auf einem anderen Blatt und ist auch ein anderes Thema. –

Nicht nur Modewörter können neu belebt werden. Viele große Wörter sind mürbe geworden, weil viel zu oft benutzt und ihrer ursprünglichen Aussage beraubt. Was bedeuten heute noch Wohltäter, Demut oder Pflicht? »Man muß manchmal einen Ausdruck aus der Sprache herausziehen, ihn zum Reinigen geben, – und kann ihn dann wieder in den Verkehr einführen«, sagt Ludwig Wittgenstein in Vermischte Bemerkungen, S. 504. Wenn die Worte rekonstruiert sind und wieder in den Umlauf gebracht werden, würde ihnen wieder zu trauen sein.

Die verlorenen Wörter

Christa Wolf mahnte bei ihrer Rede anlässlich der Verleihung des Nelly-Sachs-Preises 1999 eine Liste über verlorene Worte an:
Müßten wir nicht damit anfangen, eine Liste der verlorenen Wörter anzulegen, so wie die Naturforscher Listen der aussterbenden Arten angelegt haben, die täglich länger werden? Und ist es abwegig, zu vermuten, daß die sterbenden Wörter etwas mit den ausgestorbenen Tieren und Pflanzen zu tun haben? Weil wir geduldet haben, daß ein Wort wie »Ehrfurcht« uns fremd geworden ist, ausgesondert, überflüssig, peinlich, bleibt eine Gefühlsstelle in uns taub, wenn wir Mitlebendes ausmerzen.
Und sie fragte:
Was ist heute menschlich? Worauf beziehen wir heutzutage das Wort »human«? Für welche Inhalte ist es uns unverzichtbar geblieben oder geworden? (Der Worte Adernetz. Suhrkamp 2006 , S. 89)
Verlorene Wörter sind auch solche, die von Schriftstellern geprägt, von anderen Autoren jedoch nicht aufgenommen wurden, wie Absonderling (Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen); Betschwesterei (Georg Christoph Lichtenberg); entdonnern (Archim von Arnim); Halbgeschmack (Johann Wolfgang von Goethe); Icher (Friedrich Gottlieb Klopstock); Schicksalssohn (Johann Gottfried Herder); vergottscheden (A. G. Kästner); Warmländer (Jean Paul); zwiesprachig (Theodor Mommsen).

Und dann gibt es noch die Wörter, die heute vergessen sind wie Abnolken, Anquerdern, Anspinn, befetschen, Dolk, Empter, entnafzen, Gurbe, Gusel, hangdrüslicht, Hirsetute, Hupfelrei, ichtes (mit ichtesicht, ichteswann, ichtwan, ichtwas, ichtwasig, ichtwer, ichtwvo), Immi, Karschbein, Kannenwvroge, kille, Klipse, Kleuder, kommlich, Kone, Leibfall, Leuchse, Ludellerche, Mannsen, Melkter, Momber, Musterherr, Muttich, Pinge, Qualster, Quarre, Quappel, reuen, Ritscher, Sanduhrstein, Tschinke, Übersatz, Watschar, Wurstgraben, Zerte, Zeute, Zust.

So manches Wort werden wir bald vermissen, weil es heute schon selten erklingt, wie Anmut, Base, Belletage, betrübt, dämmern, Demut, entschwinden, entzückt, gefeit sein, Flegel, Gabelfrühstück, Göre, Herrenzimmer, Hochpaterre, Hupfdohle, intim werden, kredenzen, Lameng (aus der Lameng), Lichtspielhaus, lind, Mündel, Obacht, Ober (Ober, bringse noch’n Bier), Oheim, Philister, Plage, Plumpe, prellen, Racker, Ränke, reuen, rühmenswert, Rüstung, schwirren, schnauben, übertölpeln, Wählscheibe, Zecke, Zinne, Zuchthaus, Zugehfrau, Zwielicht, Zwist.

Dazu kommen noch die Wörter, über die wir froh sein werden, wenn sie verloren sind (diese Wörter notiere sich der Leser selbst).

Donnerstag, 16. August 2012

Novalis über das Schreiben und Komponieren

Man muß schriftstellen, wie Componiren.*

Novalis (eigentlich Georg Philipp Friedrich Freiherr von Hardenberg)

(Fragmente und Studien 1799/1780. In Novalis: Das philosophisch-theoretische Werk. Hanser, 2. Aufl. 2005, S. 759)

Die Version
Man muß schriftstellern, wie Componiren
ist leider falsch, auch wenn sie eingängiger ist.

