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Sonntag, 25. November 2012

Elizabeth George über das Schreibenlernen und das Schreibhandwerk

Ich finde es jedes Mal faszinierend und irritierend zugleich, jemandem zu begegnen, der der Ansicht ist, dass man Schreiben nicht lernen kann. Ehrlich gesagt, ich verstehe diese Auffassung nicht.

Ich glaube seit langem, dass der Schreibprozess aus zwei unterschiedlichen, aber gleich wichtigen Hälften besteht: Die eine hat etwas mit Kunst zu tun, die andere mit handwerklichem Können. Zweifellos kann man Kunst nicht lehren. Niemand kann einem anderen Menschen die Seele eines Künstlers verleihen, die Sensibilität eines Schriftstellers oder den leidenschaftlichen Drang, Worte zu Papier zu bringen, der die Gabe und der Fluch derjenigen ist, die Lyrik und Prosa verfassen, Doch es ist lächerlich und kurzsichtig zu glauben, dass man die Grundzüge der Erzählkunst nicht lehren kann.

Diese Annahme kommt der Überzeugung nahe, dass kein künstlerisches Medium gelehrt werden kann. Das hieße aber auch, dass kein künstlerischer Beruf über Werkzeuge und Techniken verfügt, die ein Anfänger lernt und dann verfeinert, bevor er den Sprung vom Handwerk in die Kunst wagt. Auf der anderen Seite würden diejenigen, die behaupten, dass Schreiben nicht erlernbar ist, vermutlich sofort einräumen, dass jemand die Grundlagen der Bildhauerkunst, der Öl- und Aquarellmalerei, der Komposition usw. sorgfältig studieren muss, bevor er sich als Meister auf einem dieser Gebiete bezeichnen kann. Dieselben Leute gehen wohl auch davon aus, dass alle, von Michelangelo bis zu Johann Sebastian Bach, ein wenig Unterricht in dem Bereich hatten, in dem sie sich auszeichneten.

Und das trifft, klipp und klar gesagt, auch für das Schreiben zu. Dennoch neigt man dazu, diese Logik über Bord zu werfen, wenn es um den Roman, das Gedicht oder die Kurzgeschichte geht. So habe ich auf den Reisen, die ich in den vergangenen fünfzehn Jahren um meiner Bücher willen unternommen habe, Länder kennen gelernt, wo die Menschen ernsthaft glauben, dass Schreiben ein geheimnisvoller Vorgang ist, den man entweder intuitiv erfasst oder gar nicht.

In den Vereinigten Staaten haben wir es besser. Es gehört seit langem zu unserer Tradition, dass Schriftsteller ihr handwerkliches Können an die Neulinge ihrer Zunft weitergeben. Aus diesem Grund bleiben der Roman, das Gedicht und die Kurzgeschichte wichtige Bestandteile unserer lebendigen literarischen Tradition Schreiben ist in Amerika keine aussterbende Kunstform, weil die meisten der hier veröffentlichten Schriftsteller klug genug sind zu begreifen, dass sie die Talente, die in ihre Fußstapfen treten, fördern müssen. Saul Bellow, Philip Roth, Toni Morrison. Maya Angelou, Joyce Carol Oates, John Irving, Wallace Stegner, Michael Dorris, Ron Carlson. Thomas Kenneally, Oakley Hall – sie alle waren auch einmal Lehrer oder sind es immer noch. Ihre Anwesenheit im Klassenzimmer entmystifiziert den Prozess des Schreibens. Sie vemitteln, was sie wissen, und tragen zur Stärkung und Verbesserung unseres Handwerks bei.

(…)

Natürlich wird niemand allein durch das Handwerk zu einem Shakespeare, William Faulkner oder einer Jane Austen. Aber es kann eine entscheidende Hilfe sein oder, bildlich gesprochen, die Erde, in die ein angehender Schriftsteller den Samen seiner Idee pflanzen kann, damit er wächst und zu einer Geschichte erblüht.

(…) [I]ch glaube, dass handwerkliches Können für die meisten Schriftsteller ausschlaggebend ist. Eine gründliche Kenntnis der Techniken und Werkzeuge unseres Gewerbes kann uns aus mancherlei Schwierigkeiten heraushelfen. Ohne diese Kenntnis sind wir auf Gedeih und Verderb einer Muse ausgeliefert, die sich genau in dem Augenblick launisch zeigen kann, wo wir auf ihre Beständigkeit angewiesen sind. Handwerkliches Können wird nicht jedes Problem lösen, dem ein Schriftsteller begegnet, wenn er ein Kunstwerk schafft. Aber es wird helfen, eine Reihe von Hürden zu überwinden. denen er ohne Schulung nur schwer gewachsen ist.

(…) Ich kann nur erzählen, was ich für richtig halte, was ich tue und was dabei herauskommt. Kurz und gut, ich kann nur mein Vorgehen beim Schreiben offen legen und dazu ermutigen, eine eigene Vorgehensweise zu entwickeln.

Doch damit wir uns nicht falsch erstehen: Das Entwickeln einer solchen Vorgehensweise bedeutet, das Handwerk zu erlernen, weil eben dieser Vorgang dem handwerklichen Können entspringt.

Was die Kunst des Schreibens betrifft, sie ist und bleibt ein Geheimnis. Sie verdankt sich einer momentanen Inspiration und dem erregenden Gefühl, sich von einer Idee mitreißen zu lassen.

Die Kunst fängt an, wenn man mit dem Handwerk vertraut geworden ist. (Hervorhebung jmw)

Elizabeth George

(Vorwort zu Wort für Wort oder Die Kunst, ein gutes Buch zu schreiben. Goldmann EBooks 2011)

Samstag, 24. November 2012

Marie von Ebner-Eschenbach über Novellenstoffe (Schreibanlässe)

„Geben Sie mir einen guten Stoff zu einer Novelle“, sagte mein nun schon dahingeschiedener Freund.

