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Dienstag, 19. Februar 2013

Schreibtechniken: Die Cluster-Methode


Wer schöpferisch arbeitet – vor allem, wenn er schreibt –, muß sich die speziellen Funktionen beider Gehirnhälften in geeigneter Weise nutzbar machen. (Gabriele L. Rico, Garantiert schreiben lernen, S. 66)
Im Leben der meisten Menschen hat sich Erkenntnis nur zufällig eingestellt. Wir warten auf sie, so wie der Mensch früher auf den Blitz wartete, um ein Feuer zu entfachen. Geistige Zusammenhänge herzustellen ist jedoch unser entschiedenstes Lernmittel, die Essenz der menschlichen Intelligenz: Verbindungen zu knüpfen; hinter das Gegebene zu schauen; Muster, Beziehungen und den Kontext zu begreifen. (Marilyn Ferguson, Die sanfte Verschwörung; zitiert nach Rico, S. 34)

But in most lives insight has been accidental. We wait for it as primitive man awaited lightning for a fire. But making mental connections is our most crucial learning tool, the essence of human intelligence: to forge links; to go beyond the given; to see patterns, relationships, context. (The Aquarian Conspiracy)
Sie haben Ihr Thema gefunden, haben eine umfassende Vita für jede einzelne Ihrer Figuren erstellt (vielleicht sogar nach meinen Anregungen auf http://juttas-schreibtipps.blogspot.de/2008/08/auch-ihre-figuren-haben-eine-biographie.html) und Pläne der Handlungsorte gemalt, haben monatelang recherchiert, das Gerüst steht, Sie wollen loslegen, sitzen vor dem leeren Blatt Papier und denken „Hilfe, was nun?“, weil Sie nicht wissen, wie Sie das alles sprachlich umsetzen sollen, wie Sie Texte schaffen, die über das Althergebrachte, Gewohnte hinausgehen sollen, sprich von einem großen Publikumsverlag auf Anhieb gedruckt werden. Nun, letzteres kann ich nicht versprechen, aber zumindest zum Hervorkitzeln Ihrer Kreativität gibt es verschiedene Methoden wie die Mind-Map, die der britische Mentaltrainer und Autor Tony Buzan Anfang der 1970er Jahre ausarbeitete.

Clustering versus Mind-Mapping

Nehmt einige Bogen Papier und schreibt drei Tage hintereinander ohne Falsch und Heuchelei alles nieder, was euch durch den Kopf geht. Schreibt, was ihr denkt von euch selbst, von euern Weibern, von dem Türkenkrieg, von Goethe, von Fonks Kriminalprozeß, vom Jüngsten Gerichte, von euern Vorgesetzten – und nach Verlauf der drei Tage werdet ihr vor Verwunderung, was ihr für neue, unerhörte Gedanken gehabt, ganz außer euch kommen. Das ist die Kunst, in drei Tagen ein Originalschriftsteller zu werden! (Ludwig Börne, Die Kunst, in drei Tagen ein Originalschriftsteller zu werden, 1823)
Auf die Mind-Map-Methode möchte ich hier nicht eingehen, denn ich schwöre auf eine ähnliche Methode zum Entdecken der eigenen Kreativität, die Gabriele L. Rico etwa um die gleiche Zeit in den USA entdeckte, eine Methode, die erstaunliche Einfälle und verblüffende Assoziationen auslöst und so den Einstieg in das Thema erleichtert und lebende Figuren schafft: das Clustering (von engl. Cluster = Gruppe, Haufen, Anhäufung; to cluster = anhäufen, zusammenballen, zu Büscheln anordnen). – Der Schreiblehrer Jürgen vom Scheidt empfiehlt, beide Methoden nacheinander zu benutzen, mehr dazu siehe hier. – Beide Methoden beruhen auf der von Sigmund Freud entwickelten Methode der freien Assoziation, was bedeutet, dass man ohne nachzudenken oder gar zu zensieren das schreiben soll, was einem gerade so einfällt, zu der er sich wahrscheinlich von Börne inspirieren ließ (siehe Klaus Thonack: Selbstdarstellung des Unbewussten: Freud als Autor, 1997, S. 110). Doch im Gegensatz zu Rico kommt sie bei Buzan erst an zweiter Stelle, vor allem aber beruht das Mind-Map auf strengen formalen Regeln wie die Dicke der Striche für die Verzweigungen, unterschiedlich große Buchstaben und unterschiedliche Farben. Bei Rico schreibt man das Wort, um das es geht, in die Mitte eines Blatts Papier, malt einen Kreis drumrum, assoziiert davon ausgehend weitere Wörter mit Kreisen darum und verbindet sie mit Strichen. Fertig. Nur leider hat sich Buzans Methode mittlerweile durchgesetzt, vielleicht aufgrund seines besseren Vermarktungskonzepts.

Rico schreibt dazu in ihrem Buch Garantiert schreiben lernen: Sprachliche Kreativität methodisch entwickeln – ein Intensivkurs:
1976, fünf Monate nach Abschluß meiner Dissertation, erfuhr ich gleichermaßen aufgeschreckt und ermutigt, daß der englische Pädagoge Tony Buzan ein Verfahren zur Förderung kreativer Fähigkeiten entwickelt hat, das dem Clustering ähnelte. Er hat seine „Mapping“ genannte Methode in einem Buch mit dem Titel Use Both Sides of the [Your] Brain vorgestellt. Obwohl Clustering und Mapping zu unterschiedlichen Übungen und Lernprozessen führen und auch äußerlich in vieler Hinsicht voneinander abweichen, schien es, als hätten Tony Buzan und ich unabhängig voneinander eine Entdeckung gemacht, für die die Zeit gekommen war. (S. 10)
Aufbauend auf dieses Buch, das sie 1983 unter Writing the natural way: Using right-brain techniques to release your expressive powers veröffentlicht hatte und das 1984 in Deutschland erschien (Tony Buzan veröffentlichte The Mind Map Book erst 1993, in Deutschland wurde es unter dem Titel Das kleine Mind-Map-Buch: Die beste Methode zur Steigerung ihres geistigen Potentials sogar erst 2002 herausgegeben), wurde auch in Deutschland das kreative Schreiben (Creative Writing) modern. Schreibwerkstätten, ob privat (so wie ich meine Lichterfelder Bleistiftspitzen) oder an Institutionen wie Volkshochschulen, schossen wie Pilze aus den Boden, und so mancher Schreiblehrer wurde zum Guru.