Montag, 13. August 2012

Zitat des Tages: Kleist über seine schriftststellerische Bildung

Du weißt daß ich mich jetzt für das schriftstellerische Fach bilde. Ich selbst habe mir schon ein kleines Ideenmagazin angelegt, das ich Dir wohl einmal mitteilen und Deiner Beurteilung unterwerfen möchte.

Heinrich von Kleist an Wilhelmine von Zenge am 16. (und 18.) 11. (und Zusatz vom 30. 12.) 1800  http://www.kleist.org/briefe/028.htm

Samstag, 11. August 2012

Zitat des Tages: Dürrenmatt über das Schreiben

Schreiben besteht hauptsächlich darin, daß man über Stoffe nachdenkt, sie dann niederschreibt, an ihnen feilt und sie gestaltet. Und manchmal kommt es nicht dazu, manchmal bleibt man stecken, manchmal verbrennt man auch, was man man geschrieben hat*. Aber das Denken darüber, das hört nicht auf.

Friedrich Dürrenmatt

(In H. L. Arnold (Hrsg.): Friedrich Dürrenmatt: Dramaturgie des Denkens. Gespräche 1988 bis 1990. Diogenes 1996, S. 195)

*Nicht nur Dürrenmatt hat Manuskripte verbrannt, sonden auch Goethe. Er ärgerte sich sehr, dass Christian Fürchtegott Gellert, zu dessen Poetikvorlesungen auch das Schreiben von Gedichten gehörte, an seinen Arbeiten, die er voll Leidenschaft geschrieben hatte, kaum ein gutes Haar ließ und fast jede Zeile mit roter Tinte korrigierte und mit Randbemerkungen versah. Also warf er diese Arbeiten – die er für seine besten hielt – in den Herd (siehe http://juttas-schreibtipps.blogspot.de/2009/06/die-ungeliebte-arbeit-uberarbeiten-und_05.html). Zu Goethes Erfahrungen mit Schreibseminaren siehe auch http://juttas-schreibtipps.blogspot.de/2011/10/goethe-uber-seine-erfahrungen-bei.html)

Dienstag, 7. August 2012

Der größte Reichtum eines Schriftstellers: Der Wortschatz (oder auch Sprachschatz)


Wörter bilden die Perlenschnur, auf der wir unsere Erfahrungen aufreihen.
(Aldous Huxley, The Olive Tree, 1937, S. 84)
Das richtige Wort am richtigen Ort, das ist die wahre Definition von  Stil.
(Jonathan Swift, A Letter to a Young Clergyman, &c.)

»Wir packen einen viel kleineren Wortschatz als unsere Großeltern in viel dürftigere Sätze; unser Umgang mit Wörtern ist lax, geringschätzend oder lümmelhaft. Nur zwei Minderheiten wissen noch, was sie an der Sprache haben: die einflussarme Minorität der Liebhaber und die einflussreiche Minorität der Manipulierer.« (Wolf Schneider, Wörter machen Leute: Magie und Macht der Sprache, 1976, S. 314)

Der passive Wortschatz

Über die am häufigsten gebrauchten Wörter

Kennen Sie die am häufigsten gebrauchten Wörter? Laut dem Wortschatz Leipzig aus dem Jahr 2001 sind das vor allem außer dem Bindewort und natürlich (natürlich, weil es vor allem in Gedichten viel zu oft benutzt wird) die Artikel, die Pronomen und die Ableitungen von Hilfsverben wie sein und haben. Doch wussten Sie, dass sich bereits an 17. Stelle eine Verneinung findet: nicht (an 88. Stelle keine, das Wort ja erscheint dagegen erst an 240. Stelle), und dass das meist benutzte Substantiv das Wort Prozent ist (63), gefolgt von Jahr (82) und Uhr (89)? Merkwürdigerweise folgt das Wetter erst auf dem 2705. Platz, obwohl es mit das Wichtigste ist, was den Menschen interessiert. Als Zahlwörter finden wir auf Platz 83 zwei (die eins erst auf Platz 2045) und auf Platz 97 Millionen (zehn auf Platz 237 und hundert auf Platz 1244). Abgeschlagen erscheint an hundertster Stelle das erste Verb – sagte.