„Bücken Sie sich und heben Sie ihn auf, er wächst überall aus dem Boden.“

Er lachte. „Und hat Erdgeruch. Ich danke.“

„So strecken Sie die Hand aus, wenn Sie sich nicht bücken wollen. Stoffe fliegen zu Hunderten in der Luft herum.“

„Danke abermals. Auch aus der Luft mag ich meinen Stoff nicht greifen. Erzählen Sie mir etwas von Menschen Erlebtes, die Ihnen Liebe, Freundschaft, oder mindestens ein lebhaftes Interesse einflößten. Dergleichen ist bei Ihnen immer vorrätig, Frau Beichtmutter.“

„Kann sein, kann gerade heute sein, weil ich Freundesbriefe geordnet, mein Tagebuch durchgeblättert, halbverwelkte Erinnerungen wiederaufgefrischt habe. Nur bedenken Sie: Ich bin alt, meine Freunde sind alt, mein Stoff wird auch nicht neu sein.“

„Gibt es einen neuen Stoff? Das bezweifeln Sie doch selbst. Ich habe wahrlich nicht die Anmaßung, etwas nie Dagewesenes bringen zu wollen. Wenn mir nur die Schilderung eines Erlebnisses gelingt, das sich gestern oder vor fünfzig Jahren begeben hat und in dem Menschen von heute sich mit ihren Gedanken und Empfindungen wiederfinden.“

„O wie schwer! – das Schwerste.“

„Kinderleicht oder – unmöglich. Ans Werk, denken Sie nach – erzählen Sie!“

(…)

„Sagen Sie mir, lieber Freund, lesen Sie nicht täglich eine Zeitung und nicht täglich eine Gerichtsverhandlung?“

„Nein, das tue ich gewiß nicht.“

„Ich tu’s, und was erlebe ich dabei? – fast jedesmal eine Novelle. Fast immer beginnt die Novelle da, wo die Gerichtsverhandlung aufhört. Ich begleite einen Freigesprochenen oder einen Verurteilten zurück nach seinem Wohnort oder auf dem Wege zum Antritt der Strafe. Ich habe die Verhandlung aufmerksam verfolgt und weiß oder – für mich ganz dasselbe – glaube zu wissen, was in der Hauptperson des manchmal widerwärtigen, manchmal ergreifenden und rührenden Schauspiels vorgeht. Aus diesem Wissen werden mir Novellenstoffe in Hülle und Fülle geboten. Am dankbarsten sind, die von mit Unrecht Freigesprochenen handeln und von Verurteilten, die nach Verbüßung ihrer Strafe überall als Auswürflinge betrachtet und ins moralische Elend zurückgestoßen werden. Was für Bilder gibt es da zu zeichnen und zu malen! Die Mannigfaltigkeit ist unerschöpflich.“

Marie von Ebner-Eschenbach, Novellenstoffe. Ein Gespräch http://www.literaturdownload.at/pdf/Ebner-Eschenbach_-_Novellenstoffe.pdf

Sonntag, 18. November 2012

Ablehnungsschreiben ist ein Ablehnungsschreiben ist ein Ablehnungsschreiben


Ach, wie unsereins die Briefe hasst, die mitsamt unseren kostbaren Manuskripten immer wieder in unserem Briefkasten eintrudeln. Ob sich Gertrude Stein ein klein wenig amüsiert hat, als sie dieses Ablehnungsschreiben für ihre 147-seitige Sammlung literarischer Porträts bekam? – Zumindest ist es kein standardisiertes Schreiben, in dem steht, dass das Manuskript leider derzeit nicht ins Verlagsprogramm passt blablala die Programmplanung für die kommenden zwei Jahre abgeschlossen ist blablabla wünschen Ihnen bei der Suche blablala nach einem geeigneten Verlag viel Erfolg blablala (und das möglichst noch ohne die korrekte Anrede, weil der Verlag sich noch nicht einmal die Mühe gemacht hat nachzuschauen, ob der arme Autor Männlein oder Weiblein ist, und obwohl man sich bei der Bewerbung brav an die Vorgaben des Verlages für das Einreichen von Manuskripten gehalten hat, also dreißig Seiten ausgedruckt, eine Bio-/Bibliographie, eine Inhaltsangabe, ein Exposé und ein freundliches Anschreiben verfasst hat). –

Image via twitpic

FROM ARTHUR C. FIFIELD, PUBLISHER,
13, CLIFFORD’S INN, LONDON, E.C.
TELEPHONE 14430 CENTRAL.

April 19 1912.

Dear Madam,

I am only one, only one, only one. Only one being, one at the same time. Not two, not three, only one. Only one life to live, only sixty minutes in one hour. Only one pair of eyes. Only one brain. Only one being. Being only one, having only one pair of eyes, having only one time, having only one life, I cannot read your M.S. three or four times. Not even one time. Only one look, only one look is enough. Hardly one copy would sell here. Hardly one. Hardly one.

Many thanks. I am returning the M.S. by registered post. Only one M.S. by one post.

Sincerely yours,

A. C. Fifield

Miss Gertrude Stein,
27 Rue de Fleurus,
Paris,
France

Liebe gnädige Frau,

ich bin nur einer, nur einer, nur einer. Nur ein Mensch, nur einer auf einmal. Nicht zwei, nicht drei, nur einer. Nur ein Leben zu leben, nur sechzig Minuten pro Stunde. Nur ein Paar Augen. Nur ein Hirn. Nur ein Mensch.  Und da ich nur einer bin, da ich nur ein Paar Augen habe, da ich nur eine Zeit habe, da ich nur ein Leben habe, kann ich Ihr Manuskript nicht drei- oder viermal lesen. Auch nicht einmal. Nur ein Blick, nur ein Blick genügt. Kaum ein Exemplar würde hier verkauft werden. Kaum eines. Kaum eines.

