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Dienstag, 19. Februar 2013

Schreibtechniken: Die Cluster-Methode


Wer schöpferisch arbeitet – vor allem, wenn er schreibt –, muß sich die speziellen Funktionen beider Gehirnhälften in geeigneter Weise nutzbar machen. (Gabriele L. Rico, Garantiert schreiben lernen, S. 66)
Im Leben der meisten Menschen hat sich Erkenntnis nur zufällig eingestellt. Wir warten auf sie, so wie der Mensch früher auf den Blitz wartete, um ein Feuer zu entfachen. Geistige Zusammenhänge herzustellen ist jedoch unser entschiedenstes Lernmittel, die Essenz der menschlichen Intelligenz: Verbindungen zu knüpfen; hinter das Gegebene zu schauen; Muster, Beziehungen und den Kontext zu begreifen. (Marilyn Ferguson, Die sanfte Verschwörung; zitiert nach Rico, S. 34)

But in most lives insight has been accidental. We wait for it as primitive man awaited lightning for a fire. But making mental connections is our most crucial learning tool, the essence of human intelligence: to forge links; to go beyond the given; to see patterns, relationships, context. (The Aquarian Conspiracy)
Sie haben Ihr Thema gefunden, haben eine umfassende Vita für jede einzelne Ihrer Figuren erstellt (vielleicht sogar nach meinen Anregungen auf http://juttas-schreibtipps.blogspot.de/2008/08/auch-ihre-figuren-haben-eine-biographie.html) und Pläne der Handlungsorte gemalt, haben monatelang recherchiert, das Gerüst steht, Sie wollen loslegen, sitzen vor dem leeren Blatt Papier und denken „Hilfe, was nun?“, weil Sie nicht wissen, wie Sie das alles sprachlich umsetzen sollen, wie Sie Texte schaffen, die über das Althergebrachte, Gewohnte hinausgehen sollen, sprich von einem großen Publikumsverlag auf Anhieb gedruckt werden. Nun, letzteres kann ich nicht versprechen, aber zumindest zum Hervorkitzeln Ihrer Kreativität gibt es verschiedene Methoden wie die Mind-Map, die der britische Mentaltrainer und Autor Tony Buzan Anfang der 1970er Jahre ausarbeitete.

Clustering versus Mind-Mapping

Nehmt einige Bogen Papier und schreibt drei Tage hintereinander ohne Falsch und Heuchelei alles nieder, was euch durch den Kopf geht. Schreibt, was ihr denkt von euch selbst, von euern Weibern, von dem Türkenkrieg, von Goethe, von Fonks Kriminalprozeß, vom Jüngsten Gerichte, von euern Vorgesetzten – und nach Verlauf der drei Tage werdet ihr vor Verwunderung, was ihr für neue, unerhörte Gedanken gehabt, ganz außer euch kommen. Das ist die Kunst, in drei Tagen ein Originalschriftsteller zu werden! (Ludwig Börne, Die Kunst, in drei Tagen ein Originalschriftsteller zu werden, 1823)
Auf die Mind-Map-Methode möchte ich hier nicht eingehen, denn ich schwöre auf eine ähnliche Methode zum Entdecken der eigenen Kreativität, die Gabriele L. Rico etwa um die gleiche Zeit in den USA entdeckte, eine Methode, die erstaunliche Einfälle und verblüffende Assoziationen auslöst und so den Einstieg in das Thema erleichtert und lebende Figuren schafft: das Clustering (von engl. Cluster = Gruppe, Haufen, Anhäufung; to cluster = anhäufen, zusammenballen, zu Büscheln anordnen). – Der Schreiblehrer Jürgen vom Scheidt empfiehlt, beide Methoden nacheinander zu benutzen, mehr dazu siehe hier. – Beide Methoden beruhen auf der von Sigmund Freud entwickelten Methode der freien Assoziation, was bedeutet, dass man ohne nachzudenken oder gar zu zensieren das schreiben soll, was einem gerade so einfällt, zu der er sich wahrscheinlich von Börne inspirieren ließ (siehe Klaus Thonack: Selbstdarstellung des Unbewussten: Freud als Autor, 1997, S. 110). Doch im Gegensatz zu Rico kommt sie bei Buzan erst an zweiter Stelle, vor allem aber beruht das Mind-Map auf strengen formalen Regeln wie die Dicke der Striche für die Verzweigungen, unterschiedlich große Buchstaben und unterschiedliche Farben. Bei Rico schreibt man das Wort, um das es geht, in die Mitte eines Blatts Papier, malt einen Kreis drumrum, assoziiert davon ausgehend weitere Wörter mit Kreisen darum und verbindet sie mit Strichen. Fertig. Nur leider hat sich Buzans Methode mittlerweile durchgesetzt, vielleicht aufgrund seines besseren Vermarktungskonzepts.

Rico schreibt dazu in ihrem Buch Garantiert schreiben lernen: Sprachliche Kreativität methodisch entwickeln – ein Intensivkurs:
1976, fünf Monate nach Abschluß meiner Dissertation, erfuhr ich gleichermaßen aufgeschreckt und ermutigt, daß der englische Pädagoge Tony Buzan ein Verfahren zur Förderung kreativer Fähigkeiten entwickelt hat, das dem Clustering ähnelte. Er hat seine „Mapping“ genannte Methode in einem Buch mit dem Titel Use Both Sides of the [Your] Brain vorgestellt. Obwohl Clustering und Mapping zu unterschiedlichen Übungen und Lernprozessen führen und auch äußerlich in vieler Hinsicht voneinander abweichen, schien es, als hätten Tony Buzan und ich unabhängig voneinander eine Entdeckung gemacht, für die die Zeit gekommen war. (S. 10)
Aufbauend auf dieses Buch, das sie 1983 unter Writing the natural way: Using right-brain techniques to release your expressive powers veröffentlicht hatte und das 1984 in Deutschland erschien (Tony Buzan veröffentlichte The Mind Map Book erst 1993, in Deutschland wurde es unter dem Titel Das kleine Mind-Map-Buch: Die beste Methode zur Steigerung ihres geistigen Potentials sogar erst 2002 herausgegeben), wurde auch in Deutschland das kreative Schreiben (Creative Writing) modern. Schreibwerkstätten, ob privat (so wie ich meine Lichterfelder Bleistiftspitzen) oder an Institutionen wie Volkshochschulen, schossen wie Pilze aus den Boden, und so mancher Schreiblehrer wurde zum Guru.