Okay, wir waren von der Schule her gewohnt, Aufsätze zu einem vorgegebenen Thema schreiben zu müssen, aber das Neue an diesen Workshops war, dass das Schreiben spielerisch war und das Thema meist von den Teilnehmern selbst gewählt wurde. Es kam auch dort auf Regeln an wie Einleitung, Hauptteil und Schluss, aber wir lernten, dass es beim Schluss nicht darum geht, das bereits Gesagte zusammenzufassen, sondern wir lernten, wie man gut endet (ebenso wenig, wie das Schreiben der ersten Sätze in der Schule beigebracht worden war, von anderen Aspekten des Schreibhandwerks ganz zu schweigen). Wir mussten auch unter Zeitdruck schreiben, aber es kam nicht darauf an, dass das Geschriebene lesbar war (Handschrift 5 drohte auf dem Zeugnis). Und da war kein Lehrer, der uns die Lust am Schreiben, die Spontaneität, durch das subjektive Bewerten des sprachlichen Ausdrucks und der Ausführung vergällte. Denn nicht der Dozent allein bewertete, sondern die Texte wurden in der Gruppe kritisch besprochen. Die Teilnehmer tauschten Erfahrungen und Erkenntnisse aus, und so entstand eine Gruppendynamik, die das Schreiben beflügelte. Und die Cluster-Methode half auch unerfahrenen Teilnehmern, Texte zu den vorgegebenen Themen zu verfassen. Ich hätte zum Beispiel sonst nie eine Geschichte über einen Leuchtturm schreiben können oder über eine Popcornverkäuferin. Ehrlich gesagt, wäre ich gar nicht auf die Idee gekommen, darüber etwas zu schreiben.

Über das Clustering


Rico erzählt, wie sie das Verfahren des Clusterings entdeckte:
Als ich 1973 in Stanford mit meiner Doktorarbeit [Metaphor and Knowing] begann, stieß ich zufällig auf einen Artikel* des Neurochirurgen Joseph E. Bogen, in dem dieser sich mit der Frage auseinandersetzt, welche Zusammenhänge zwischen den unterschiedlichen Funktionsweisen der beiden Gehirnhälften und der Kreativität bestehen. (…)
Das Buch The Hidden Order of Art des Psychiaters Anton Ehrenzweig, das ich zu jener Zeit las, enthält ein kompliziertes, an eine Straßenkarte erinnerndes Schaubild, mit dem Ehrenzweig verdeutlichen will, was bei einer schöpferischen Ideensuche in unserem Gehirn geschieht. Als ich darüber nachdachte, wie man einen solchen Suchprozess auf dem Papier darstellen könnte, und dabei verschiedene Möglichkeiten durchspielte, stieß ich auf das Verfahren, das ich Clustering genannt habe. Beim Betrachten von Ehrenzweigs Schema schrieb ich das erste Wort, das mir in den Sinn kam, in die Mitte eines leeren Blattes, zog einen Kreis darum und fügte, wie elektrisiert durch die Gedankenverbindungen, die sich in meinem Kopf um diesen Mittelpunkt herum sammelten und in alle Richtungen ausstrahlten, immer neue Einfälle, Assoziationen zu diesem einen Wort hinzu. (S. 8-9)

* Bogen, J. E., & Bogen, G. M. (1969): „The Other Side of the Brain III: The Corpus Callosum and Creativity“. In Bulletin of the Los Angeles Neurological Societies, 34, pp. 191–220.

Die beiden Gehirnhälften


Das Clustering beruht auf der Erkenntnis, dass die beiden Gehirnhälften die gleichen Informationen auf unterschiedliche Weise verarbeiten: Die linke Hälfte steuert das begriffliche Denken, die rechte das bildliche, wobei das begriffliche Denken an die Sprache gebunden ist und das rationale, logische Darstellen der Wirklichkeit, das Einteilen in Einzelheiten, die genau bezeichnet werden können, und die Fähigkeit, Gedanken auszudrücken bedeutet. Es behindert das schöpferische Denken, denn es kontrolliert, wertet, kritisiert und zensiert dessen Einfälle bis zur Schreibblockade. Das bildliche Denken hingegen aktiviert die Kreativität und führt zu selbständigem Denken und zum Ausbrechen aus gewohnten Mustern.

Schon Friedrich Schiller beschreibt in seinem Brief vom 1. 12. 1788 an Christian Gottfried Körner, der sich in seinem Brief vom 24. 11. 1788 über die „Furcht vor der Stümperei” und die mangelnde „Fruchtbarkeit“ seines Tuns beklagte und meinte, er „tauge vielleicht besser für Gegenstände, wobei Scharfsinn und ein gewisses Gefühl für Zweckmäßigkeit erfordert wird. (…) Kunstgefühl ist bei bei weitem noch nicht Kunsttalent, und schon mancher hat durch diese Verwechselung seine wahre Bestimmung verfehlt“, die Gefahr der Kreativitätsblockade und empfiehlt ihm die Methode des freien Einfalls:
Der Grund Deiner Klagen liegt, wie mir scheint, in dem Zwang, den Dein Verstand Deiner Imagination auflegte. Ich muß hier einen Gedanken hinwerfen und ihn durch ein Gleichniß versinnlichen. Es scheint nicht gut und dem Schöpfungswerke der Seele nachtheilig zu sein, wenn der Verstand die zuströmenden Ideen, gleichsam an den Thoren schon zu scharf mustert. Eine Idee kann, isoliert betrachtet, sehr unbeträchtlich und sehr abenteuerlich sein, aber vielleicht wird sie durch eine, die nach ihr kommt, wichtig; vielleicht kann sie in einer gewissen Verbindung mit anderen, die vielleicht ebenso abgeschmackt scheinen, ein sehr zweckmäßiges Glied abgeben: – alles dies kann der Verstand nicht beurtheilen, wenn er sie nicht so lange festhält, bis er sie in Verbindung mit diesen anderen angeschaut hat. Bei einem schöpferischen Kopfe hingegen, däucht mir, hat der Verstand seine Wache vor den Thoren zurückgezogen, die Ideen stürzen pêle-mêle [franz. = Buntes Durcheinander, Mischmasch] herein, und alsdann erst übersieht und mustert er den großen Haufen.
Beim begrifflichen Denken hat die Sprache die Aufgabe, zu benennen, sich wortwörtlich auszudrücken und Wörter zu Sätzen zu bilden, beim bildlichen Denken löst sie Assoziationen wie Erinnerungen und Sinneseindrücke aus und geht über die wortwörtliche Bedeutung hinaus. Ihr begriffliches Denken deutet beispielsweise das Wort Zeit lexikalisch und lässt Sie einen Gebrauchstext verfassen, Ihr bildliches Denken sieht den Ablauf der Zeit in Ihrem Leben, die Gefühle, die Sie damit verbinden, und lässt Sie einen literarischen Text über die Zeit schreiben.