Tröstlich (nicht auf der Liste, aber zumindest als Trost auf Platz 6076) ist, dass sich unter den ersten hundert Wörtern kein Adjektiv findet (schön zum Beispiel erscheint erst auf Platz 1426), weniger tröstlich, dass sieben Prozent (von den ersten hundert) die Füllwörter auch, dann, immer, noch, nur und schon sind. Tröstlich ist auch, dass das Buch (543) und die Literatur (1446) häufiger gebraucht werden als der Bundeskanzler (1509), und dass lesen und Verlag gleich danach auf Platz 1512 beziehungsweise 1517 folgen (das Wort schreiben auf Platz 1569). Die Schriftsteller erscheinen dagegen erst auf Platz 1802, die Autoren auf Platz 1944 (zum Glück (1130) jedoch vor dem Fußball auf Platz 1949, dem Weltmeister und der WM auf Platz 2824 beziehungsweise 2866 und weit abgeschlagen Olympia auf Platz 5259).

Das erste etwas ungewöhnlichere Wort Motto steht auf Platz 1564. Auf Platz 1633 findet sich das Engagement, auf Platz 5075 die Sehnsucht, auf Platz 5519 der Rhythmus (der Klang wiederum erst auf Platz 7693), auf Platz 6627 daheim und auf Platz der Hauch 7666. Erstaunlicher Weise erscheint erst auf Platz 1661 das Wort Gott. Die Menschenrechte folgen noch viel später auf dem 3176., der Umweltschutz und ökologisch auf dem 3449. beziehungsweise 5568. Platz.

Schade (Platz 7555). Hoffentlich (8753) hat (2) sich (10) der (1) Gebrauch (3676) von (6) Wörtern (7872) – von Worten (1006) mag (822) ich (79) gar (255) nicht (17) erst (167) reden (1319) – sprechen wird (32) sogar (249) häufiger (2964) gebraucht (3584) als reden, es (23) erscheint (1045) nämlich (448) an 843. Stelle (692), das Wort dämlich wiederum (1127) steht (192) allerdings (713) nicht auf (12) der Liste (1032) – inzwischen (1711) geändert (1620) und (3) wir (77) finden (318) erfreulicher (8779) Weise (654) auch (22) ungewöhnlichere (4316) Wörter (7872) unter (76) den (5) ersten (131) zehntausend (8611 = Zehntausende). Nur (50) befürchte (2498) ich leider (1697) das (8) Gegenteil (1844).

Wörter wie dämmern, Geflecht, harsch, hegen, galant, grazil, prellen, Ränke, übertölpeln, ehren, Zwielicht und Joseph von Eichendorffs geliebtes Rauschen sind in der Liste nicht aufgeführt (siehe zu Rauschen Stil ist wie ein Fingerabdruck http://juttas-schreibtipps.blogspot.de/2009/04/stil-ist-wie-ein-fingerabdruck.html).

Haben Sie diese Wörter in letzter Zeit benutzt? Nein? Nun, das ist kein Wunder, wenn man bedenkt, dass der Gesamtwortbestand des Deutschen, wenn man den Fachwortschatz hinzurechnet, auf mehrere Millionen Wörter geschätzt wird, der Linguist Theodor Lewandowski spricht sogar von fünf bis zehn Millionen. Allerdings besteht allein die Sprache der Chemie aus rund zwanzig Millionen Fachbegriffen … Wahrigs Deutsches Wörterbuch umfasst an die 260.000 Stichworte. Dazu gehören die Wörter, mit denen man sich ausdrückt und denkt (aktiver Wortschatz), und die, mit denen man Äußerungen anderer versteht (passiver Wortschatz). Der passive Wortschatz umfasst sogar rund 500.000 Wörter, was aber nicht bedeutet, dass sie jeder kennt.