Okay, wir waren von der Schule her gewohnt, Aufsätze zu einem vorgegebenen Thema schreiben zu müssen, aber das Neue an diesen Workshops war, dass das Schreiben spielerisch war und das Thema meist von den Teilnehmern selbst gewählt wurde. Es kam auch dort auf Regeln an wie Einleitung, Hauptteil und Schluss, aber wir lernten, dass es beim Schluss nicht darum geht, das bereits Gesagte zusammenzufassen, sondern wir lernten, wie man gut endet (ebenso wenig, wie das Schreiben der ersten Sätze in der Schule beigebracht worden war, von anderen Aspekten des Schreibhandwerks ganz zu schweigen). Wir mussten auch unter Zeitdruck schreiben, aber es kam nicht darauf an, dass das Geschriebene lesbar war (Handschrift 5 drohte auf dem Zeugnis). Und da war kein Lehrer, der uns die Lust am Schreiben, die Spontaneität, durch das subjektive Bewerten des sprachlichen Ausdrucks und der Ausführung vergällte. Denn nicht der Dozent allein bewertete, sondern die Texte wurden in der Gruppe kritisch besprochen. Die Teilnehmer tauschten Erfahrungen und Erkenntnisse aus, und so entstand eine Gruppendynamik, die das Schreiben beflügelte. Und die Cluster-Methode half auch unerfahrenen Teilnehmern, Texte zu den vorgegebenen Themen zu verfassen. Ich hätte zum Beispiel sonst nie eine Geschichte über einen Leuchtturm schreiben können oder über eine Popcornverkäuferin. Ehrlich gesagt, wäre ich gar nicht auf die Idee gekommen, darüber etwas zu schreiben.

Über das Clustering


Rico erzählt, wie sie das Verfahren des Clusterings entdeckte:
Als ich 1973 in Stanford mit meiner Doktorarbeit [Metaphor and Knowing] begann, stieß ich zufällig auf einen Artikel* des Neurochirurgen Joseph E. Bogen, in dem dieser sich mit der Frage auseinandersetzt, welche Zusammenhänge zwischen den unterschiedlichen Funktionsweisen der beiden Gehirnhälften und der Kreativität bestehen. (…)
Das Buch The Hidden Order of Art des Psychiaters Anton Ehrenzweig, das ich zu jener Zeit las, enthält ein kompliziertes, an eine Straßenkarte erinnerndes Schaubild, mit dem Ehrenzweig verdeutlichen will, was bei einer schöpferischen Ideensuche in unserem Gehirn geschieht. Als ich darüber nachdachte, wie man einen solchen Suchprozess auf dem Papier darstellen könnte, und dabei verschiedene Möglichkeiten durchspielte, stieß ich auf das Verfahren, das ich Clustering genannt habe. Beim Betrachten von Ehrenzweigs Schema schrieb ich das erste Wort, das mir in den Sinn kam, in die Mitte eines leeren Blattes, zog einen Kreis darum und fügte, wie elektrisiert durch die Gedankenverbindungen, die sich in meinem Kopf um diesen Mittelpunkt herum sammelten und in alle Richtungen ausstrahlten, immer neue Einfälle, Assoziationen zu diesem einen Wort hinzu. (S. 8-9)

* Bogen, J. E., & Bogen, G. M. (1969): „The Other Side of the Brain III: The Corpus Callosum and Creativity“. In Bulletin of the Los Angeles Neurological Societies, 34, pp. 191–220.

Die beiden Gehirnhälften


Das Clustering beruht auf der Erkenntnis, dass die beiden Gehirnhälften die gleichen Informationen auf unterschiedliche Weise verarbeiten: Die linke Hälfte steuert das begriffliche Denken, die rechte das bildliche, wobei das begriffliche Denken an die Sprache gebunden ist und das rationale, logische Darstellen der Wirklichkeit, das Einteilen in Einzelheiten, die genau bezeichnet werden können, und die Fähigkeit, Gedanken auszudrücken bedeutet. Es behindert das schöpferische Denken, denn es kontrolliert, wertet, kritisiert und zensiert dessen Einfälle bis zur Schreibblockade. Das bildliche Denken hingegen aktiviert die Kreativität und führt zu selbständigem Denken und zum Ausbrechen aus gewohnten Mustern.

Schon Friedrich Schiller beschreibt in seinem Brief vom 1. 12. 1788 an Christian Gottfried Körner, der sich in seinem Brief vom 24. 11. 1788 über die „Furcht vor der Stümperei” und die mangelnde „Fruchtbarkeit“ seines Tuns beklagte und meinte, er „tauge vielleicht besser für Gegenstände, wobei Scharfsinn und ein gewisses Gefühl für Zweckmäßigkeit erfordert wird. (…) Kunstgefühl ist bei bei weitem noch nicht Kunsttalent, und schon mancher hat durch diese Verwechselung seine wahre Bestimmung verfehlt“, die Gefahr der Kreativitätsblockade und empfiehlt ihm die Methode des freien Einfalls:
Der Grund Deiner Klagen liegt, wie mir scheint, in dem Zwang, den Dein Verstand Deiner Imagination auflegte. Ich muß hier einen Gedanken hinwerfen und ihn durch ein Gleichniß versinnlichen. Es scheint nicht gut und dem Schöpfungswerke der Seele nachtheilig zu sein, wenn der Verstand die zuströmenden Ideen, gleichsam an den Thoren schon zu scharf mustert. Eine Idee kann, isoliert betrachtet, sehr unbeträchtlich und sehr abenteuerlich sein, aber vielleicht wird sie durch eine, die nach ihr kommt, wichtig; vielleicht kann sie in einer gewissen Verbindung mit anderen, die vielleicht ebenso abgeschmackt scheinen, ein sehr zweckmäßiges Glied abgeben: – alles dies kann der Verstand nicht beurtheilen, wenn er sie nicht so lange festhält, bis er sie in Verbindung mit diesen anderen angeschaut hat. Bei einem schöpferischen Kopfe hingegen, däucht mir, hat der Verstand seine Wache vor den Thoren zurückgezogen, die Ideen stürzen pêle-mêle [franz. = Buntes Durcheinander, Mischmasch] herein, und alsdann erst übersieht und mustert er den großen Haufen.
Beim begrifflichen Denken hat die Sprache die Aufgabe, zu benennen, sich wortwörtlich auszudrücken und Wörter zu Sätzen zu bilden, beim bildlichen Denken löst sie Assoziationen wie Erinnerungen und Sinneseindrücke aus und geht über die wortwörtliche Bedeutung hinaus. Ihr begriffliches Denken deutet beispielsweise das Wort Zeit lexikalisch und lässt Sie einen Gebrauchstext verfassen, Ihr bildliches Denken sieht den Ablauf der Zeit in Ihrem Leben, die Gefühle, die Sie damit verbinden, und lässt Sie einen literarischen Text über die Zeit schreiben.