Vielen Dank. Ich sende das Manuskript per Einschreiben zurück. Nur ein Manuskript mit einer Post.

尊敬的女士,

我只有一个,只有一个,只有一个。仅有的一个人,此时此刻仅有的一个人。不是两个,不是三个,只有一个。生命只有一次,一小时只有 60分钟。只有一双眼睛。只有一个大脑。只有一个人。作为唯一的一个人,只有一双眼睛,只有一次,只有一个生命,您的手稿我不可能看三遍或四遍。甚至连一遍也看不过来。只一眼,只一眼就够了。这儿一本也卖不出去。一本也不会。一本也不会。

您诚挚的,

费菲尔德
(http://old.dongxi.net/content/bilingual/left/b13fP)

Samstag, 17. November 2012

Gertrude Stein über „is a...is a...is a...“

Woher Gertrude Steins legendärer Ausspruch „Rose ist eine Rose ist eine Rose ist eine Rose“ (Rose is a rose is a rose is a rose) stammt, wissen wir nun (siehe http://juttas-schreibtipps.blogspot.de/2012/11/gertrude-stein-uber-substantive-und.html). Aber wir wissen noch nicht, was sie damit meint.

Zum Glück fragte sie das ein Student nach ihrer Vorlesung von Poetik und Grammatik (Poetry and Grammar) an der Universität von Chicago im Jahr 1934. Ihre Antwort lautete:
Also  hören Sie! Verstehen Sie denn nicht, dass, als die Sprache neu war –  wie bei Chaucer und Homer –, der Dichter den Namen eines Dinges  gebrauchen konnte und das Ding dann wirklich da war? Er konnte sagen „O Mond“, „O Meer“, „O Liebe“, und Mond und Meer und Liebe waren wirklich da. Und verstehen Sie denn nicht, dass er, nachdem hunderte von Jahren vergangen und tausende von Gedichten geschrieben worden waren, sich auf eben jene Worte berufen und herausfinden konnte, dass sie nur abgenutzte literarische Worte waren? Das Erregende des reinen Seins war von  ihnen gewichen; es waren nur noch ziemlich abgegriffene literarische  Worte. Nun, der Dichter muss in der Erregung des reinen Seins  arbeiten; er muss der Sprache diese Intensität neu verleihen. Wir alle wissen, dass es schwer ist, im höheren Alter Gedichte zu schreiben; und wir wissen, dass man etwas Ungewöhnliches, etwas Unerwartetes in das Satzgefüge bringen muss, um dem Substantiv seine Vitalität zurückzugeben. Es genügt aber nicht bizarr zu sein; die Eigenart des Satzgefüges muss auch von der dichterischen Begabung kommen. Darum ist es doppelt schwer, im höheren Alter ein Dichter zu sein. Nun, Sie alle kennen hunderte von Gedichten über Rosen, und Sie wissen, dass die Rose nicht vorhanden ist. All jene Lieder, die Sopransängerinnen als Zugaben singen:  „Ich habe einen Garten, oh, was für einen Garten!“ Nun, ich möchte dieser Zeile nicht zuviel Bedeutung beimessen, weil sie nur eine Zeile in einem längeren Gedicht ist. Aber ich merke, dass Sie sie alle kennen; Sie sind belustigt, aber  Sie kennen sie. Also, hören  Sie! Ich bin kein Narr! Ich weiß, dass man im Alltag nicht herumgeht und sagt: „ist eine ... ist eine ... ist eine ...“. Ja, ich bin kein Narr; aber ich glaube, dass die Rose in dieser Zeile seit hundert Jahren zum ersten Mal in der englischen Poesie wieder rot ist."

Now listen. Can’t you see that when the language was new—as it was with Chaucer and Homer—the poet could use the name of a thing and the thing was really there. He could say ‘O moon,’ ‘O sea,’ ‘O love,’ and the moon and the sea and love were really there. And can’t you see that after hundreds of years had gone by and thousands of poems had been written, he could call on those words and find that they were just wornout literary words. The excitingness of pure being had withdrawn from them; they were just rather stale literary words. Now the poet has to work in the excitingness of pure being; he has to get back that intensity into the language. We all know that it’s hard to write poetry in a late age; and we know that you have to put some strangeness, as something unexpected, into the structure of the sentence in order to bring back vitality to the noun. Now it’s not enough to be bizarre; the strangeness in the sentence structure has to come from the poetic gift, too. That’s why it’s doubly hard to be a poet in a late age. Now you all have seen hundreds of poems about roses and you know in your bones that the rose is not there. All those songs that sopranos sing as encores about ‘I have a garden! oh, what a garden!’ Now I don’t want to put too much emphasis on that line, because it’s just one line in a longer poem. But I notice that you all know it; you make fun of it, but you know it. Now listen! I’m no fool. I know that in daily life we don’t go around saying ‘…is a…is a…is a…’. Yes, I’m no fool; but I think that in that line the rose is red for the first time in English poetry for a hundred years.  
(In What are masterpieces and Why are there so few of them (Was sind Meisterwerke) mit einer Einleitung von Thornton Wilder. Yale University Press 1947, S. V f.;  zitiert nach http://www.thealsopreview.com/messages/33/593.html?1265252025)


Dienstag, 13. November 2012

Gertrude Stein über Substantive und „Rose ist eine Rose ist eine Rose ist eine Rose“ + Anmerkung


Poesie ist damit beschäftigt das Substantiv zu gebrauchen, zu mißbrauchen, zu verlieren, zu wollen, zu verleugnen, zu vermeiden, anzubeten, zu ersetzen. Sie tut das, tut das immer, tut das und tut nichts als das. Poesie tut nichts als Substantive gebrauchen, verlieren, zurückweisen und zufriedenstellen und betrügen und liebkosen. Das ist was Poesie tut, das ist was Poesie zu tun hat, einerlei weiche Art von Poesie es ist. Und es gibt sehr viele Arten von Poesie.