Rico führt ein dazu ein eindrucksvolles Beispiel an:
Billy ging in die sechste Klasse. Seine Lehrerin wiederholte den Stoff der letzten Mathematikstunde und forderte ihn auf, das Unendliche zu definieren. Billy rutschte auf seinem Stuhl hin und her, rückte aber nicht mit der Sprache heraus.
Die Lehrerin wurde ungeduldig. „Also komm schon, Billy, was ist Unendlichkeit?” Er blickte zu Boden.
Verärgert wiederholte sie ihre Aufforderung, woraufhin er murmelte: „Die Unendlichkeit ist sowas wie ‘ne Schachtel Cream of Wheat [Markenname eines in den USA sehr beliebten Instant-Frühstückbreis für Kinder, jmw].”
„Red keinen Unsinn!” fuhr sie ihn an und rief Johnny auf, der darauf brannte, sein Wissen loszuwerden.
„Das Unendliche ist unermeßlich und grenzenlos in Raum, Zeit oder Menge”, erklärte er. Die Lehrerin war zufrieden. War es doch die einzig richtige Antwort, die sie sich vorstellen konnte.
Und genau das ist der Haken. Billy hatte mit einem komplexen Bild der rechten Gehirnhälfte geantwortet. (…) Als man ihm später etwas verständnisvoller zuhörte, konnte er sein Bild erläutern: „Auf einer Schachtel Cream of Wheat ist ein Mann drauf, der hat eine Schachtel Cream of Wheat in der Hand mit einem Mann drauf, der eine Schachtel Cream of Wheat in der Hand hat – und das geht immer und immer so weiter, auch wenn man es nicht mehr sieht. Ist das nicht Unendlichkeit?” (S. 64)
Beim Clustering werden beide Gehirnhälften aktiviert und verbunden. Das Bewusste und das Unbewusste verbinden sich.
In der Pubertät gewinnt die linke Gehirnhälfte, also das begriffliche Denken, die Oberhand. Die Schule fördert iese Entwicklung dadurch, dass sie dieses Denken belohnt, ja, es wird bereits im Vorschulalter gedrillt: Die Schüler sollen auf ein Leben vorbereitet werden, das ihnen ermöglicht, als nützliches Mitglied der Gesellschaft aktiv am Wirtschaftsleben teilzunehmen. – Der Jurist Gerhard Huhn wirft dem deutschen Bildungssystem in seiner Studie Kreativität und Schule sogar Verfassungswidrigkeit vor, weil es vor allem die Entwicklung der linken Hirnhälfte fördere und die der rechten Gehirnhälfte vernachlässige (SPIEGEL vom 13. 4. 1992). – Jugendliche, deren bildliches Denken weiter vorherrscht, werden oft als Träumer belächelt und ausgegrenzt. Auch deshalb hören so viele junge Menschen, die als Kinder begeistert Geschichten erfanden und das nicht nur, um ihre Ängste zu verarbeiten – wenn sich nachts Bäume in Monster verwandeln oder der schwarze Mann um die Ecke späht –, und sie aufschrieben, sobald sie Buchstaben malen konnten, auf zu schreiben. Manche Menschen haben allerdings Glück: Ihr Talent wird früh erkannt und gefördert, oder sie finden jemanden, der die Liebe zum Schreiben wieder weckt. Und manchmal ist das literarische Talent stärker als alle Hindernisse und setzt sich durch. Per Olov Enquist sagt dazu in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen:
Ich glaube, es gibt in allen Menschen einen oft unterschätzten Drang, Künstler zu sein. In einigen existiert er ganz stark und bricht sich seinen Weg, andere haben keine Möglichkeit, ihm nachzugehen.
– Doch wie viele Jahre verschwenden diese Menschen, bis sie aus der Außenseiterrolle ausbrechen und ihrer inneren Stimme folgen. –

Für Dorothea Brande sind die „beneidenswertesten Schriftsteller”
jene, die, häufig unbeabsichtigt und unbewußt, der Tatsache Rechnung tragen, daß ihr Wesen verschiedene Seiten hat, und die in ihrer Arbeit und in ihrem Leben mal der einen, mal der anderen Seite den Vorzug geben. (Zitiert nach Rico, S. 79)
Rico schreibt dazu:
Dorothea Brande wäre sicherlich erstaunt gewesen, wenn sie erfahren hätte, wie genau ihre 1934 postulierten metaphorischen „Ichs“ – der „Künstler“ und der „Kritiker“ – modernsten Erkenntnissen der Hirnforschung entsprechen.
Das Clustering liefert Ideen für alle Art von Texten – ob Geschäftsberichte, Werbung, Webtexte oder Romane –, es wird bei der Selbstanalyse, beim autografischen Schreiben und in der Poesietherapie angewandt, dem Schriftsteller bietet es aber die Chance, etwas für ihn Neues, Überraschendes, zu schreiben. Für mich war es das Tor zu vielen, vielen Gedichten und Geschichten.

Wie funktioniert das Clustering? 


Nach soviel Theorie endlich zur Praxis:  Schreiben Sie das Wort, um das es Ihnen geht (oder mehrere Wörter, zum Beispiel ein Sprichwort oder eine Gedichtzeile) – das Kernwort – in die Mitte eines Blatts Papier und kreisen Sie es ein. Der Kreis ist wichtig, denn er ist, wie Rico schreibt, anders „als die von Menschen geschaffenen Quadrat- und Rechteckformen, die uns von der Wiege bis zur Bahre ‚einschachteln’ (…), eine natürliche, fließende, organische Form“, die in den „Riten vieler Völker eine besondere Rolle spielt – ursprünglich als Kreis, den Zuhörer und Zuschauer um Geschichtenerzähler, Tänzer und Priester bildeten”. Er „ist auf einen Mittelpunkt bezogen, er konzentriert, bündelt” (S. 42). Im Gegensatz zum Mind-Map gibt es für das Clustering noch keine Software, Sie müssen das Cluster also ganz altmodisch auf einem Blatt Papier erstellen und nicht im Rechner. Aber ich glaube eh, dass man kreativer ist, wenn man die Wörter mit der Hand schreibt und Kreise darum malt.