Rico führt ein dazu ein eindrucksvolles Beispiel an:
Billy ging in die sechste Klasse. Seine Lehrerin wiederholte den Stoff der letzten Mathematikstunde und forderte ihn auf, das Unendliche zu definieren. Billy rutschte auf seinem Stuhl hin und her, rückte aber nicht mit der Sprache heraus.
Die Lehrerin wurde ungeduldig. „Also komm schon, Billy, was ist Unendlichkeit?” Er blickte zu Boden.
Verärgert wiederholte sie ihre Aufforderung, woraufhin er murmelte: „Die Unendlichkeit ist sowas wie ‘ne Schachtel Cream of Wheat [Markenname eines in den USA sehr beliebten Instant-Frühstückbreis für Kinder, jmw].”
„Red keinen Unsinn!” fuhr sie ihn an und rief Johnny auf, der darauf brannte, sein Wissen loszuwerden.
„Das Unendliche ist unermeßlich und grenzenlos in Raum, Zeit oder Menge”, erklärte er. Die Lehrerin war zufrieden. War es doch die einzig richtige Antwort, die sie sich vorstellen konnte.
Und genau das ist der Haken. Billy hatte mit einem komplexen Bild der rechten Gehirnhälfte geantwortet. (…) Als man ihm später etwas verständnisvoller zuhörte, konnte er sein Bild erläutern: „Auf einer Schachtel Cream of Wheat ist ein Mann drauf, der hat eine Schachtel Cream of Wheat in der Hand mit einem Mann drauf, der eine Schachtel Cream of Wheat in der Hand hat – und das geht immer und immer so weiter, auch wenn man es nicht mehr sieht. Ist das nicht Unendlichkeit?” (S. 64)
Beim Clustering werden beide Gehirnhälften aktiviert und verbunden. Das Bewusste und das Unbewusste verbinden sich.
In der Pubertät gewinnt die linke Gehirnhälfte, also das begriffliche Denken, die Oberhand. Die Schule fördert iese Entwicklung dadurch, dass sie dieses Denken belohnt, ja, es wird bereits im Vorschulalter gedrillt: Die Schüler sollen auf ein Leben vorbereitet werden, das ihnen ermöglicht, als nützliches Mitglied der Gesellschaft aktiv am Wirtschaftsleben teilzunehmen. – Der Jurist Gerhard Huhn wirft dem deutschen Bildungssystem in seiner Studie Kreativität und Schule sogar Verfassungswidrigkeit vor, weil es vor allem die Entwicklung der linken Hirnhälfte fördere und die der rechten Gehirnhälfte vernachlässige (SPIEGEL vom 13. 4. 1992). – Jugendliche, deren bildliches Denken weiter vorherrscht, werden oft als Träumer belächelt und ausgegrenzt. Auch deshalb hören so viele junge Menschen, die als Kinder begeistert Geschichten erfanden und das nicht nur, um ihre Ängste zu verarbeiten – wenn sich nachts Bäume in Monster verwandeln oder der schwarze Mann um die Ecke späht –, und sie aufschrieben, sobald sie Buchstaben malen konnten, auf zu schreiben. Manche Menschen haben allerdings Glück: Ihr Talent wird früh erkannt und gefördert, oder sie finden jemanden, der die Liebe zum Schreiben wieder weckt. Und manchmal ist das literarische Talent stärker als alle Hindernisse und setzt sich durch. Per Olov Enquist sagt dazu in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen:
Ich glaube, es gibt in allen Menschen einen oft unterschätzten Drang, Künstler zu sein. In einigen existiert er ganz stark und bricht sich seinen Weg, andere haben keine Möglichkeit, ihm nachzugehen.
– Doch wie viele Jahre verschwenden diese Menschen, bis sie aus der Außenseiterrolle ausbrechen und ihrer inneren Stimme folgen. –

Für Dorothea Brande sind die „beneidenswertesten Schriftsteller”
jene, die, häufig unbeabsichtigt und unbewußt, der Tatsache Rechnung tragen, daß ihr Wesen verschiedene Seiten hat, und die in ihrer Arbeit und in ihrem Leben mal der einen, mal der anderen Seite den Vorzug geben. (Zitiert nach Rico, S. 79)
Rico schreibt dazu:
Dorothea Brande wäre sicherlich erstaunt gewesen, wenn sie erfahren hätte, wie genau ihre 1934 postulierten metaphorischen „Ichs“ – der „Künstler“ und der „Kritiker“ – modernsten Erkenntnissen der Hirnforschung entsprechen.
Das Clustering liefert Ideen für alle Art von Texten – ob Geschäftsberichte, Werbung, Webtexte oder Romane –, es wird bei der Selbstanalyse, beim autografischen Schreiben und in der Poesietherapie angewandt, dem Schriftsteller bietet es aber die Chance, etwas für ihn Neues, Überraschendes, zu schreiben. Für mich war es das Tor zu vielen, vielen Gedichten und Geschichten.

Wie funktioniert das Clustering? 


Nach soviel Theorie endlich zur Praxis:  Schreiben Sie das Wort, um das es Ihnen geht (oder mehrere Wörter, zum Beispiel ein Sprichwort oder eine Gedichtzeile) – das Kernwort – in die Mitte eines Blatts Papier und kreisen Sie es ein. Der Kreis ist wichtig, denn er ist, wie Rico schreibt, anders „als die von Menschen geschaffenen Quadrat- und Rechteckformen, die uns von der Wiege bis zur Bahre ‚einschachteln’ (…), eine natürliche, fließende, organische Form“, die in den „Riten vieler Völker eine besondere Rolle spielt – ursprünglich als Kreis, den Zuhörer und Zuschauer um Geschichtenerzähler, Tänzer und Priester bildeten”. Er „ist auf einen Mittelpunkt bezogen, er konzentriert, bündelt” (S. 42). Im Gegensatz zum Mind-Map gibt es für das Clustering noch keine Software, Sie müssen das Cluster also ganz altmodisch auf einem Blatt Papier erstellen und nicht im Rechner. Aber ich glaube eh, dass man kreativer ist, wenn man die Wörter mit der Hand schreibt und Kreise darum malt.

Lassen Sie Ihre Gedanken um das Wort kreisen [sic!] und schreiben Sie dann weitere Wörter, die Ihnen dazu einfallen – Gefühle, Personen, Filmtitel was auch immer –, wiederum in Kreise und verbinden Sie alle Wörter mit Strichen. Fällt Ihnen etwas anderes ein, verbinden Sie das neue Wort mit dem Kernwort und notieren dazu Ihre Einfälle. Sie werden sehen, wie sich jede Menge Wörterketten bilden. Sie können auch ein Widerspruchscluster, zum Beispiel zu kalt/heiß, Frau/Mann oder alt/jung, bilden. Dazu schreiben Sie zwei Kernwörter auf die Seite und notieren zu jedem Ihre Assoziationen.