Als ich sagte.

Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose ist eine Rose.

Und als ich das dann später zu einem Ring gemacht hatte, machte ich Poesie, und was tat ich, ich liebkoste, liebkoste ganz und gar und wandte mich an ein Hauptwort.

Nun lassen Sie uns an Poesie denken, an irgendeine Poesie, alle Poesie, und lassen Sie uns sehen ob das nicht so ist. Natürlich ist es so, jeder kann das wissen.

Poetry is concerned with using with abusing, with losing with wanting, with denying with avoiding with adoring with replacing the noun. It is doing that always doing that, doing that and doing nothing but that. Poetry is doing nothing but using losing refusing and pleasing and betraying and caressing nouns. That is what poetry does, that is what poetry has to do no matter what kind of poetry it is. And there are a great many kinds of poetry.

When I said.

A rose is a rose is a rose is a rose.

And then later made that into a ring I made poetry and what did I do I caressed completely caressed and addressed a noun.

Now let us think of poetry any poetry all poetry and let us see if this is not so. Of course it is so anybody can know that.

Gertrude Stein

(In Poetik und Grammatik (Poetry and Grammar), http://lemonhound.com/2012/10/13/gertrude-stein-poetry-grammar/)


Eine Anmerkung zu Gertrude Steins Worten

Sie werden häufig zitiert, meist verwundert, manchmal abfällig, aber immer aus dem Zusammenhang gerissen, vermutlich, weil ihre Werke nicht gelesen werden. Ihr Einfluss auf die Literatur ist gegenwärtiger als ihr eigenes Werk (man denke nur an ihren Einfluss auf Ernst Jandls Gedichte wie ottos mops oder wien: heldenplatz und an Thomas Bernhards Satzspiralen). Wer weiß schon, dass sie ursprünglich aus dem Gedicht Sacred Emily (Heilige Emily) stammen, das sie 1913 geschrieben hatte:
Color mahogany.
Color mahogany center.
Rose is a rose is a rose is a rose.
Loveliness extreme.
Extra gaiters.
Loveliness extreme.
Sweetest ice-cream.
Page ages page ages page ages.
Wiped Wiped wire wire.
Sweeter than peaches and pears and cream.
Wiped wire wiped wire.
Extra extreme.

(In Geography and Plays. Boston 1922, S. 187; http://www.lettersofnote.com/p/sacred-emily-by-gertrude-stein.html)
Aber bekannt geworden sind die Worte vor allem durch ihr Kinderbuch Die Welt ist rund (The World is Round), das 1939 erschien. Einer der ersten US-amerikanischen Kinderbuchverlage, Young Scott Books, der ein Jahr zuvor gegründet wurde, hatte bekannte Schriftteller um eine Geschichte für Kinder gebeten. Ihr Zögling Ernest Hemingway winkte ab, aber Gertrude Stein sagte im Alter von 65 Jahren zu und schrieb die Geschichte eines kleinen weinerlichen Mädchen namens Rose (es geht hier also nicht um eine Blume), das oft singen muss, gern nachdenkt, suchen, finden und benennen möchte und ihren Lehrern nicht vertraut, die sagen, dass die Welt und die Sonne und der Mond und die Sterne rund sind, und alles „drehte sich immer rundherum immer rundherum“. Und als sie sich einmal beim Singen in einem Spiegel sah, stellte sie fest, dass auch beim Singen „ihr Mund rund (war) und drehte sich immer rundherum immer rundherum“. Und sie fragte sich, „war denn hierzulande alles nur rund drehte sich immer rundherum immer rundherum“? Aber den Bergen, die sich so hoch erheben, würde es sicher „gelingen, alles zum Stillstand zu bringen“. Also beschloss sie, mitsamt einem blauen Gartenstuhl auf die Spitze eines Berges zu klettern, um auf die Welt hinunterzusehen.

Unterwegs sah sie einen Baum, und sie dachte
ja er ist rund aber rundherum werde ich Rose ist eine Rose ist eine Rose ist eine Rose einschnitzen und dann ist’s einfach da und ich höre nirgends mehr irgendwas das mir in der Nacht Angst macht. (…) So nahm sie also ihr Taschenmesser, sie hatte weder einen Füller noch eine Feder von einem Huhn und sie hatte auch keine Tinte da konnte sie nichts tun, sie würde einfach auf ihrem Stuhl stehen und rundherum immer rundherum aber nicht krumm Rose ist eine Rose ist eine Rose ist eine Rose Rose ist eine Rose in die Rinde ritzen bis es ganz herum reichte. (…) Und Rose vergaß die Dämmerung vergaß die rosige Dämmerung und vergaß den Sonnenschein vergaß sie war da allein ganz allein und ritzte vorsichtig in die Ecken rein, die Ecken der Os und Rs und Ss und Es in Rose ist eine Rose ist eine Rose ist eine Rose.
(Die Welt ist rund. Ritter 2001, S. 70–72)
Gertrude Stein hat die Worte noch öfter gebraucht, und gern wurden sie von anderen variiert. So schreibt William S. Burroughs in From my Education: A Book of Dreams: „The word for word is word“ (Wort für Wort ist Wort) (zitiert nach Word Virus: The William S. Burroughs Reader. Grove 1998, S. 515) und in Naked Lunch (Nackter Rausch) „A rat is a rat is a rat is a rat“ (Eine Ratte eine Ratte ist eine Ratte ist eine Ratte) (S. 174) Wer mehr dazu wissen möchte, sehe auf http://en.wikipedia.org/wiki/Rose_is_a_rose_is_a_rose_is_a_rose nach.