Der aktive Wortschatz


Ein schlauer Kopf hat ausgerechnet, dass der Durchschnittsdeutsche in seinem Leben an die 300 Millionen Wörter spricht. Er kennt rund 75.000 Wörter, mit denen er Äußerungen anderer versteht, benutzt aber meist nur bis zu 5.000 Wörter, bei Menschen, die mit Sprache umgehen, sind es weitaus mehr. Doch bereits mit den 2.000 häufigsten Wörtern wird man verstanden, wie Helmut Walther, Berater bei der Gesellschaft für deutsche Sprache, festgestellt hat. Um die BILD lesen zu können, reichen angeblich sogar nur achthundert Wörter. Der frühere Bundeskanzler Konrad Adenauer hat mit rund fünfhundert Wörtern so gesprochen, dass ihn jeder verstanden hat, denn: »Je einfacher denken, iss oft eine jute Jabe Jottes«, wie er bei einer Rede vor Industriellen gesagt haben soll. Sein Wortschatz soll nicht mehr als eintausend Wörter umfasst haben.

Je mehr Wörter einem Schriftsteller intuitiv einfallen, um so besser kann er sich ausdrücken. Es kommt nicht nur auf den Sachverstand in Bezug auf ein Thema an, sondern vor allem auf die Sprachkraft. Außerdem erspart er sich viel Zeit, weil er nicht dauernd ins Synonymwörterbuch gucken muss. Wobei es im Grunde keine Synonyme gibt, denn jedes Wort hat seine eigene Bedeutung. Er kann jedoch für das, was er sagen möchte, unter verschiedenen Begriffen wählen. Die Auswahl hängt vom Text ab, vom Zusammenhang, in dem das Wort steht, und von der Sprachschicht. Gesicht zum Beispiel sagt etwas anderes aus als Antlitz oder Visage. Sie bedeuten das gleiche, gehören jedoch anderen Sprachschichten an. In einem poetischen Text darf man Antlitz schreiben, aber nicht in einem Roman; und Visage als Schimpfwort höchstens in einem Dialog oder inneren Monolog. Auch Haupt gehört eher der Dichtersprache an.

Wenn ein Schriftsteller die Nuancen zwischen Wörtern nicht erkennt, also das einzige richtige Wort in einem bestimmten Zusammenhang, nutzt ihm jedoch der größte Sprachschatz nichts.

 

Über Bruch, Fenn, Lache, Marsch und Matsch


Viele Ausdrücke bezeichnen etwas, das, wie Aristoteles sagt, den Menschen von den Tieren und Göttern unterscheidet, das ihn verzaubert, das ihn einzigartig macht und soviel in seinem Gegenüber bewirkt: das Lachen. Warum wird in Romanen dauernd gegrinst? Warum wird nicht gelächelt, geschmunzelt, gekichert, gegackert, gefeixt, gegrient, gejuchzt, gegluckt, gewiehert, jubiliert, gejubelt, gejauchzt, frohlockt, umjubelt, bejubelt? Warum amüsiert sich so selten jemand, erheitert oder ergötzt sich, lacht sich schief oder kaputt? Wenn Sie solche Wörter wählen, werden ich Sie anlächeln oder anlachen, Ihnen zulächeln, ach was, ich werde Ihnen zujubeln. Ich werde mich nicht lustig machen über Sie, Sie auch nicht auf den Arm oder auf die Rolle nehmen, verulken, veräppeln, veralbern, verhohnepipeln, verhöhnen, foppen, vergackeiern, auslachen, verspotten, verarschen, verscheißern, hänseln. Ich werde nicht höhnen, frotzeln, blödeln, spotten, spötteln.

Wenn Sie mit Ihrem epochalen, brillanten Roman nicht vorankommen, keine zündende Idee, keinen mitreißenden Anfang und keinen herzbewegenden Schluss finden, verzweifelt nach dem einen treffenden Wort oder der kühnen Metapher suchen oder Ihre Lektorin Sie ärgert, werden Sie sich härmen oder kränken, gar leiden, trauern und schließlich verzagen, ja, verzweifeln. Sie werden besorgt, betrübt, kummervoll, sorgenvoll, niedergedrückt, niedergeschlagen, trübselig, ach, todunglücklich sein und Schmerz erdulden, erleiden.

Noch einige Beispiele gefällig?

Ihr Held wohnt in einer Kate, Villa, Doppelhaushälfte, in einem Reihenhaus, Palast, Bungalow, Plattenbau, Blockhaus, ausgebauten Dachgeschoss, Loft, Apartment, Schuhkarton, Wohnklo oder in einer Vier-Zimmer-Wohnung. Er wird nicht blass, als er die Bruchbude erblickt, die er gerade ersteigert hat, sondern aschfahl, bleich, kreideweiß, kalkweiß, totenblass, totenbleich, leichenblass, fahl, weiß wie ein Gespenst oder weiß wie eine Leiche. Überhaupt: Was bedeutet das nichtssagende groß bei der Beschreibung eines Hauses? Ist es breit, geräumig, hoch, lang gestreckt, mehrstöckig, verwinkelt, wuchtig?