Es geht nicht darum, wahllos Wörter aufzuschreiben, sondern zu jeder Assoziation neue Assoziationen zu finden. Vergessen Sie alle Logik, lassen Sie Ihre Einfälle sprudeln. Vergessen Sie auch die Schere im Kopf, haben Sie Mut zu ungewöhnlichen Gedanken, denn alles ist erlaubt. Denken Sie nicht darüber nach, was Sie da so schreiben, und konzentrieren Sie sich nicht, damit nicht Ihr begriffliches Denken Oberhand gewinnt, was oft geschieht, wenn man zum ersten Mal clustert. Doch suchen Sie nicht verzweifelt nach Einfällen. Wenn der Kopf leer bleibt oder Sie Widerstand spüren, weil das begriffliche Denken zu stark wird, betrachten Sie das Cluster, vielleicht fällt Ihnen zu den anderen Wörtern etwas ein, oder spielen Sie ein bisschen, malen zum Beispiel die Kreise mit den wichtigen Wörtern aus, bis Sie die Blockade überwunden haben.

Nach spätestens fünf Minuten entsteht aus dem Chaos ein Muster und Sie beginnen zu schreiben. Achten Sie dabei nicht auf Satzbau oder Rechtschreibung, das hemmt nur den Schreibfluss. Feilen können Sie später. Meist wird Ihnen ein Text einfallen, der geschlossen, der rund [sic!] ist – der Anfang wiederholt sich im Ende. Sie müssen nicht jedes Wort berücksichtigen, sondern nur die Wörter, die wichtig sind, schließlich sieht niemand das ursprüngliche Cluster. Sie werden merken, wie die Wörter aus Ihnen fließen und wie dabei jedes Zeitgefühl verloren geht.

Für Rico ist das ein „gefrorener Moment” (S. 97). Für Alastair Reid ist das der Augenblick, da „tiefstes Erstaunen die Sinne durchzuckt, wie eine Flamme. (…) In diesem Moment des Innewerdens fängt das Wort Feuer, entzündet ein weiteres, und bald lodert beim Schreiben ein Steppenbrand über die Seiten” (zitiert nach Rico, S. 97). Auch Sie werden überrascht, manchmal sogar bestürzt sein über das, was aus Ihnen entsteht. Aber das ist natürlich, ja sogar erwünscht.

Die Methode ist auch nützlich beim Entwerfen von Figuren: Nehmen Sie den Namen der Figur, zu der Sie mehr wissen wollen, als Kernwort und sammeln Sie dazu die Assoziationen wie Stärken und Schwächen der Figur oder ihr Verhalten in bestimmten Situationen. Auch Einzelheiten der Handlung lassen sich auf diese Weise erforschen. Sie können mit dem Clustering auch Probleme lösen, die Sie hindern, an Ihrem Text weiterzuarbeiten: Fassen Sie sie in einem Wort oder in mehreren Wörtern zusammen und nehmen Sie diese als Ausgangspunkt. Wenn Sie immer noch nicht weiterkommen, wählen Sie einen anderen Begriff für Ihr Problem. Und nicht zuletzt hilft das Clustern bei Schreibblockaden (siehe http://juttas-schreibtipps.blogspot.de/2007/11/die-angst-vor-dem-weien-blatt-papier-iv.html) – Sie sehen, den Möglichkeiten sind keine Grenzen gesetzt. –

Auf eine Gefahr muss ich jedoch nachdrücklich hinweisen: Das Unterbewusstsein kann Erinnerungen und Gefühle sichtbar werden lassen, die besser verborgen geblieben wären. Gerade für Anfänger kann das gefährlich werden, obwohl er lernen muss, sich mit seinem Inneren auseinanderzusetzen. Hören Sie sofort auf zu clustern, wenn Sie die aufkommenden Gefühle zu überwältigen drohen.

Beispiel


Ich möchte Ihnen das Clustering am Beispiel Hexe zeigen. Sie sehen, wie weit die Assoziationen führen, ohne dass alle in dem Gedicht verwendet werden.


Ich bin die schreibende hexe
mit dem sanften lächeln auf den lippen
Ich bin im irgendwo zuhaus.
Ich habe 1000 x gelebt
1001 x gedacht
1002 x widersprochen
1003 männer haben mich begehrt
und hatten alle vor mir angst
Sie haben mich geteert
gefedert
verbrannt –
habt ihr mein triumphierendes lachen gehört?
Ich bin unbesiegbar
unzerstörbar
unbeirrbar
Ich bin jünger als der jüngste tag
und mein wissen ist älter als die zeit
Ich bin urmutter und urvater
erde und mond
allumfassend
alles verstehend
mit blutigen tränen
Ihr erkennt mich
an meinem sanften lächeln auf den lippen

Sonntag, 16. Dezember 2012

Vom Schreibhandwerk


Ich glaube, daß ich ein Arbeiter, ein Handwerker bin. Schreiben ist für mich nicht so sehr eine Sache der Stimmung. (Friedrich Dürrenmatt, Der Klassiker auf der Bühne, 1996, S. 126)

Die Kunst fängt an, wenn man mit dem Handwerk vertraut geworden ist. (Elizabeth George,
Wort für Wort oder Die Kunst, ein gutes Buch zu schreiben
, 2011; siehe auch
http://juttas-schreibtipps.blogspot.de/2012/11/elizabeth-george-uber-das.html)

Schriftsteller werden, Dichter werden! Lernen, lernen, lernen! Am Grossen, Schönen, Edlen
mich emporarbeiten aus der jetzigen tiefen Niedrigkeit! Die Welt als Bühne kennen lernen,
und die Menschheit, die sich auf ihr bewegt! (Karl May, Mein Leben und Streben, 2006, S. 65)

Wer da glaubt, in Deutschland allein bedürfe es weder des Lehrens noch Lernens, weil bei uns die Schriftsteller naturhaft in Feld und Wald und Wiese wüchsen, der sollte nicht klagen, daß unser Land mehr Feld-, Wald- und Wiesenschriftsteller hervorbringe als andere Völker – Völker, bei denen Schriftstellerei an Universitäten und anderen Anstalten mit größtem Ernst praktisch gelehrt und gelernt wird. (Otto Schumann, Das Manuskript: Handbuch für angehende Autoren, Lektoren und Pädagogen, 1977, S. 5)
Für Pierre-Auguste Renoir ist das Malen „nicht eine Angelegenheit von Träumerei oder Inspiration, sondern ein Handwerk, wozu es eines guten Handwerkers“ bedürfe (zitiert nach Patricia Highsmith: Suspense oder Wie man einen Thriller schreibt). Und Theodor W. Adorno beruft sich auf Paul Valéry, wenn er sagt, „man solle nicht gleich nach Ewigkeitswerten rufen, sondern die technisch-handwerklichen Dinge, die Werkstatt, würdigen, weil hier am unmittelbarsten die ethischen Werte erscheinen, in der Form selbst“. Auch die Dichter diskutierten in ihren Briefen mit Kollegen öfter technische Probleme des Schreibens als den Sinn ihrer Gedichte oder philosophische Themen. (Zitiert nach Norbert Mecklenburg: Literarische Wertung, 1977, S. 146)