– Für mich ist Die Welt ist rund jedenfalls eines der schönsten Kinderbücher überhaupt, was sicher auch an der Aufmachung und an den Zeichnungen von Franz Erhard Walther liegt. –

Montag, 12. November 2012

Konstantin Paustowski über das Schreiben

„Jeder Augenblick, jedes beiläufig hingeworfene Wort, jeder Blick, jeder tiefe oder nur als Scherz gemeinte Gedanke, jede unmerkliche Regung des menschlichen Herzens ebenso wie der fliegende Flaum der Pappeln oder das Blinken der Sterne in einer Pfütze bei Nacht – alles das sind kleine Körnchen Goldstaub.

Wir Schriftsteller gewinnen sie im Laufe von Jahrzehnten, diese Millionen kleiner Körnchen, wir sammeln sie, ohne es selbst zu merken, verwandeln sie in eine Legierung und schmieden dann aus diesen Legierung unsere ‚Goldene Rose’ – eine Erzählung, einen Roman oder eine Dichtung.“

Konstantin Paustowski

(In Die Goldene Rose. Gedanken über die Arbeit des Schriftstellers. Dietz o. J., S. 25)

Samstag, 10. November 2012

Getrude Stein über die (Nicht-)Benutzung von Kommas

Wenn es wirklich schwierig wird, möchte man einen Knoten lieber entwirren, statt ihn durchzuschlagen, zumindest empfindet so jeder, der an irgendeinem Thema arbeitet, empfindet so jeder, der mit irgendeinem Werkzeug arbeitet, so empfindet jeder, der einen Satz schreibt oder liest, nachdem er geschrieben wurde. Und was tut ein Komma, ein Komma tut nichts als eine Sache leicht zu machen, die, wenn man sie gern genug tut, leicht genug ist ohne das Komma. Ein langer komplizierter Satz sollte sich einem einprägen, sollte einem bewusst machen, dass man ihn kennt, und das Komma, nun im besten Fall ist ein Komma ein armer Punkt, der einen anhalten und Atem holen lässt, doch wenn man Atem holen will, sollte man selbst wissen, dass man Atem holen will. Es ist nicht wie ganz und gar anhalten, wie es ein Punkt tut, ganz und gar anhalten hat etwas mit weitergehen zu tun, aber Atem holen, nun man holt immer Atem, und warum sollte man einen Atemzug mehr betonen als einen andern. Jedenfalls ist das die Art, wie ich es empfand, und ich empfand das sehr sehr stark. Und so benutzte ich fast nie ein Komma. Je länger, je komplizierter der Satz, um so größer die Anzahl derselben Art Wörter, die ich eines dem andern folgen ließ, je mehr, je viel mehr ich von ihnen gebrauchte, um so mehr fühlte ich die leidenschaftliche Notwendigkeit ihres sich selbst um sich selbst Kümmerns und des ihnen nicht Helfens und des sie Schwächens, indem man ein Komma setzt.

When it gets really difficult you want to disentangle rather than to cut the knot, at least so anybody feels who is working with any thread, so anybody feels who is working with any tool so anybody feels who is writing any sentence or reading it after it has been written. And what does a comma do, a comma does nothing but make easy a thing that if you like it enough is easy enough without the comma. A long complicated sentence should force itself upon you, make you know yourself knowing it and the comma, well at the most a comma is a poor period that it lets you stop and take a breath but if you want to take a breath you ought to know yourself that you want to take a breath. It is not like stopping altogether which is what a period does stopping altogether has something to do with going on, but taking a breath well you are always taking a breath and why emphasize one breath rather than another breath. Anyway that is the way I felt about it and I felt that about it very very strongly. And so I almost never used a comma. The longer, the more complicated the sentence the greater the number of the same kinds of words I had following one after another, the more the very many more I had of them the more I felt the passionate need of their taking care of themselves by themselves and not helping them, and thereby enfeebling them by putting in a comma.

Gertrude Stein in ihrem Vortrag Poetry & Grammar (Poetik und Grammatik) im November 1934 an der Universität von Chicago, http://lemonhound.com/2012/10/13/gertrude-stein-poetry-grammar/; siehe auch ihren Essay On Punctuation, http://epc.buffalo.edu/authors/goldsmith/works/stein.pdf

Montag, 5. November 2012

Die Sprache wandelt sich


Wörter sind wie Lebewesen: Sie kennen Geburt und Tod, Jugend und Alter, Familie und Vorfahren.
(Duden-Newsletter; zitiert nach http://woerter.germanblogs.de/archive/2007/07/23/wie-kommt-ein-wort-in-den-duden.htm)

Jeden Tag erblicken neue Wörter (Neologismen, von gr. neos = neu, logos = Wort) das Licht der Welt. Doch nicht immer werden sie kampflos übernommen. Wörter wie belichten, Gepflogenheit, Jetztzeit, die heute selbstverständlich sind, waren im neunzehnten Jahrhundert heftig umstritten. Doch schließlich gewöhnte man sich an diese »anstößigen« Wörter – sie hörten auf, Neologismen zu sein.