Er redet, sagt, artikuliert, offenbart, behauptet, erwähnt, äußert, bekundet, versichert, berichtet, erzählt, informiert, plaudert, plaudert aus, deutet an, drückt aus, teilt mit, stellt dar, stellt fest, spricht, spricht aus, spricht sich aus, gibt bekannt, bringt vor. Er ergreift, erhebt das Wort, es entschlüpft ihm. – Auseinandergerissene Verben wie stellt dar sollten Sie jedoch vermeiden. – Wenn er denkt, denkt er dann wirklich nach, denkt er also etwas, was zuvor schon gedacht wurde, oder etwas bisher noch nicht Erwähntes? Denkt er oder sinnt er, grübelt er oder erwägt er etwas?

Das Kotelett wird geschlungen, hinabgewürgt, hineingestopft, gemampft, gefuttert, reingehauen, verzehrt, verspeist, genossen, der Bauch wird sich damit vollgeschlagen, oder es wird – gegessen.

Ist das, was Ihrer Heldin den Hut vom Kopf reißt, tatsächlich der Wind? Ist es nicht eher ein Lüftchen, Luftzug, Windhauch, Windstoß, eine Brise, Böe, ein Föhn, Passat, Schirokko, Fallwind, Sandsturm, Sturmwind, Sturm, Wirbelwind, eine Windhose, ein Orkan, Taifun, Tornado, Twister oder Hurrikan? (Geben Sie Hurrikans jedoch nur reale Namen wie Andrew, wenn Ihre Geschichte zu der Zeit und in der Gegend spielt, wo er wütete.)

Wer geboren worden ist, kann zur Welt gekommen sein oder das Licht der Welt erblickt haben. Er kann ein Leben fristen oder ein Dasein führen. Man kann anfangen oder beginnen, aufhören oder enden.

Über einen Weg wird gebummelt, gelatscht, gestakst, gestapft, gestampft, gestiefelt, getrottet, gewandert, gelaufen – oder einfach gegangen; das Rad rollt, rotiert, holpert, eiert, quietscht, rattert, rumpelt, gleitet.

Wussten Sie, dass Sie für zerkleinern unter über fünfzig verschiedenen Ausdrücken wählen können?
Auseinander rupfen, ausmahlen, brechen, durchbrechen, durchdrücken, durchschlagen, durchseihen, durch den Fleischwolf drehen, durchs Sieb treiben, hacken, klein machen, klein schlagen, klein schneiden, mahlen, passieren, pulverisieren, raffeln, raspeln, reiben, schaben, schaumig rühren, schnetzeln, schnitzeln, schroten, sieben, spalten, stampfen, stückeln, verquirlen, verreiben, verrühren, zerbröckeln, zerbröseln, zerdrücken, zerhacken, zerknicken, zerkrümeln, zerlegen, zermahlen, zermalmen, zerspalten, zersplittern, zerquetschen, zerrupfen, zerschlagen, zerschneiden, zerstampfen, zerstoßen, zerstückeln, zerzupfen.
Warum muss alles immer schwarz oder weiß sein? Warum nicht tiefschwarz, kohlenschwarz , kohlrabenschwarz, pechrabenschwarz, lackschwarz, pechschwarz, rabenschwarz, schwarz wie Ebenholz, schwarz wie die Nacht, schwärzlich, nachtfarben, rußfarben, kolkrabenschwarz, samtschwarz oder eher blauschwarz? Warum nicht blütenweiß, perlweiß, schneeweiß, reinweiß, weiß wie die Wand oder eher wollweiß? Und wie oft müssen wir Sumpf lesen statt Bruch, Fenn, Lache, Marsch, Matsch, Modder, Moor, Morast, Pfuhl, Ried, Schlamm, Schlick oder Watt. Wie einfallslos.