Doch viele, ach viel zu viele deutsche Autoren meinen, ihr Handwerkszeug – sechsundzwanzig Buchstaben, Papier und ein Stift oder ein PC – befähige sie dazu, gute Texte zu schreiben. Und viele Menschen, die das Bedürfnis zu schreiben in sich spüren und etwas zu sagen wissen, wagen gar nicht erst, ihre Gedanken zu Papier zu bringen, oder sie schreiben und schreiben und verstehen nicht, dass sie niemand druckt, weil sie nicht wissen, dass man das Schreiben lernen kann. Die Schubladen quellen über von Manuskripten. Wie viele begabte Schriftsteller bleiben unentdeckt! Aber Verlage drucken nun mal nur Bücher, von denen sie meinen, dass sie sich verkaufen, schließlich sind sie keine Wohltätigkeitsvereine. Von den Unmengen an unverlangt eingesandten Manuskripten, die sie jedes Jahr erhalten, wird noch nicht einmal ein tausendstel Prozent gedruckt (siehe unter anderem http://www.hyperwriting.de/loader.php?pid=534). Um sozusagen der Leuchtturm darunter zu sein, muss man nicht nur eine tolle Romanidee haben und möglichst etwas Neues sagen, sondern auch sein Handwerk verstehen.

Nur weil man ein paar Tasten klimpern kann, spielt man nicht auf Anhieb die Mondscheinsonate, und wer einen Pinsel halten kann, ist nicht der wiedergeborene Leonardo (und wir sind keine Frisöre, nur weil wir eine Schere, oder Schuhmacher, weil wir eine Ahle halten können). Oder, wie der berühmte Dirigent Arturo Toscanini als Redner bei einer Jubiläumsveranstaltung so schön gesagt haben soll: „Jeder Esel kann den Takt schlagen, aber Musik machen – das ist schwierig.“

Nach allen Regeln der Kunst


Es ist merkwürdig, jeder Künstler lernt sein Handwerk, nur Autoren springen im Dreieck, wenn sie etwas von – pfui – Handwerk und – noch mehr pfui – Schreibregeln hören. Sie wollen nichts von irgendwelchen Regeln wissen (die im übrigen nicht etwa von Creative-Writing-Dozenten, bekannten Autoren oder Germanistikprofessoren aufgestellt wurden, sondern die Schriftsteller seit Aristoteles’ Zeiten, von den griechischen Tragödiendichtern über Shakespeare, Goethe und Schiller bis John Irving (dessen Roman Zirkuskind (A Son of the Circus) für mich das Beispiel für eine meisterhafte  Umsetzung des Handwerks ist) und Stephen King (auch Schreiber von Horrorromanen müssen ihr Handwerk beherrschen) und wie die Bestsellerautoren alle heißen, anwenden) und wundern sich  über den Erfolg vor allem US-amerikanischer Schriftsteller, für die es selbstverständlich, dass der Schriftsteller sein Handwerk studiert (siehe http://juttas-schreibtipps.blogspot.de/2012/11/elizabeth-george-uber-das.html). Man stelle sich vor, ein Komponist würde sagen, er orientiere sich nicht an den Regeln für Klang und Rhythmus, ein Maler nicht an denen für Farbenlehre und Perspektive, ein Schuhmacher nicht an den Regeln für Orthopädie. Nicht grundlos spricht man von „nach allen Regeln der Kunst“ = vorschriftsmäßig; wie es sich gehört; ganz richtig, auch wenn diese Redewendung aus dem Meistergesang des Mittelalters stammt.

Damals gab es ein Normenbuch, die Tabulatur (von lat. tabula = Tafel) (auch Schulregister), in der die Regeln der Gesangskunst festgehalten waren. Nur wer diese beherrschte, wurde in die Zunft der Meistersinger  aufgenommen. Wer mehr als die zulässigen sieben Fehler beging, hatte sich „versungen und vertan“ (mehr dazu siehe Richard Wagners Opern: Ein musikalischer Werkführer, 2012, S. 62f.).  Das Sünden- und Strafregister enthielt fünfundzwanzig Strafregeln und sieben Schärfstrafen, die die unter anderem falsche Silben und Wörter, Grammatik, Versbau und Vortragskunst bestraften (siehe http://www.litde.com/die-dichtung-der-ritterlichen-welt/der-meistersang.php; mehr dazu siehe auch Vom Minnesang zum Meistersang und Ludwig Uhland: Einrichtung und Satzungen der Singschulen. In Uhlands Schriften zur Geschichte der Dichtung und Sage, 1866, S. 306ff., http://gutenberg.spiegel.de/buch/5081/3).

Mit der Zeit wurden die Regeln jedoch immer enger ausgelegt, und die Tabulaturen verzeichneten eher die Fehler, die von den Merkern – so genannt, weil sie sich die Fehler in Dichtung und Gesang zu merken hatten – bestraft wurden. (Bei Richard Wagner ist das ein gewisser Sixtus Beckmesser – und nun wissen wir auch, woher der Ausdruck beckmesserisch für kleinlich, pedantisch, engherzig stammt.)

Der Meistersang war durch die Regeln schließlich so erstarrt, dass der berühmte Meistersinger Hans Sachs
mahnte:
Vernehmt mich recht! Wie Ihr doch thut!
Gesteht, ich kenn’ die Regeln gut;
und daß die Zunft die Regeln bewahr’,
bemüh’ ich mich selbst schon manches Jahr.
Doch einmal im Jahre fänd’ ich’s weise,
daß man die Regeln selbst probir’,
ob in der Gewohnheit trägem G’leise
ihr’ Kraft und Leben sich nicht verlier’:
     und ob ihr der Natur
     noch seid auf der rechten Spur,
         das sagt euch nur,
wer nichts weiß von der Tabulatur.

(In Richard Wagner: Die Meistersinger von Nürnberg, 1868, S. 28, http://www.rwagner.net/libretti/meisters/g-meisters-a1s3.html)
Hans Sachs war es dann auch, der die erstarrtem Formen mit neuem Leben füllte (siehe http://www.jita.com.cn/Seiten/Begriffe/Musikalische_Begriffe_1.htm).

