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Montag, 20. Juni 2011

Karl Kraus über das Wörtchen, das ich so liebe: Das kleine Wörtchen „Es“. III

Fortsetzung von Karl Kraus über das Wörtchen, das ich so liebe: Das kleine Wörtchen „Es“.  II http://juttas-schreibtipps.blogspot.com/2011/05/karl-kraus-uber-das-wortchen-das-ich-so.html

»Es kann der Frömmste nicht in Frieden bleiben, wenn es dem bösen Nachbar nicht gefällt«: warum ist »es« da vorangestellt, was soll da erlebt sein, ehe man erfährt, daß es der Frömmste ist, dem »es« zustößt? Seine Wehrlosigkeit, sein besonderer Notstand, ein Es-ist-nicht-auszuhalten, wenn »sogar«. »Der Frömmste kann nicht in Frieden bleiben« läßt nebst der bloßen Feststellung noch der Einrede Raum, daß er gerade weil er der Frömmste ist, den bösen Nachbar gereizt hat. (Ein Buchstabe kann die namentlich bei Schiller so naheliegenden Kontraste von Anschauung und von Lehrmeinung herbeiführen und wenn er fehlt, aufheben. Man beachte den von mir nachgewiesenen Fall, daß das herrlich plastische »Ein andres Antlitz eh sie geschehn [geschehen im Original, jmw], ein anderes zeigt die vollbrachte Tat«  von den späteren Druckern und Herausgebern aus dem Wunder des Wechsels von raschem Entschluß in bange Reue, aus dem Doppelgesicht der Seele zu einer faden Doppelansicht (anderes–anderes) verhunzt wurde.) Natürlich wissen die Sprachwissenschaftler von dieser dichterischen Funktion des wirklich vorangestellten »es« auch nichts. Wie würden sie aber erstaunt sein, wenn man ihnen den reinen Subjektcharakter des »es« in »Es werde Licht« erhellte, indem man, ohne doch das »Es« im Geringsten zu alterieren, statt »Licht« »licht« setzt. Da wird es hell. Es tagt. Und wenn »es tagt«: ist das nicht ganz das nämliche »es«, wie wenn es »Tag wird« – und was wäre es, wenn nicht das Subjekt? Und  ist ihnen in diesen Fällen das Fehlen des Artikels, das schon was Prädikathaftes andeutet, nicht verdächtig? Der Artikel fehlt, doch dafür müßte man »Es« statt »es« schreiben: merken sie »Es« noch immer nicht? Und wenn »es schön ist«, ist da auch noch das »es« vorangestellt? Einem Prädikat? Vielleicht stehts doch bloß für »das Wetter«, »das Draußen«, für das was als die Summe der bezüglichen Sinneseindrücke das große Neutrum der Natur ausmacht? Doch in solchen Fällen sagen sie freilich, es »deute auf einen vor- oder nachstehenden Satz«. Es deutet, ohne zu erklären. Aber: wenn er voransteht, so ist eben der Subjektcharakter gegeben. » ‚Er ist wohl.’ ‚Es freut mich.‘« Folgt er: »Es freut mich, daß er wohl ist«, so ist es eine Inversion, durch die auf das eigentliche Subjekt »daß er wohl ist« vorbereitet wird, wie in »Wer wagt es, zu tauchen« auf das Objekt. Hier will die Sprache das, was sie zu sagen hat, gewichtiger machen. Wenn aber nichts vor- oder nachsteht und auf nichts gedeutet wird, wenn es schön war und es sie gefreut hat, dann bliebe, da »es« um keinen Preis ein richtiges Subjekt sein darf, wohl nichts als die Vermutung, es sei der Aussage vorangestellt und  wenn kein Grund mehr für die Inversion besteht, so müsse es heißen: »Sehr schön war, sehr gefreut mich hat«. Merken sie »es« noch immer nicht? »Es ist ein Kreuz«! Aber ein Moment stellt sich ein, das es auch ihnen schließlich leicht machen wird. Das »vorangestellte es« kann man begreiflicher Weise nur in vorangestelltem Zustand belassen, es wird in keine Verwandlung des Satzes mitübernommen. Außer für ein sofort erkennbares Zitat, so daß ich in einer Stilcharge sogar sagen könnte: »Der See, der es rast« oder etwa, um einen Phrasenschwall zu treffen, mich erkühnte, zum Unterschied von der »Freiheit, die ich meine«, von der »Freiheit, die es lebe« zu sprechen. Man kann jedoch an und für sich nicht sagen: der Tag oder der Tanz, der es beginnt, und nicht einmal: der Tag oder der Tanz beginnt es. Aber, nicht wahr, man kann doch wohl sagen: Tag wird es, Abend will es werden, Licht werde es, schön wird es, gefreut hat es mich? Was ist da aus dem »vorangestellten es« geworden? Ein nachgestelltes! Es hat sich erhalten; es lebt, es ist da, es (das Element) behielt es nicht. Denn es konnte eben, weil’s ein »richtiges«, ein rechtschaffenes Subjekt ist, nicht verschwinden. Die Vorstellung, daß in den Beispielen, die die Grammatiker tatsächlich nebeneinandersetzen: »es zogen drei Burschen zum Tore hinaus« und in »es werde Licht« das »es« gleichwertig und gleichbedeutend sei, daß das rein prädikative ‚Licht‘ »nachfolgendes Subjekt« sei wie die drei Burschen, kann nur einer Wissenschaft glücken, die sich mit der Registrierung begnügt und was dieselben Buchstaben hat als offenbar identisch in das gleiche Fach tut. Wer nicht auf das Letternbild starrt, sondern mit geschlossenen Augen den Weltenunterschied so winziger Räume zu durchmessen bemüht ist, der wird seiner habhaft werden und noch leichter dort, wo er nicht zugleich die begriffliche Distanz der Beispiele zu bewältigen hat, also vor der begrifflichen Identität: »Es beginnt der Tag« und »Es wird Tag«. Wer aber da nicht spürt, worauf es ankommt, für den kann, wenn er auf die Uhr schaut, wohl der Tag beginnen – der es ihm aber nicht wird. Denn so klein ist dieses »es«, daß er es in der Unendlichkeit, die es bedeutet, nicht erschöpfen wird, und nichts läßt sich erleben als ein Zeitvertreib, ein »Abend, der werden will«, öd wie nur einer, der angebrochen ist und mit dem man nichts anzufangen weiß.

(In Die Fackel 1921, Heft 572–576, S. 46ff.)

(Zum Thema „Es“ siehe auch http://juttas-schreibtipps.blogspot.com/2009/10/es-ist-schlechter-stil-das-wortchen-es.html)

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