Lassen Sie Ihre Gedanken um das Wort kreisen [sic!] und schreiben Sie dann weitere Wörter, die Ihnen dazu einfallen – Gefühle, Personen, Filmtitel was auch immer –, wiederum in Kreise und verbinden Sie alle Wörter mit Strichen. Fällt Ihnen etwas anderes ein, verbinden Sie das neue Wort mit dem Kernwort und notieren dazu Ihre Einfälle. Sie werden sehen, wie sich jede Menge Wörterketten bilden. Sie können auch ein Widerspruchscluster, zum Beispiel zu kalt/heiß, Frau/Mann oder alt/jung, bilden. Dazu schreiben Sie zwei Kernwörter auf die Seite und notieren zu jedem Ihre Assoziationen.

Es geht nicht darum, wahllos Wörter aufzuschreiben, sondern zu jeder Assoziation neue Assoziationen zu finden. Vergessen Sie alle Logik, lassen Sie Ihre Einfälle sprudeln. Vergessen Sie auch die Schere im Kopf, haben Sie Mut zu ungewöhnlichen Gedanken, denn alles ist erlaubt. Denken Sie nicht darüber nach, was Sie da so schreiben, und konzentrieren Sie sich nicht, damit nicht Ihr begriffliches Denken Oberhand gewinnt, was oft geschieht, wenn man zum ersten Mal clustert. Doch suchen Sie nicht verzweifelt nach Einfällen. Wenn der Kopf leer bleibt oder Sie Widerstand spüren, weil das begriffliche Denken zu stark wird, betrachten Sie das Cluster, vielleicht fällt Ihnen zu den anderen Wörtern etwas ein, oder spielen Sie ein bisschen, malen zum Beispiel die Kreise mit den wichtigen Wörtern aus, bis Sie die Blockade überwunden haben.

Nach spätestens fünf Minuten entsteht aus dem Chaos ein Muster und Sie beginnen zu schreiben. Achten Sie dabei nicht auf Satzbau oder Rechtschreibung, das hemmt nur den Schreibfluss. Feilen können Sie später. Meist wird Ihnen ein Text einfallen, der geschlossen, der rund [sic!] ist – der Anfang wiederholt sich im Ende. Sie müssen nicht jedes Wort berücksichtigen, sondern nur die Wörter, die wichtig sind, schließlich sieht niemand das ursprüngliche Cluster. Sie werden merken, wie die Wörter aus Ihnen fließen und wie dabei jedes Zeitgefühl verloren geht.

Für Rico ist das ein „gefrorener Moment” (S. 97). Für Alastair Reid ist das der Augenblick, da „tiefstes Erstaunen die Sinne durchzuckt, wie eine Flamme. (…) In diesem Moment des Innewerdens fängt das Wort Feuer, entzündet ein weiteres, und bald lodert beim Schreiben ein Steppenbrand über die Seiten” (zitiert nach Rico, S. 97). Auch Sie werden überrascht, manchmal sogar bestürzt sein über das, was aus Ihnen entsteht. Aber das ist natürlich, ja sogar erwünscht.

Die Methode ist auch nützlich beim Entwerfen von Figuren: Nehmen Sie den Namen der Figur, zu der Sie mehr wissen wollen, als Kernwort und sammeln Sie dazu die Assoziationen wie Stärken und Schwächen der Figur oder ihr Verhalten in bestimmten Situationen. Auch Einzelheiten der Handlung lassen sich auf diese Weise erforschen. Sie können mit dem Clustering auch Probleme lösen, die Sie hindern, an Ihrem Text weiterzuarbeiten: Fassen Sie sie in einem Wort oder in mehreren Wörtern zusammen und nehmen Sie diese als Ausgangspunkt. Wenn Sie immer noch nicht weiterkommen, wählen Sie einen anderen Begriff für Ihr Problem. Und nicht zuletzt hilft das Clustern bei Schreibblockaden (siehe http://juttas-schreibtipps.blogspot.de/2007/11/die-angst-vor-dem-weien-blatt-papier-iv.html) – Sie sehen, den Möglichkeiten sind keine Grenzen gesetzt. –

Auf eine Gefahr muss ich jedoch nachdrücklich hinweisen: Das Unterbewusstsein kann Erinnerungen und Gefühle sichtbar werden lassen, die besser verborgen geblieben wären. Gerade für Anfänger kann das gefährlich werden, obwohl er lernen muss, sich mit seinem Inneren auseinanderzusetzen. Hören Sie sofort auf zu clustern, wenn Sie die aufkommenden Gefühle zu überwältigen drohen.

Beispiel


Ich möchte Ihnen das Clustering am Beispiel Hexe zeigen. Sie sehen, wie weit die Assoziationen führen, ohne dass alle in dem Gedicht verwendet werden.


Ich bin die schreibende hexe
mit dem sanften lächeln auf den lippen
Ich bin im irgendwo zuhaus.
Ich habe 1000 x gelebt
1001 x gedacht
1002 x widersprochen
1003 männer haben mich begehrt
und hatten alle vor mir angst
Sie haben mich geteert
gefedert
verbrannt –
habt ihr mein triumphierendes lachen gehört?
Ich bin unbesiegbar
unzerstörbar
unbeirrbar
Ich bin jünger als der jüngste tag
und mein wissen ist älter als die zeit
Ich bin urmutter und urvater
erde und mond
allumfassend
alles verstehend
mit blutigen tränen
Ihr erkennt mich
an meinem sanften lächeln auf den lippen

Dienstag, 5. Februar 2013

Der Ritt in den Sonnenuntergang (Über das Happy End)



Wir sind zerschmettert und nicht nur zum Scheine!
Der einzige Ausweg wär aus diesem Ungemach:
Sie selber dächten auf der Stelle nach
Auf welche Weis dem guten Menschen man
Zu einem guten Ende helfen kann.
Verehrtes Publikum, los, such dir selbst den Schluß!
Es muß ein guter da sein, muß, muß, muß!
Bertolt Brecht, Der gute Mensch von Sezuan, 1986, S. 107

Und wieder schloß der glückliche Anton die Geliebte in seine Arme.
Gustav Freytag, Soll und Haben, 1858, S. 404

»Jedes Pärchen / glaubt das Märchen: Liebe hat ewig Bestand«, singt Lilian Harvey in dem Lied Das gibt's nur einmal aus dem Film Der Kongress tanzt, und in vielen, ach zu vielen Geschichten haucht sie zum Schluss »Ja!«, glaubt endlich, dass in ihr die »wundersame Leidenschaft« durchgebrochen sei, »die bis jetzt gleich einem rosigen Phönix im Ätherglanz eines poetischen Himmels geschwebt hatte«* (Gustave Flaubert: Madame Bovary: oder Eine Französin in der Provinz (Madame Bovary: Moeurs de Province = Sitten der Provinz; Sittenbilder aus der Provinz), 1858, S. 58) und hört die Hochzeitsglocken klingen (oder sollte ich besser sagen dröhnen?). Und viele, ach zu viele Leserinnen warten auf den »Ritter auf schwarzem Rosse mit weißer, wogender Feder auf dem Sammtbarrete« (S. 54); der sie auf sein Pferd, an sein Herz und in sein Schloss nimmt, und an die unsterbliche Liebe.