Eine Faustregel

Wörtern aus dem aktiven Sprachschatz haben den Vorteil, dass sie jeder kennt, und den Nachteil, dass sie oft abgedroschen sind. Laut einer Faustregel sollte ein Autor deshalb zwei Drittel allgemeinverständliche Wörter (aktiver Wortschatz) und ein Drittel eher ungewöhnliche (also solche aus dem passiven Wortschatz) schreiben, damit sein Text nicht zu langweilig wirkt. Allerdings sollten diese Wörter nicht zu sehr vom Durchschnittsdeutsch abweichen, damit der Leser nicht dauernd im Duden nachschlagen muss. Denn, wie sagt Julius Caesar so schön: »Meide jedes selten gehörte Wort wie ein Riff« (siehe http://juttas-schreibtipps.blogspot.de/2012/08/zitat-des-tages-caesar-uber-worter-die.html), und Stephen King schreibt in Das Leben und das Schreiben:
Eines der schlimmsten Dinge, die man der eigenen Sprache antun kann, ist, das Vokabular schön herauszuputzen und nach komplizierten Wörtern zu suchen, nur weil man sich ein bisschen für die vielen einfachen schämt. Das ist so, als würde man ein Schoßhündchen in eine Abendrobe stecken. Dem Schoßhündchen ist es peinlich, und dem Menschen, der diese vorsätzliche Verniedlichung begeht, sollte es noch viel peinlicher sein. (S. 127)

Doch wie erwirbt man einen großen Sprachschatz?

Es genügt nicht, den Wortschatz zu pflegen und die Grammatik zu beherrschen. Also: Entwickeln wir mit! Halten wir die Sprache lebendig! Treten wir ihrer Verarmung und Verschandelung entgegen, und hören wir auf, vor jedem modischen Unfug in die Knie zu gehen. (Wolf Schneider in der Zeit)
Der Schriftsteller webt kein Netz aus Wörtern, die aus Konsonanten und Vokalen bestehen, um den Leser zu angeln, wie manche glauben. Das wäre zu einfach, denn dann genügten wirklich zweitausend Wörter. Nein, er muss seine Sprachkompetenz immer wieder verbessern, denn selbst mit zehntausend Wörtern wird er seiner  Sprache nicht genug Farbe verleihen und so bildhaft schreiben, dass er Gefühle im Leser hervorruft.

Martin Luther bereicherte unsere Sprache mit zahllosen neuen Wörtern wie Herzeleid, Feuereifer, friedfertig, Herzenslust, Lästermaul, Machtwort, Morgenland, Sündenbock, und mit Redewendungen wie Auge um Auge, Zahn um Zahn, sein Leid in sich hineinfressen und Ehre wem Ehre gebührt, indem er für seine Bibelübersetzung »die Mutter im Hause, die Kinder auf der Gassen, den gemeinen Mann auf dem Markt drump« fragte und »denselbigen auf das Maul (sah), wie sie reden« (Sendbrief vom Dolmetschen, S. 110) Notieren Sie also auch beim Fernsehen, beim Lesen, beim Zuhören Wörter, die ungewohnt sind oder die Sie nicht kennen. Streichen Sie in Wörterbüchern Wörter an, die Sie seit Jahren nicht benutzt haben.

Und wieder mal der berühmte Rat: Lesen Lesen Lesen

Mark Twain sagt dazu: »Große Macht hat das richtige Wort. (…)  Immer, wenn wir auf eines dieser eindringlichen, treffenden Worte in einem Buch oder einer Zeitschrift stoßen, ist die Wirkung schlagartig physisch, geistig und elektrisierend: Es kribbelt überaus angenehm im Mund und schmeckt so herb und frisch und gut wie Herbst-Butter in einer Creme aus Sumach-Beeren.« (http://www.huffingtonpost.com/patricia-benesh/mark-twains-discourse-a-t_b_772701.html)

Seinen Wortschatz erwirbt man beim Lesen und Hören; wie sehr man ihn ausbaut, hängt davon ab, wie sehr man die Sprache und den sorgfältigen Sprachgebrauch liebt, ob man sich an treffenden, klangvollen, ungewöhnlichen Wörtern und gelungenen Formulierungen begeistert, aber auch von der Freude an Trends und Moden wie Jugendsprache und Kiezdeutsch, am Dialekt und Jargon sowie am Spiel mit der Sprache und am Sprachwitz.