Wandel der Bedeutung von Wörtern

Aber es ändert sich auch die Bedeutung von Wörtern. So schreibt Walter Porzig, dass sich
Aussprache, Wortschatz und Satzfügung bei den einzelnen Altersklassen einer Gemeinde und innerhalb derselben Familie bei Kindern und Erwachsenen verschiedener Altersstufen merkbar unterscheiden, ja, dass sie sich bei demselben Menschen im Laufe seines Lebens sehr allmählich aber dauernd ändern. Die Älteren unter uns können das an ihrer eigenen Sprache beobachten: ein Angeber war in meiner Jugend ein Denunziant, jetzt ist er ein Großtuer. Das heißt, daß die Bezeichnung Angeber für Denunziant außer Gebrauch gekommen ist und daß der Großtuer einen neuen Namen bekommen hat. Es handelt sich gar nicht um ein Wort, sondern um zwei Wörter Angeber, die nur zufällig gleich sind. Worauf es hier ankommt, ist, daß sich die Bezeichnung für die beiden Begriffe im Laufe eines Menschenalters völlig geändert hat. (Das Wunder der Sprache. Francke 1957, S. 301)
Brandschatzen bedeutet heute das Niederbrennen eines Anwesens, ursprünglich jedoch das Erpressen von Schutzgeld, damit es eben nicht niedergebrannt wird. Ein Geschäftsmann war zu Goethes Zeiten ein Staatsbeamter, Firma die Unterschrift eines Fürsten. Ekel stand für wählerisch und anspruchsvoll. Das Wort Dirne bezeichnete ein Mädchen und Weib eine Frau. Mit »Bin weder Fräulein, weder schön / Kann ungeleitet nach Hause gehn« aus Goethes Faust I begründet Gretchen, dass sie keine ledige Adlige sei, denn nur diese wurde damals als Fräulein bezeichnet.

Vogel hieß alles, was flog. In manchen Dialekten, vor allem in der Schweiz, werden Schmetterlinge heute noch Sommervögel genannt. Wilhelm Buschs »Jeder weiß, was so ein Mai- / Käfer für ein Vogel sei« in Max und Moritz ist also durchaus nicht komisch.

Veraltete Wörter (Archaismen; latinisiert vom altgriechischen archaios = alt, ehemalig)

»Jeder von uns«, so Hans Eggers,
könnte bemerken, daß seine eigene Sprache anders ist als die seiner Großeltern. Wir sagen er kommt, wo Großmutter vielleicht noch er kömmt sagt, und wenn wir heute wechselweise zu Haus und zu Hause sagen, bald eine neue, bald eine ältere Form verwendend, pflegt Großvater wohl noch regelmäßig das e des Dativs zu bewahren. Auffälliger noch als solche lautlichen Veränderungen sind die Wandlungen des Wort- und Ausdrucksschatzes. Manches Wort und manche Redewendung, die die Großeltern ständig im Munde führen, verstehen wir freilich, werden sie aber niemals selbst gebrauchen, und unser modisches genau für das schlichte ja, unser prima, unser mit achtzig Sachen und viele Ausdrücke unserer Tage werden sich die Alten unter uns nicht mehr angewöhnen. Und sprechen unsere Kinder und Enkel nicht wieder eine andere Sprache? Wir, die wir mitten im Leben stehen, werden uns nur schwer daran gewöhnen, die Sprößlinge als Teenager und Twens zu bezeichnen, und auch deren Ausdrücke für ein hübsches Mädchen, dufte Biene oder steiler Zahn, werden wir uns kaum noch zu eigen machen. (Deutsche Sprachgeschichte. Rowohlt 1986 , S. 10)
Wörter können aber auch wieder modern werden. Manche veraltete Wörter wie Hain, Fehde, Degen, Recke, Tafelrunde, hegen und küren wurden vor allem durch Schriftsteller neu belebt.

Alte und neue Wörter und die Weltliteratur

Viele heute alltägliche Wörter waren unseren Großeltern unbekannt (abgesehen von Schreibwerkstatt, Internet und Geldautomat), aber wussten Sie, dass es vor einhundertfünfzig Jahren noch nicht das Wort jubeln gab? Man jubilierte oder frohlockte. Hingegen sagen wir nicht mehr justament für ausgerechnet, zu diesem Behufe für zu diesem Zweck, Veloziped für Fahrrad, Comptoir für Büro, Droschke für Taxi, Elektrische für Straßenbahn oder Automobil, platterdings, Gendarm und Boudoir.

Dagegen wurden so aktuelle Wörter wie Nervosität, Unsicherheit, Gespaltenheit, schon vor zweihundert Jahren gebraucht, und Karl Kraus benutzte bereits das Wort ausgepowert: »Aber selbst wenn diese Journalistik nicht die Sprache ausgepowert hätte, gäbe es keinen Ausdruck, ihr moralisches Niveau zu bezeichnen.« (Fackel, H. 622, 1913, S. 201)

Johann Wolfgang von Goethe schrieb von der Anarchie, der Bundesregierung, vom ankiffen und von den Aktien. Berühmt ist er auch für die Prägung des Begriffs Weltliteratur. Erster Beleg ist der Tagebucheintrag vom 15.1. 1827: »An Schuchardt diktiert bezüglich auf französische und Welt-Literatur.« (Tagebücher. Cotta 1959, S. 368) Doch schon wenige Tage später, am 27. 1. 1827, schreibt er an Karl Streckfuss: »Ich bin überzeugt, daß eine Weltliteratur sich bilde«, und prophezeit: »Der Deutsche kann und soll hier am meisten wirken, er wird eine schöne Rolle bei diesem Zusammentreten zu spielen haben.« (Briefe, S. 215)

Der Begriff Weltliteratur wurde zwar erstmals von Christoph Martin Wieland um 1790 geprägt, doch dieser meinte damit die Literatur, die der homme du monde, der Weltmann, liest. Für Goethe hingegen ist Welt die Menschheit jenseits der nationalen Grenzen. Er versteht darunter die Literatur, die aus einem übernationalen Geist heraus geschaffen wurde, also die Kleinstaaterei auch in der Dichtung überwindet. (Und musste später erkennen, dass das auch ein Überschwemmtwerden mit trivialer fremdsprachiger Literatur bedeutet.) (Siehe dazu auch http://www.adglossar.de/Weltliteratur und Goethes Aufsatz über die Weltliteratur auf http://www.wissen-im-netz.info/literatur/goethe/aufsatz/07.htm)