* Laut einer neueren Übersetzung, die ich aber nicht gerade gelungen finde »sei jene wunderbare Leidenschaft (…) erstanden, die bisher nicht anders als ein Riesenvogel mit rosigem Gefieder hoch in der Herrlichkeit himmlischer Traumfernen geschwebt hatte« (Frau Bovary, 2012, S. 40; das Original sowie Übersetzungen in Deutsch, Englisch, Russisch und Spanisch gibt es hier.)

Das ist zu schön, um wahr zu sein


Aber Lilian Harvey singt weiter: »Doch du weißt es, / einmal heißt es: / Reich mir zum Abschied die Hand. / Dann ist der Himmel nicht mehr blau, dann weißt du’s ganz genau. / Das gibt’s nur einmal, / das kommt nicht wieder, das ist zu schön, um wahr zu sein.«

Auch die arme Bovary muss erfahren (und wir mit unseren vernarbten Herzen wissen), dass die kitschigen Bilder trivialer Romane nicht das wahre Leben spiegeln, dass das Happy End verlogen ist und nichts als ein Klischee. Schließlich schießt der gute Amor mit Pfeilen und nicht mit Rosen auf seine Opfer. Nur O-Bein-Romane (sie sind zusammen, werden durch die ach so böse Umwelt getrennt und kommen am Ende durch eine gnädiges Schicksal wieder zusammen), bei denen mit den immer gleichen Worten, den immer gleichen breitgetretenen Metaphern, immer dasselbe Thema (er reich, sie arm) einfallslos geschildert wird, enden immer mit einem Happy End, weil die Leserinnen das erwarten.

Aber nicht nur romantische Leserinnen erwarten ein Happy End. John Irving lässt in Eine Mittelgewichtsehe (The 158-Pound Marriage) seinen Helden erzählen: »Ich sah nie ein fertig gelesenes Buch in seinem Haus. Er sagte mir einmal, die Schlüsse aller Bücher stimmten ihn überwältigend traurig«. Andere Leser wiederum lesen nicht Seite für Seite, wie sich das gehört, sondern überfliegen vorher die letzten Seiten, weil sie wissen wollen, ob das Schicksal des Helden, mit dem sie bangen, mit dem sie lachen und weinen, gut ausgeht. Wenn das nicht der Fall ist, lesen sie nicht weiter.

Schlüsse stimmen aber nicht nur traurig, weil das Schicksal der Heldin schlecht ausgeht, sondern auch, weil der Leser mit dem Ende des letzten Satzes das Gefühl hat, einen Freund zu verlieren. Er sollte sich mit den Anfangszeilen aus Brigitta Weiss’ Gedicht An einen ICE-Mann im Wagen 12 trösten:
Wir beide lesend, angekommen ich
gerade auf dem allerletzten Blatt.
Ob es nicht etwas Trauriges stets hat,
wenn Bücher enden? Fragtest du dann mich.
Ich sagte, nein, mein Leben reiche nicht,
um alle guten Bücher noch zu lesen.

Über Tante Frieda und Onkel Franz


Wir belächeln diese armen Leser, die keine Geschichten lesen mögen, in denen auf der letzten Seite Menschen, die einander einst liebten, gestorben am gebrochenen Herzen oder erschossen von einem eifersüchtigen Liebhaber im Grabe liegen oder sich miteinander langweilen und auseinandergehen. Doch sind es wirklich nur Tante Frieda oder Onkel Franz in uns, die hoffen, dass das Buch glücklich endet? Aristoteles schreibt in der Poetik (Ecce Opera), dass die Guten belohnt und die Bösen bestraft werden, da das
der Schwäche des Publikums entgegenkommt. Denn die Dichter richten sich nach den Zuschauern und lassen sich von deren Wünschen leiten. (…) Denn dort treten die, die in der Überlieferung die erbittertsten Feinde sind, wie Orestes und Aigisthos, schließlich als Freunde von der Bühne ab, und niemand tötet oder wird getötet.
Was ist das anderes als ein Happy End?

Jeder Mensch erlebt Krisen – ohne Krisen kein Glück –, überwindet sie und wird wieder glücklich (oder zumindest zufrieden). Weshalb sollen Schriftsteller nicht darüber schreiben? Ist es Kitsch, wenn der Held gefallen ist und wieder aufgestanden? Gilt ein Buch nur dann als gute Literatur, wenn der Held scheitert und es mit einer Katastrophe endet? Hatten Goethe in Wilhelm Meisters Lehrjahre (nachdem diverse (Neben-)Figuren gestorben waren, die sich der Leser ohnehin nicht alle merken konnte), Shakespeare oder Boccaccio, die (auch) zu einem guten Ende gekommen sind, keine Ahnung vom Leben?

(Der Schluss vom Wilhelm Meister lautet übrigens:
»Nicht gezaudert!« rief Friedrich. »In zwei Tagen könnt ihr reisefertig sein. Wie meint Ihr, Freund«, fuhr er fort, indem er sich zu Wilhelmen wendete, »als wir Bekanntschaft machten, als ich Euch den schönen Strauß abforderte, wer konnte denken, daß Ihr jemals eine solche Blume aus meiner Hand empfangen würdet?«
»Erinnern Sie mich nicht in diesem Augenblicke des höchsten Glücks an jene Zeiten!«
»Deren Ihr Euch nicht schämen solltet, so wenig man sich seiner Abkunft zu schämen hat. Die Zeiten waren gut, und ich muß lachen, wenn ich dich ansehe: du kommst mir vor wie Saul, der Sohn Kis [siehe http://bibeltext.com/1_samuel/9-3.htm], der ausging, seines Vaters Eselinnen zu suchen, und ein Königreich fand.«
»Ich kenne den Wert eines Königreichs nicht«, versetzte Wilhelm, »aber ich weiß, daß ich ein Glück erlangt habe, das ich nicht verdiene, und das ich mit nichts in der Welt vertauschen möchte.«)
Doch, die Meister hatten. Sie wussten jedoch, wann das Happy End angebracht ist: nämlich dann, wenn ein Konflikt damit beendet wird oder eine Krise besonders gefährlich war, wenn das gute Ende psychologisch begründet werden kann.