Über Sporn und Zügel


Als erster erwähnte Pseudo-Longin das Handwerk in seiner an Posthumus Flavius Terentianus gerichteten Schrift Vom Erhabenen [= das, was den Hörer bewegt und erschüttert, die Seelengröße] (Peri hypsous; De sublimitate; On the Sublime [die Links führen jeweils zu den Originaltexten]; Over de verhevenheid). (Pseudo deshalb, weil es unklar ist, ob der Grieche Dionysius Cassius Longinus, der im dritten Jahrhundert lebte, wirklich der Verfasser ist.)

Viele glaubten, so schreibt er, dass alle, die Regeln anwenden, sich eher selbst betrügen, denn das Talent sei angeboren und lasse sich weder lehren noch lernen. Ja, sie behaupteten sogar, dass Regeln dieses Geschenk verdürben oder schwächten. Doch nur der Unterricht, so Longinus, könne dem Genie Schranken setzen und ihn vor allen Ausschweifungen und Verirrungen bewahren. Es sei sogar gefährlich, es ohne Regeln, „ohne Anker und Ruder“, sich selbst zu überlassen. Denn:
Oft genug braucht das Genie den Sporn der lebhaften Empfindungen: aber eben so muß es durch den Zügel der kältern Überlegung [Regeln, jmw] zurückgehalten werden.
(…)
Die Natur findet, die Kunst [lat. ars, jmw] räth; und, was noch mehr als alles von der Wichtigkeit der Regeln auch in den Werken des Geschmacks überführen muß, das selbst, ob’s die Natur ist, die das Genie begeistert, woher lernen wir das anders als aus den Beobachtungen der Kunst? Gewiß, wenn die, die den Schülern der Kunst ihre Regeln und Vorschriften so übel nehmen, dieses alles überlegen wollten, so würden sie unsere Theorien nicht für überflüßig und so unnütz halten, als sie thun.
(In Johann Georg Schlosser: Longin vom Erhabenen mit Anmerkungen und einem Anhang, 1781, S. 36f. Es lohnt sich, Longinus zu lesen, entweder in der Übersetzung von Karl Heinrich von Heinecken als Digitalisat (97 Seiten) oder der von Schlosser, der mit den „Plattheiten“ in der Übersetzung von Heinecken gar nicht zufrieden war (siehe S. XIf.), die durch die Anmerkungen 335 Seiten umfasst.

Longinus formuliert dann auch anhand vieler Beispiele antiker Autoren eine Menge Warnungen und Verbote für Dichter. Dazu gehören der sprachliche Schwulst – der übertriebene Pathos, die Hülsen –, denn man erreiche dadurch das Gegenteil dessen, was man beabsichtigt hat: „Nichts sey trunkener als ein Wassersüchtiger“. Wer so schreibt, sehe einem „Menschen ähnlich (…), welcher grosse Pausbacken machet, und doch nur in eine Kindertrompete stößt“. Solche Autoren bildeten sich ein, „daß sie von einer Begeisterung, oder von einem göttlichen Eifer getrieben werden, da sie doch nur tändeln und wie Kinder spielen“. Und doch sei das Schwülstige am schwersten zu vermeiden, denn alle, „die erhaben reden wollen, befürchten nichts so sehr, als daß man sie einer Schwachheit oder Mattigkeit beschulde“, und folgten dem Sprichwort „In grossen Dingen zu fehlen ist keine Schande“ (S. 6ff. der Übersetzung von Heinecken). Das echte Pathos werde nicht durch Schreien, sondern durch Schweigen ausgedrückt.

Als zweites nennt Longinus das Frostige, also den unangemessenem Pathos, das, „wobey es die Seele friert“ (Schlosser, S. 52)  So bemängelt er, dass Herodot die schönen makedonischen Weiber einen Augenschmerz  nennt. Das könne damit entschuldigt werden, dass die, die das sagen, Barbaren und dazu Betrunkene sind. Aber das reiche nicht, denn man müsse sich durch die Beschreibung solcher Leute keinen „ewigen Schandfleck anhängen“ (S. 11 der Übersetzung von Heinecken; dass ich hier aus beiden Übersetzungen zitiere, liegt daran, dass mir mal die eine, mal die andere Übersetzung besser gefällt). Dazu kommen zu kurze und zu lange Sätze, denn erstere verdunkelten den Verstand, letztere hätten weder Kraft noch Nachdruck; die schlechten Wörter, denn wenn man etwas Großes, etwas Schönes sagen will, darf man sich keinen Ausdruck erlauben, der nicht der Sache würdig sei, es sei denn, er sei unbedingt nötig (S. 89ff.).

All diese Fehler, durch die „die Schriften verunzieret werden“, kommen, so resümiert Longinus, durch die Begierde, immer etwas Neues, Unerhörtes sagen zu wollen, worin die „Raserey der heutigen Welt“ bestehe (S. 11).

Aber Longinus nennt auch fünf Quellen für den hohen Stil (und bringt dazu wiederum viele Beispiele), die sich aufteilen in natura und ars: Zur natura zählen die Fähigkeit, große, eindrucksvolle Gedanken hervorzubringen, und eine heftige, begeisterte Leidenschaft, die beide angeboren sind. Was aber gelehrt werden könne (die ars), sind die sorgfältige Ausführung in Hinsicht auf Gedanken und Ausdruck, die Sprache, also die Wahl der Wörter und Metaphern, sowie der poetische Ausdruck, also Wort- und Satzfügung (S. 14ff.; mehr zu dem Buch siehe Dietmar Till: Das doppelte Erhabene, 2006, S. 89ff., und Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste,  1792, S. 103ff).

Über göttliche Eingebungen


Regeln für einen guten Stil existieren seit den ersten Rhetorenschulen im fünften Jahrhundert vor Christus. Aristoteles Poetik, die Lehre von der Dichtkunst, gilt auch heute noch, auch wenn sie inzwischen modifiziert und erweitert wurde. Aber ebenso wenig wie beim Meistersang kann es Sinn des Schreibhandwerks sein, dass ein Buch nach allen Regeln der Kunst geschrieben wird, ihm aber die Seele fehlt. Umgekehrt bedeutet das jedoch nicht, dass sämtliche Regeln von vornherein abgelehnt werden, weil man von deutschen Schriftstellern „nur“ göttliche Eingebungen erwartet. Wer der Inspiration, dem Musenkuss, vertraut, wird lange warten müssen.