Lesen Sie also alles, was Ihnen in die Finger fällt: Texte aus allen Epochen, auch antiken, romantische, moderne, Sach- und Fachbeiträge. Es wird empfohlen, William Shakespeare, Fjodor Dostojewski, Herman Melville, Ernest Hemingway, John Steinbeck oder Voltaire zu lesen, weil deren Werke Fundgruben für brillante Wörter seien. Allerdings setzt das Übersetzer voraus, die zumindest über einen ebenso großen Wortschatz verfügen wie diese Autoren. John Irvings Romane zum Beispiel wirken nur in der Übersetzung von Nikolas Stingl. James Joyce lernte wegen der schlechten Übersetzungen extra Norwegisch, um Henrik Ibsen im Original lesen zu können.

Schauen Sie also einfach mal bei Johann Wolfgang von Goethe rein, dessen aktiver Wortschatz circa 92.000 Wörter umfasst. Wenn Ihnen die Lektüre zu schwierig ist, dann lesen Sie zumindest seine Gedichte, die in ihrer Einfachheit so kunstvoll sind, oder schauen Sie ins Goethe-Wörterbuch. Studieren Sie das Grimm’sche Wörterbuch, das rund 350.000 Stichwörter umfasst, um vergessene und unbekannte Wörter in Ihr sprachliches Bewusstsein (zurück-)zurufen, oder stöbern Sie im Gutenbergprojekt, der Literaturdatenbank mit 1800 Romanen, Erzählungen, Novellen und 6300 Märchen, Fabeln und Sagen.

Saugen Sie jedes neue Wort auf wie ein Schwamm.

Mit der Zeit werden Sie auf solch einen gewaltigen Sprachfundus zurückgreifen können, dass Ihr Leser gebannt Ihren Worten lauscht. Aber benutzen Sie ungewöhnliche Worte auch hin und wieder im Alltag, damit Sie diese Wörter nicht wieder vergessen. (Falls Sie sich in meinen Blogbeiträgen über ungewöhnliche Ausdrücke gewundert haben, dann wissen Sie nun, weshalb.)

Aus Schriftstellers Schreibstübchen


Goethes Sprachschatz in seinem literarischen Werk umfasst, wie erwähnt, rund 92.000 wissenschaftlich beglaubigte Wörter, wobei er viele Einzelwörter kombiniert wie jünglingsfrisch und freudehell in Mahomets Gesang und in Briefen an Carl Friedrich Zelter Scheitholzflößanarchie und Weltgeschichtsinventarienstück. Im Faust schreibt er 2.200 einfache Wörter und etwa 1.200 Zusammensetzungen wie Fettbauch-Krummbein-Schelm (womit er die Pygmäen charakterisiert, auweia), Flügelflatterschlagen und Fratzengeisterspiel. Der Wortschatz in seinen Briefen, Tagebüchern und naturwissenschaftlichen Schriften usw. umfasst noch einmal 1,2 Millionen Wörter. Damit dürfte er den größten Wortschatz weltweit haben. Dabei  machen Einmalwörter fast die Hälfte, die Wörter, die er ein- bis dreimal gebraucht, rund Zweidrittel seines Wortschatzes aus (mehr dazu siehe Goethes Wortschatz und Semantik in nuce http://www1.uni-hamburg.de/goethe-woerterbuch/goethe_wortschatz.html)

Andererseits fehlen in dem Wortschatz eines so wortmächtigen Dichters Grundwörter wie flennen, fletschen, flicken, Flieder, Florett und Flunder.

Der wortmächtigste englische Dichter, William Shakespeare, benutzt dagegen nur 29.000 (nach anderer Quelle 34.000 Wörter. Henrik Ibsen verwendet 27.000, Alexander Puschkin 21.200, John Milton 12.500 und Miguel de Cervantes 12.400 Wörter. Selbst Martin Luther  verwendet nur 23.000 Wörter, das sind fast ebenso viele Wörter wie Theodor Storm (dessen Briefe warum auch immer nicht eingerechnet). Friedrich Schillers Wortschatz wird auf 30.000 Wörter geschätzt.

Und wie hoch ist Ihr Sprachschatz zur Zeit? Im Internet gibt es kostenlose Concordance-Programme zur Erstellung von Wortlisten wie http://kostenlose.rbytes.net/simple-concordance_download/, ich kann es aber nicht beurteilen, weil es das Programm nur für Windows gibt. Ich selbst benutze ein ururaltes, das längst vom Markt verschwunden ist.