Das Happy End muss schlüssig und objektiv möglich sein, es darf keine Flucht in eine Idylle bedeuten.
Sie dürfen ein Happy End, zumindest ein kleines, auch anbieten, wenn Sie bei einem schweren Thema trotz aller Hoffnungslosigkeit im Großen einen Lichtschimmer im Kleinen, im Persönlichen, zeigen – wenn Sie Ihren Leser mit dem Text versöhnen möchten, damit er nicht in einem Tränenmeer versinkt oder nach vielen Stunden Lektüre den Kopf hängen lässt und sich fragt, weshalb er sich das angetan hat, wo er sich doch mit Sinnvollerem hätte beschäftigen können, wie Familien im Brennpunkt gucken oder den Rasen mähen oder endlich die Steuererklärung fertig stellen.

Sie können auch die Heldin zum Schluss zwar »Ja« hauchen, das Läuten der Hochzeitsglocken aber nur anklingen lassen. Der Vorhang muss nicht endgültig fallen. Cecil Scott Forester wählte solch ein Ende für African Queen:
So verließen sie also den See und begannen eine weite Reise in Richtung Matadi und Heirat. Ob sie fortan immer glücklich und in Frieden zusammenlebten oder nicht, ist schwer zu sagen.
Im Gegensatz zu vielen, vielen anderen Autoren ist nicht die Heldin im Besitz der wunderbaren Leidenschaft, sondern der Held, Charlie Allnutt, sagt: »In Ordnung, Rosie, wir tun’s.« Spielen Sie also auch mit den Möglichkeiten: Verwandeln Sie die Heldin in einen Helden und umgekehrt – warum nicht zwei Frauen oder zwei Männer? –, entgehen Sie so dem Klischee.

Eines müssen Sie jedoch bedenken: Ein klischeefreies, unsentimentales Happy End ist viel schwieriger zu schreiben als ein schlechter Ausgang. Alle Liebesgeschichten balancieren auf dem schmalen Grad zwischen Kitsch und Kunst.

Deus ex Machina


Doch auch dieses kleine Happy End müssen Sie begründen. Sie dürfen nicht, wie so manche Trivialautoren, wenn sie mit ihrem Text festhängen, einen Deus ex Machina (lat: Gott aus der Maschine) aus dem Hut zaubern, der plötzlich alles zum Guten wendet und alle Rätsel für den Leser löst, wie zum Beispiel eine unerwartete und unbegründete Liebeserklärung, sechs Richtige plus Zusatzzahl im Lotto oder Erbtante Paula, einen Deus, der einen Saulus durch ein unerwartetes Ereignis in einen Paulus verwandelt.

Im griechischen Schauspiel griff in völlig verfahrenen Situationen ein durch eine von dem griechischen Mechaniker Heron entwickelte kranähnliche Maschine auf die Bühne herabgelassener Gott ein. Er rettete oder verdammte die Menschen ganz nach Belieben und löste so die dramatischen Verwicklungen. Ein berühmtes Beispiel findet sich in Iphigenie in Tauris von Euripides: Die Göttin Pallas Athene erscheint im letzten Augenblick über dem Tempel, um Iphigenie und Orest vor der Bestrafung des taurischen Königs Thoas zu retten. Sie gebietet ihm innezuhalten, da alles einem göttlichen Plan folge, und der König gehorcht. Und so endet die Tragödie ganz untragisch mit einem glücklichen Ende.

Solch eine Lösung ist aber meist unglaubwürdig und macht einen Text trivial. Denn es ist
offenkundig, daß auch die Lösung der Handlung aus der Handlung selbst hervorgehen muß (...) und nicht aus dem Eingriff eines Gottes. Vielmehr darf man den Eingriff eines Gottes nur bei dem verwenden, was außerhalb der Bühnenhandlung liegt, oder was sich vor ihr ereignet hat und was ein Mensch nicht wissen kann, oder was sich nach ihr ereignen wird und was der Vorhersage und Ankündigung bedarf – den Göttern schreiben wir ja die Fähigkeit zu, alles zu überblicken. (Aristoteles, Poetik)
Umgekehrt dürfen ein Unfall, ein Orkan oder ein Erdbeben nicht plötzlich die Situation ins Negative verwandeln.

Aus Schriftstellers Schreibstube


Martin Walser erzählt in einem Interview mit dem Tagesspiegel (»Ich fluche nicht, ich werfe weg«), dass ihn zwei Leser des Vorabdrucks in der FAZ gebeten hätten, seinen Roman Lebenslauf der Liebe nicht »unglücklich enden zu lassen. Der eine schrieb: ›Ich ahne schon, das kann nicht gut ausgehen, aber ich bitte Sie, heiliger Martin, lassen Sie das nicht zu.‹« Er habe dann auch ein Happy End geschrieben, jedoch nicht, weil die Leser das gefordert hätten, sondern das habe
sich so aber ergeben, Gott sei Dank. Denn ich hätte es nicht willkürlich erschreiben können. Ich versuche jedoch immer das glücklichste Ende herauszuarbeiten, das für eine Romanmasse möglich ist, ohne dass ich fälsche. Ich bin ja selbst so verlangt, dass ich an einem guten Ausgang interessiert bin.
Und der lautet folgendermaßen:
Conny stand dicht bei ihnen, Susi spürte sie, dann sagte Conny zu ihr und Khalil herauf: Mer blewe zusamm wie Kätzke und Tätske bes zom Lewesjottsdach. Susi nickte, konnte sich aber so lange es blitzte und knallte und läutete nicht regen und sich schon gar nicht von Khalil lösen. Und er sich offenbar auch nicht von ihr. Conny sagte zu ihnen herauf: Ich liebe euch beide. Jetzt lösten beide ihre Münder voneinander, ohne ihre Arme voneinander zu lassen, und sagten beide zugleich zu Conny hin: Und wir erst dich.