Niemand wird als begnadeter Schriftsteller geboren. Niemandem fließen die Wörter nur so aus der Feder, derweil der Normalsterbliche sich Wort für Wort mühsam abringen muss. Angeblich küsst die Muse den echten Schriftsteller, oder er galoppiert auf Pegasus ins Dichterschlaraffenland, wo klangvolle Wörter auf Bäumen wachsen und brillante Sätze vorbeifliegen und sich die Seiten von allein mit klugen Gedanken, außergewöhnlichen Figuren und einer mitreißenden Handlung füllen. Doch Musen küssen nun mal nicht auf Befehl.

Über Kunst


Der Begriff ars (von gr. téchne) bedeutet Kunst, Kunstfertigkeit, Kunstwerk, Handwerk, Geschicklichkeit, aber auch Kunstgriff (List, Betrug), Kunstwerk. In der Kunst ist also das Handwerk enthalten. Das von téchne abgeleitete Wort Technologia = Verarbeitungslehre wurde als ars (Pl. artes) ins Lateinische übernommen und steht für die Lehre der Kunst. Der davon abgeleitete Artifex war ein Künstler, Schöpfer, Handwerker, das Artificium ein Handwerk oder Kunstwerk. (Kunst kommt also nicht nur von Können – siehe http://juttas-zitateblog.blogspot.de/2011/06/uber-kunst-und-konnen-wollen-und-wulst.html).

Zu den sieben freien Künsten (septem artes liberales) gehörte im Mittelalter auch die Dichtkunst als erlernbares Handwerk. Johann Christoph Gottsched verwendete den Begriff jedoch auch später noch in seinem Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Nur heutzutage gilt im Gegensatz zum Komponieren, Malen, der Architektur, die gelehrt werden, für das Schreiben in Deutschland immer noch der Geniebegriff.

Aber was ist Schreiben denn anderes als Kunst? Der Komponist gebraucht Rhythmus und Klang für seine Musik, der Schriftsteller für die Musik seiner Sätze. Der Maler malt Bilder mit Farben, der Schriftsteller malt Bilder mit Worten, um ein Bild in seinem Leser entstehen zu lassen (siehe http://juttas-schreibtipps.blogspot.de/2008/08/ber-bewegung-wasserkessel-wut-und-das.html). Der Architekt entwirft Häuser, in denen Menschen zufrieden und selbst bestimmt leben können, der Schriftsteller konstruiert seinen Text wie ein Haus, mit einem Eingang, der zum Eintreten verlockt, mit Räumen, in denen das Leben tobt, und einem Ausgang, bei dem der Leser traurig ist, dass er das Haus verlassen muss.

Dass man in der Schule Aufsätze geschrieben hat, bedeutet nicht, dass man weiß, wie man ein gutes Buch schreibt. Niemand komponiert eine Oper, ohne Ahnung von Harmonie- oder Kompositionslehre zu haben.  Niemand ist Schuhmacher, nur weil er weiß, wie Schuhe aussehen, sich welche zurecht schustert, sie einer Schuhkette anpreist und erwartet, dass sie der Kassenschlager des Jahres werden. Der Einkäufer wird auf dem ersten Blick feststellen, dass die Schuhe handwerklich mies sind, weil sich die Sohlen beim ersten Regen lösen, die Farbe nach kurzer Zeit abblättert und sich der Käufer auf der Stelle Blasen laufen wird. (Ebenso stellt der Mensch, der die eingehenden Manuskripte beurteilt – oft sind es Praktikanten –, schon nach spätestens einer Seite fest, ob das Manuskript was taugt.)

Das Wie ist wichtiger als das Worüber


Auch wenn die Muse küsst – die richtige Ausführung muss der Schriftsteller selbst finden. Er kann lernen, welche Worte er wählen muss, um seine eigene Sprache zu finden, wie er Sätze bauen muss, um seinen Leser zu fesseln, wie er das ausdrückt, was er sagen will – wie er Bilder im Leser erzeugt. Er kann lernen, wie ein Thema ausgearbeitet wird, wie Erzählperspektive, literarische Orte und Erzählzeit eingesetzt werden, wie Charaktere geschaffen, Spannung erzeugt und Pointen gebaut werden. Und er kann lernen, sprachliche Bilder einzusetzen und Klischees und Kitsch sowie sprachliche Schlampereien von Phrasen bis zu missglückten Metaphern zu vermeiden.

Doch der Schriftsteller kann das Handwerk noch so gründlich studieren: Regeln machen aus einem schlechten Text keinen guten, wenn er sich nicht auszudrücken vermag. Das Talent für den sprachlichen Ausdruck hat ihm die Fee in die Wiege gelegt – das Talent wohl bemerkt: damit es zur Kunst wird, muss er üben, üben, üben. Er darf es aber auch nicht vergeuden: Er muss sich immer bemühen, das Beste zu geben, das, was ihm möglich ist.

Auf ein Wort zu Schreibregeln


Denken Sie beim Schreiben nicht unentwegt an die Regeln. Sie machen sich dann so viele Gedanken darüber, dass Sie keinen vernünftigen Text zu Papier bringen. Kein Stürmer holt sein Fußballlehrbuch aus der Tasche und schlägt nach, was er machen soll, wenn er frei vor dem Tor steht. Er schießt einfach. Werden Sie wieder zum Kind, das Geschichten erzählt und Spaß daran hat. Die Regeln helfen aber, wenn Sie beim Lesen Ihres Textes feststellen: Du liebe Güte, das stimmt vorn und hinten nicht, weil Sie halt doch zu sehr daneben geschossen haben; vor allem müssen Sie sie beim Überarbeiten beachten. Mit der Zeit werden Sie die Regeln jedoch ohnehin verinnerlicht haben, eben wie ein Fußballspieler ohne Nachzudenken aufs Tor zielt.

Longinus geht es darum, wie man erreicht, dass man die „Nachwelt mit dem ewigen Ruhm seines Namens“ erfüllt (S. 2). Fragen Sie sich also: Welchen Anspruch habe ich? Möchten Sie für Freunde und Verwandte schreiben oder wollen Sie mehr, wollen Sie an die Öffentlichkeit gehen mit Lesungen und Veröffentlichungen? Weil Sie meinen, dass Sie einen wirklich guten Text geschrieben haben, weil Sie etwas erschaffen haben, weil Sie geschwitzt und gebangt und gefeilt haben, weil Ihr Herzblut daran hängt, Ihr Wissen, all Ihre Gefühle und vor allem viel, viel Zeit. Weil Sie die Menschen zum Staunen bringen möchten. Beides ist legitim, doch für Tante Frieda und Onkel Franz müssen Sie keine Regelbücher durcharbeiten. Doch nichts ist frustrierender, als wenn die Zuhörer gähnen und sich auf alles andere konzentrieren (auf die neueste Benzinpreiserhöhung oder auf das Rendezvous mit Sebastian am nächsten Sonnabend zum Beispiel), als auf das, was Sie erst stolz vortragen, um dann verzweifelt nach dem nächsten Mauseloch zu suchen. Spätestens in dem Augenblick werden Sie sich wünschen, das Handwerk gelernt zu haben. Doch, etwas ist noch frustrierender: Wenn Sie nicht gedruckt werden. Wettern Sie nicht über die Verlage, die Ihre Manuskripte ständig zurückschicken. Überlegen Sie, woran das liegt.