Modewörter

Heute selten gebrauchte Wörter wandeln sich schnell zu Modewörtern, andererseits klingen Wörter, die früher als Modewörter bezeichnet wurden, heute wieder unverbraucht. Vor über hundert Jahren prangerte Gustav Wustmann in Allerhand Sprachdummheiten: Kleine deutsche Grammatik des Zweifelhaften, des Falschen und des Häßlichen. Ein Hilfsbuch für alle, die sich öffentlich der deutschen Sprache bedienen Modewörter an, die heute noch lebendig sind, wie belanglos, Darbietung, Ehrung, einwandfrei, erheblich, erhellen, großzügig, jugendlich, Prozent/Prozentsatz (für Teil), schreiten, selbstlos, unerheblich, unerfindlich, unentwegt. – Ob sie einen Text verschönern, steht auf einem anderen Blatt und ist auch ein anderes Thema. –

Nicht nur Modewörter können neu belebt werden. Viele große Wörter sind mürbe geworden, weil viel zu oft benutzt und ihrer ursprünglichen Aussage beraubt. Was bedeuten heute noch Wohltäter, Demut oder Pflicht? »Man muß manchmal einen Ausdruck aus der Sprache herausziehen, ihn zum Reinigen geben, – und kann ihn dann wieder in den Verkehr einführen«, sagt Ludwig Wittgenstein in Vermischte Bemerkungen, S. 504. Wenn die Worte rekonstruiert sind und wieder in den Umlauf gebracht werden, würde ihnen wieder zu trauen sein.

Die verlorenen Wörter

Christa Wolf mahnte bei ihrer Rede anlässlich der Verleihung des Nelly-Sachs-Preises 1999 eine Liste über verlorene Worte an:
Müßten wir nicht damit anfangen, eine Liste der verlorenen Wörter anzulegen, so wie die Naturforscher Listen der aussterbenden Arten angelegt haben, die täglich länger werden? Und ist es abwegig, zu vermuten, daß die sterbenden Wörter etwas mit den ausgestorbenen Tieren und Pflanzen zu tun haben? Weil wir geduldet haben, daß ein Wort wie »Ehrfurcht« uns fremd geworden ist, ausgesondert, überflüssig, peinlich, bleibt eine Gefühlsstelle in uns taub, wenn wir Mitlebendes ausmerzen.
Und sie fragte:
Was ist heute menschlich? Worauf beziehen wir heutzutage das Wort »human«? Für welche Inhalte ist es uns unverzichtbar geblieben oder geworden? (Der Worte Adernetz. Suhrkamp 2006 , S. 89)
Verlorene Wörter sind auch solche, die von Schriftstellern geprägt, von anderen Autoren jedoch nicht aufgenommen wurden, wie Absonderling (Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen); Betschwesterei (Georg Christoph Lichtenberg); entdonnern (Archim von Arnim); Halbgeschmack (Johann Wolfgang von Goethe); Icher (Friedrich Gottlieb Klopstock); Schicksalssohn (Johann Gottfried Herder); vergottscheden (A. G. Kästner); Warmländer (Jean Paul); zwiesprachig (Theodor Mommsen).

Und dann gibt es noch die Wörter, die heute vergessen sind wie Abnolken, Anquerdern, Anspinn, befetschen, Dolk, Empter, entnafzen, Gurbe, Gusel, hangdrüslicht, Hirsetute, Hupfelrei, ichtes (mit ichtesicht, ichteswann, ichtwan, ichtwas, ichtwasig, ichtwer, ichtwvo), Immi, Karschbein, Kannenwvroge, kille, Klipse, Kleuder, kommlich, Kone, Leibfall, Leuchse, Ludellerche, Mannsen, Melkter, Momber, Musterherr, Muttich, Pinge, Qualster, Quarre, Quappel, reuen, Ritscher, Sanduhrstein, Tschinke, Übersatz, Watschar, Wurstgraben, Zerte, Zeute, Zust.

So manches Wort werden wir bald vermissen, weil es heute schon selten erklingt, wie Anmut, Base, Belletage, betrübt, dämmern, Demut, entschwinden, entzückt, gefeit sein, Flegel, Gabelfrühstück, Göre, Herrenzimmer, Hochpaterre, Hupfdohle, intim werden, kredenzen, Lameng (aus der Lameng), Lichtspielhaus, lind, Mündel, Obacht, Ober (Ober, bringse noch’n Bier), Oheim, Philister, Plage, Plumpe, prellen, Racker, Ränke, reuen, rühmenswert, Rüstung, schwirren, schnauben, übertölpeln, Wählscheibe, Zecke, Zinne, Zuchthaus, Zugehfrau, Zwielicht, Zwist.

Dazu kommen noch die Wörter, über die wir froh sein werden, wenn sie verloren sind (diese Wörter notiere sich der Leser selbst).

Sonntag, 4. November 2012

Fontane über das Schreiben(-Müssen) + Zitat von Goethe

Trotz starken Abattu-seins* hab' ich auch heute wieder mein Kapitel geschrieben nach dem alten Goethe-Satze: »Gebt ihr euch einmal für Poeten, So kommandirt die Poesie.«** Daß es gleich gut wird, ist schließlich auch nicht nöthig und auch eigentlich von dem der täglich sein Pensum arbeitet auch nicht zu verlangen. Es wird wie’s wird. In der Regel steht Dummes, Geschmackvolles***, Ungeschicktes neben ganz Gutem und ist Letztres nur überhaupt da, so kann ich schon zufrieden sein. Ich habe dann nur noch die Aufgabe es herauszuspulen. Dies ist zwar mitunter nicht blos mühsam, sondern auch schwer, es giebt einem aber doch eine Beruhigung zu wissen »ja, da ist es, suche nur und finde.«

* Von franz. être abattu = deprimiert, niedergedrückt sein.
 ** Aus Faust. Eine Tragödie. Erster Theil. Cotta’sche 1838, S. 16.
*** In manchen Ausgaben auch »Geschmackloses«, das ist jedoch ein Druckfehler (siehe u. a. hier).