Dickens und die Großen Erwartungen

Die viktorianischen Schriftsteller waren sogar gezwungen, sich einen glücklichen Ausgang ausdenken, weil Verleger und Leser das verlangten, und hatten deshalb manchmal Probleme, den richtigen Schluss zu finden. Damals galt sogar das ganze letzte Kapitel als wind-up (Ausklang). Henry James beschreibt es in The Art of Fiction als die »Verteilung von Preisen, Renten, Ehemännern, Ehefrauen, Babys, Millionen, hinzugefügten Absätzen und vergnügten Bemerkungen zum Schluß«:
One would say that being good means representing virtuous and aspiring characters, placed in prominent positions; another would say that it depends for a »happy ending« on a distribution at the last of prizes, pensions, husbands, wives, babies, millions, appended paragraphs and cheerful remarks.
(Longman's Magazine, 4, 1884, S. 180f., reprinted in Henry James Partial Portraits, 1888; siehe dazu auch Burkhard Niederhoff: Erzähler und Perspektive bei Robert Louis Stevenson, 1994, S. 177)
Bei Charles Dickens war es dessen sehr bewunderter und respektierter Freund Edward Bulwer-Lytton, der ihn überredete, das Ende des Romans Große Erwartungen (Great Expectations, Dowload-Möglichkeit hier) umzuschreiben, weil der Leser sich nach einem positiven Ausgang eines Romans sehnen. Dabei wollte sich Dickens nur bei ihm entspannen, nachdem er die letzten Kapitel endlich an den Drucker geschickt hatte. Aber warum auch immer hatte er beschlossen, seinem Gastgeber diese Kapitel zu zeigen (siehe dazu unter anderem http://exec.typepad.com/greatexpectations/the-two-endings.html).

Schade, denn der neue Schluss ist nicht gerade beeindruckend:
Ich faßte ihre Hand mit der meinigen, und wir verließen die verfallene Stätte; und wie der Morgennebel aufgestiegen, als ich vor langer Zeit die Schmiede verlassen, so stieg jetzt der Abendhimmel auf, und in dem weiten Raume stillen Lichtes, den derselbe mich schauen ließ, gab es keinen Schatten des Scheidens von ihr mehr.
(Boz [Charles Dickens]: Grosse Erwartungen, 1862, S. 143)
I took her hand in mine, and we went out of the ruined place; and, as the morning mists had risen long ago when I first left the forge, so, the evening mists were rising now, and in all the broad expanse of tranquil light they showed to me, I saw no shadow of another parting from her.
(http://www.literature.org/authors/dickens-charles/great-expectations/chapter-59.html; zu »I saw no shadow of another parting from her« siehe http://exec.typepad.com/greatexpectations/the-two-endings.html und http://www.digitaldickens.com/content.php?id=26)
Der Schlusssatz, den Bulwer Lytton las und der zu Lebzeiten Dickens’ nie gedruckt wurde, lautete hingegen:
I was very glad afterwards to have had the interview; for, in her face and in her voice, and in her touch, she gave me the assurance, that suffering had been stronger than Miss Havisham’s teaching, and had given her a heart to understand what my heart used to be.
(http://exec.typepad.com/greatexpectations/the-two-endings.html)
Dickens rechtfertigt die Änderung in seinem Brief vom 23. 6. 1861 an seinen Freund Wilkie Collins:
Bislang kam ich kaum in den Genuss der ausgiebigen Faulheit. Bulwer war so sehr darauf bedacht, dass ich das Ende verändere (…), und erklärte seine Gründe so gut, dass ich das Rad wieder aufgenommen und ihm eine andere Wendung gegeben habe. Insgesamt denke ich, dass es so besser ist.

As yet, I have hardly got into the enjoyment of thorough laziness. Bulwer was so very anxious that I should alter the end (…) and stated his reasons so well, that I have resumed the wheel, and taken another turn at it. Upon the whole I think it is for the better.

Goethe und Stella

Goethe schrieb den Schluss seines Stück Stella: Ein Schauspiel für Liebende aus dem Jahr 1775, das happy endet (»Selig eine Wohnung. Ein Bett und ein Grab«, S. 74), rund dreißig Jahre später um, nachdem moralische Proteste und Aufführungsverbote in Hamburg und bald darauf in Berlin per Polizeidekret gefolgt waren. Hatte der junge Goethe doch durchblicken lassen, dass man auch zu dritt glücklich werden kann! In der zweiten Fassung von 1803 für eine Aufführung am Weimarer Hoftheater wurde daraus ein Trauerspiel mit tödlichem Ausgang: Fernando erschießt sich (Fernando »hat mit der linken Hand ein Pistol ergriffen und geht langsam ab. (…) Es fällt in der Ferne ein Schuss«), Stella nimmt Gift, und das Stück endet mit: »Stella (sinkend) ›Und ich sterbe allein.‹« (S. 40) Denn, so Goethe:
(…) allein bey aufmerksamer Betrachtung kam zur Sprache, daß nach unsern Sitten, die ganz eigentlich auf Monogamie gegründet sind, das Verhältniß eines Mannes zu zwey Frauen, besonders wie es hier zur Erscheinung kommt, nicht zu vermitteln sey, und sich daher vollkommen zur Tragödie qualificire. Fruchtlos blieb deshalb jener Versuch der verständigen Cecilie, das Mißverhältniß in’s Gleiche zu bringen.
(»Ueber das deutsche Theater«. Morgenblatt für gebildete Stände, 10./11. 4. 1815, S. 339; den ganzen Jahrgang von 1815 kann man hier online lesen oder als PDF kostenlos herunterladen – es lohnt sich.)
Die Wirkung des neuen Endes bei der Aufführung in Leipzig am 12. 6. 1807 soll nach einer Rezension in der Bibliothek der redenden und bildenden Künste jedenfalls eindeutig gewesen sein: »Man blieb mehrere Minuten in Schwermut versunken auf seinem Stuhle sitzen und nur das Wiederhinaufrollen des vorderen Vorhanges erinnerte an das Aufstehen« (zitiert nach Goethe: Dramen 1791–1832, 1993, S. 1209).