Regel Nummer 1: Jede Regel kann gebrochen werden, wenn es begründet ist – etwa weil Sie Ihren Leser irritieren oder zum Hinsehen bringen wollen –, doch dazu müssen Sie die Regeln beherrschen, müssen Sie Ihre eigene künstlerische Identität gefunden haben. Regel Nummer 2: Sie müssen nicht jede Regel beherzigen und jeden Satz von Schreibratgebern buchstabengetreu befolgen; Sie müssen aber wissen, warum Sie das nicht tun.

Sonntag, 25. November 2012

Elizabeth George über das Schreibenlernen und das Schreibhandwerk

Ich finde es jedes Mal faszinierend und irritierend zugleich, jemandem zu begegnen, der der Ansicht ist, dass man Schreiben nicht lernen kann. Ehrlich gesagt, ich verstehe diese Auffassung nicht.

Ich glaube seit langem, dass der Schreibprozess aus zwei unterschiedlichen, aber gleich wichtigen Hälften besteht: Die eine hat etwas mit Kunst zu tun, die andere mit handwerklichem Können. Zweifellos kann man Kunst nicht lehren. Niemand kann einem anderen Menschen die Seele eines Künstlers verleihen, die Sensibilität eines Schriftstellers oder den leidenschaftlichen Drang, Worte zu Papier zu bringen, der die Gabe und der Fluch derjenigen ist, die Lyrik und Prosa verfassen, Doch es ist lächerlich und kurzsichtig zu glauben, dass man die Grundzüge der Erzählkunst nicht lehren kann.

Diese Annahme kommt der Überzeugung nahe, dass kein künstlerisches Medium gelehrt werden kann. Das hieße aber auch, dass kein künstlerischer Beruf über Werkzeuge und Techniken verfügt, die ein Anfänger lernt und dann verfeinert, bevor er den Sprung vom Handwerk in die Kunst wagt. Auf der anderen Seite würden diejenigen, die behaupten, dass Schreiben nicht erlernbar ist, vermutlich sofort einräumen, dass jemand die Grundlagen der Bildhauerkunst, der Öl- und Aquarellmalerei, der Komposition usw. sorgfältig studieren muss, bevor er sich als Meister auf einem dieser Gebiete bezeichnen kann. Dieselben Leute gehen wohl auch davon aus, dass alle, von Michelangelo bis zu Johann Sebastian Bach, ein wenig Unterricht in dem Bereich hatten, in dem sie sich auszeichneten.

Und das trifft, klipp und klar gesagt, auch für das Schreiben zu. Dennoch neigt man dazu, diese Logik über Bord zu werfen, wenn es um den Roman, das Gedicht oder die Kurzgeschichte geht. So habe ich auf den Reisen, die ich in den vergangenen fünfzehn Jahren um meiner Bücher willen unternommen habe, Länder kennen gelernt, wo die Menschen ernsthaft glauben, dass Schreiben ein geheimnisvoller Vorgang ist, den man entweder intuitiv erfasst oder gar nicht.

In den Vereinigten Staaten haben wir es besser. Es gehört seit langem zu unserer Tradition, dass Schriftsteller ihr handwerkliches Können an die Neulinge ihrer Zunft weitergeben. Aus diesem Grund bleiben der Roman, das Gedicht und die Kurzgeschichte wichtige Bestandteile unserer lebendigen literarischen Tradition Schreiben ist in Amerika keine aussterbende Kunstform, weil die meisten der hier veröffentlichten Schriftsteller klug genug sind zu begreifen, dass sie die Talente, die in ihre Fußstapfen treten, fördern müssen. Saul Bellow, Philip Roth, Toni Morrison. Maya Angelou, Joyce Carol Oates, John Irving, Wallace Stegner, Michael Dorris, Ron Carlson. Thomas Kenneally, Oakley Hall – sie alle waren auch einmal Lehrer oder sind es immer noch. Ihre Anwesenheit im Klassenzimmer entmystifiziert den Prozess des Schreibens. Sie vemitteln, was sie wissen, und tragen zur Stärkung und Verbesserung unseres Handwerks bei.

(…)

Natürlich wird niemand allein durch das Handwerk zu einem Shakespeare, William Faulkner oder einer Jane Austen. Aber es kann eine entscheidende Hilfe sein oder, bildlich gesprochen, die Erde, in die ein angehender Schriftsteller den Samen seiner Idee pflanzen kann, damit er wächst und zu einer Geschichte erblüht.

(…) [I]ch glaube, dass handwerkliches Können für die meisten Schriftsteller ausschlaggebend ist. Eine gründliche Kenntnis der Techniken und Werkzeuge unseres Gewerbes kann uns aus mancherlei Schwierigkeiten heraushelfen. Ohne diese Kenntnis sind wir auf Gedeih und Verderb einer Muse ausgeliefert, die sich genau in dem Augenblick launisch zeigen kann, wo wir auf ihre Beständigkeit angewiesen sind. Handwerkliches Können wird nicht jedes Problem lösen, dem ein Schriftsteller begegnet, wenn er ein Kunstwerk schafft. Aber es wird helfen, eine Reihe von Hürden zu überwinden. denen er ohne Schulung nur schwer gewachsen ist.

(…) Ich kann nur erzählen, was ich für richtig halte, was ich tue und was dabei herauskommt. Kurz und gut, ich kann nur mein Vorgehen beim Schreiben offen legen und dazu ermutigen, eine eigene Vorgehensweise zu entwickeln.

Doch damit wir uns nicht falsch erstehen: Das Entwickeln einer solchen Vorgehensweise bedeutet, das Handwerk zu erlernen, weil eben dieser Vorgang dem handwerklichen Können entspringt.

Was die Kunst des Schreibens betrifft, sie ist und bleibt ein Geheimnis. Sie verdankt sich einer momentanen Inspiration und dem erregenden Gefühl, sich von einer Idee mitreißen zu lassen.

Die Kunst fängt an, wenn man mit dem Handwerk vertraut geworden ist. (Hervorhebung jmw)

Elizabeth George

(Vorwort zu Wort für Wort oder Die Kunst, ein gutes Buch zu schreiben. Goldmann EBooks 2011)