Theodor Fontane an Emilie Fontane am 14. 5. 1884 (Aus Werke, Schriften und Briefe. Hanser 1990, S. 916)

Samstag, 3. November 2012

Goethe über eine Million Leser und über Kritiker*

Wer aber nicht eine Million Leser erwartet, sollte keine Zeile schreiben.

Johann Wolfgang von Goethe am 12. Mai 1825

(In Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Brockhaus 1868, S. 220; http://www.wissen-im-netz.info/literatur/goethe/biografie/eckermann/1825/18250512.htm

Hier ist das vollständige Zitat:
Überall lernt man nur von dem, den man liebt. – Solche Gesinnungen finden sich nun wohl gegen mich bey jetzt heranwachsenden jungen Talenten, allein ich fand sie sehr spärlich unter Gleichzeitigen. Ja ich wüßte kaum einen einzigen Mann von Bedeutung zu nennen, dem ich durchaus recht gewesen wäre. Gleich an meinem Werther tadelten sie soviel, daß, wenn ich jede gescholtene Stelle hätte tilgen wollen, von dem ganzen Buche keine Zeile geblieben wäre. Allein aller Tadel schadete mir nichts, denn solche subjektive Urtheile einzelner obgleich bedeutender Männer stellten sich durch die Masse wieder ins Gleiche. Wer aber nicht eine Million Leser erwartet, sollte keine Zeile schreiben.
Nun streitet sich das Publikum seit zwanzig Jahren, wer größer sei: Schiller oder ich, und sie sollten sich freuen, daß überhaupt ein paar Kerle da sind, worüber sie streiten können.
*Aua. Da hatte ich mir aber einen Lapsus erlaubt: Die Überschrift lautete ursprünglich "Goethe über eine Million Leser und Kritiker". Aber alles was recht ist: Von einer Million Kritiker hat der Meister nicht gesprochen. Daran sieht man mal wieder, wie sehr es auf die Stellung von Wörtern in einem Satz ankommt.

Donnerstag, 1. November 2012

Das Ende im Anfang (Nicht) jeder Anfang ist schwer. VI


Sie können mit einer allgemeinen Schilderung beginnen, mit einer Zugfahrt, dem Wetter oder einer Landschaft, das Besondere des Textes muss jedoch darin enthalten sein. Legen Sie eine Spur, doch so subtil, dass der Leser sie nicht merkt: Bereiten Sie im Anfang den Schluss vor.

Das bedeutet nicht, dass Sie stundenlang überlegen, wie Sie das Ende oder das besondere Ereignis andeuten, vor allem, wenn Sie nicht mit einem detaillierten Exposé oder einer bis in die letzte Einzelheiten ausgefeilten Gliederung arbeiten und den Schluss gar nicht kennen. Sie können jederzeit den Anfang ändern, so wie Sie nachträglich weitere Spuren legen oder die Bedeutung einer scheinbar unwichtigen Bemerkung oder eines vermeintlich nebensächlichen Ereignisses durch weitere subtile Hinweise herausheben können. Beim ersten Schreiben eines Textes ist es ohnehin kaum möglich, all diese Feinheiten zu berücksichtigen.

UPDIKE deutet in Rabitt in Ruhe den Tod der Hauptfigur an:
Harry Armstrong steht inmitten der braungebrannten, aufgeregten nachweihnachtlichen Menschenmenge im Southwest Florida Regional Airport und hat ganz plötzlich das eigenartige Gefühl, daß das, was da auf ihn zukommt, was da ungesehen einherschwebt und gleich landen wird, nicht sein Sohn Nelson mit Ehefrau Pru und den beiden Kindern ist, sondern etwas Schicksalhaftes, etwas viel Persönlicheres: sein Tod, in Gestalt eines Flugzeugs,
ebenso BERT BRECHT in Vier Männer und ein Pokerspiel
Sie saßen auf Korbstühlen in Havanna und vergaßen die Welt. Wenn es ihnen zu heiß wurde, tranken sie Eiswasser, abends tanzten sie Boston im Atlantic-Hotel. Sie hatten alle vier Geld.
In den Zeitungen stand über sie, daß sie große Leute wären. Wenn sie es dreimal gelesen hatten, warfen sie die Zeitungen ins Meer. Oder sie hielten die Zeitung mit zwei Händen fest und durchbohrten sie mit der Schuhspitze. Drei von ihnen hatten vor zehntausend Menschen Rekorde geschwommen, der vierte die zehntausend auf die Beine gebracht. Als sie ihre Gegner geschlagen und die Zeitungen gelesen hatten, schifften sie sich ein. Mit gutem Geld kehrten sie zurück nach New York.
Diese Geschichte könnte man eigentlich nur unter Jazzbegleitung richtig erzählen. Sie ist von A bis Z poetisch. Sie fängt an mit Zigarrenrauch und Gelächter und endet mit einem Todesfall,
MAILER in Die Nackten und die Toten:
Niemand vermochte zu schlafen. In der Morgendämmerung würde das kleine Transportschiff seine Fahrt verlangsamen, die erste Woge der Truppen würde durch die Brandung dringen und entlang der Küste von Anopopei angreifen. Jedermann auf dem Schiff, jeder im Schiffsverband wußte, daß einige von ihnen in den nächsten Stunden zu sterben hätten,
und Graham GREENE in Am Abgrund des Lebens:
Er war noch keine drei Stunden in Brighton gewesen, da wußte Hale, daß sie ihn ermorden wollten.