Was tat der Meister eigentlich an jenem Tag? Nun, er war um »6 Uhr am Brunnen«. Beschäftigte sich mit Mineralien.
Nachher dictirt am »Mann von 50 Jahren«. Dann zu Reinhard. Medaillen ausgesucht, trübe Gläser behandelt. Beym Herzog zu Tafel. General [Josef von] Richter und von Seckendorf. Vogelschießen mit Pistolen hinter dem böhmischen Saal. Spatzieren gegen die Carlsbrücke, kamen Augustrofsky [Augustrowski] und Piatti und Kayer [Wilhelm Johann von Blumenstein], welcher blieb. Allerley Spaße. Auf dem Rückweg Fritsch Geschichte: wie Kayer für einen Polen gehalten mit der polnischen Sprache übel bestand. Nach Tische noch zum Herzog hinüber.
(http://www.zeno.org/Literatur/M/Goethe,+Johann+Wolfgang/Tageb%C3%BCcher/1807/Juni)
Doch zurück zum Thema. Wie lautet nun der gute Ausgang?
CEZILIE. Dankst du mir’s, daß ich dich Flüchtling zurückhielt?
STELLA [an ihrem Hals] O du! – –
FERNANDO [beide umarmend]. Mein! Mein!
STELLA [seine Hand fassend an ihm hangend]. Ich bin dein!
CECILIE [seine Hand fassend, an seinem Hals]. Wir sind dein!
(J. W. Göthe: Stella: Ein Schauspiel für Liebende in 5 Akten, 1776, S. 121)

Ibsen und Nora

Henrik Ibsen schrieb einen alternativen Schluss für die Aufführungen seines Theaterstücks Nora oder Ein Puppenheim (Et dukkehjem; A Doll House) in Deutschland, weil sein
Übersetzer und Agent für die norddeutschen Theater, Herr Wilhelm Lange in Berlin, mir mit(teilte), er habe Grund zu befürchten, daß eine andere Übersetzung oder »Bearbeitung« des Stückes [von anderen Autoren, jmw] mit verändertem Schluß* herauskäme und wahrscheinlich von verschiedenen norddeutschen Bühnen bevorzugt würde. (http://www.ibsen.net/index.gan?id=11111793; die norwegische Fassung siehe http://www.ibsen.net/index.gan?id=11111795)
* In der ursprünglichen Fassung verlässt Nora Mann und Kinder, was gegen die herrschenden Moralvorstellungen in Deutschland verstieß.

Ibsen schreibt dazu am 17. 2. 1880 in einem offenen Brief an die Kopenhagener Zeitung Nationaltidende unter anderem:
Diese Änderung habe ich meinem Übersetzer gegenüber selbst als eine barbarische Gewalttat an dem Stück bezeichnet. Es geschieht also ganz gegen meinen Willen, wenn man davon Gebrauch macht. Aber ich hege die Hoffnung, daß die Änderung von recht vielen deutschen Bühnen abgelehnt wird.

Denne forandring har jeg selv til min oversætter betegnet som en «barbarisk voldshandling» imod stykket. Det er altså aldeles imod mit ønske, når der gøres brug af den; men jeg nærer det håb, at den ikke vil blive benyttet ved ret mange tyske theatre. (http://www.ibsen.net/index.gan?id=11111795)
Der Schluss lautet in der Originalversion:
NORA. – daß unser Zusammenleben eine Ehe werden könnte. Leb' wohl! [Geht durch das Vorzimmer ab.]
HELMER [sinkt auf einen Stuhl neben der Tür zusammen und birgt das Gesicht in den Händen.] Nora! Nora! [Sieht sich um und steht auf.] Leer. Sie ist fort! [Eine Hoffnung steigt in ihm auf.] Das Wunderbarste –?
[Man hört, wie unten die Haustür dröhnend ins Schloß fällt.]
In der deutschen Version lautet er:
NORA. ... dass unser Zusammenleben eine Ehe werden könnte. Leb’ wohl. [Will gehen.]
HELMER. Nun denn gehe! [Faßt sie am Arm.] Aber erst sollst Du Deine Kinder zum letzten Mal sehen!
NORA. Laß mich los! Ich will sie nicht sehen! Ich kann es nicht!
HELMER [zieht sie gegen die Thür links]. Du sollst sie sehen. [Öffnet die Thür und sagt leise.] Siehst Du; dort schlafen sie sorglos und ruhig. Morgen, wenn sie erwachen und rufen nach ihrer Mutter, dann sind sie – mutterlos.
NORA [bebend]. Mutterlos...!
HELMER. Wie Du es gewesen bist.
NORA. Mutterlos! [Kämpft innerlich, lässt die Reisetasche fallen und sagt.] O, ich versündige mich gegen mich selbst, aber ich kann sie nicht verlassen. [Sinkt halb nieder vor der Thür.]
HELMER [freudig, aber leise]. Nora!
[Der Vorhang fällt.]
(In Henrik Ibsens Sämtliche Werke, o. J., S. XXIV; die Fassung in englischer Übersetzung siehe hier)
Diese Fassung wurde außerhalb Deutschlands dann auch nur dreimal inszeniert: 1881 am Wiener Stadttheater (die Rezension siehe hier), 1929 in Afrikaans während einer Tournee in Südafrika und 1956 am Reichstheater (Riksteatern) in Stockholm.

(Zu Ibsens Vehältnis zu Übersetzern und Übersetzungen siehe https://www.duo.uio.no/bitstream/handle/123456789/27199/Loschbsen%5B1%5D.pdf?sequence=3)

Keller und der Grüne Heinrich

Gottfried Kellers Urfassung des »öden und ungeschickten Machwerks« (Keller himself Ende 1854 an Ferdinand Freiligrath) Der Grüne Heinrich, die zwischen 1849 und 1855 entstand, wurde nicht nur von Friedrich Kreyssig in Vorlesungen über den deutschen Roman der Gegenwart, 1871, S. 137ff.) kritisiert. Allgemein wurde Keller getadelt wegen der »gewissen Unförmlichkeit« (Vorwort zum Grünen Heinrich, 1854, S. VII) zwischen der bis zu Hälfte des zweiten Bandes in Ich-Form geschriebenen »ganz gewöhnlichen und unbedeutenden Jugend- und Schuljungengeschichte« (Kreyssig, S. 140) und den anderthalb Bänden, die er in der Er-Form geschrieben hat, »dem eigentlichen Roman, worin sein weiteres Schicksal erzählt und die in der Selbstbiographie gestellte Frage gewissermaßen gelöst wird« (Keller, S. VIIf.), sowie dem nicht ganz überzeugenden, dem „zypressendunklen Schluss, wo alles begraben wird« (http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Gottfried_keller_autobiogr_18.jpg), den Keller auf seine berühmten Schreibunterlage »unter Tränen hingeschmiert« hatte (zitiert nach Jahresbericht 1979 der Gottfried Keller-Gesellschaft, S. 14).

Zwanzig Jahre später erstellte Keller dann auch eine zweite Fassung des Romans, in der er
von dem Gedruckten, circa 2 ½ Bände, bleibt, jetzt durchcorrigirt und mit zahlreichen Streichungen verziert [hat]. Nun schreibe ich das, was in der dritten Person erzählt wird, um und lasse es auch von H[einrich] in erster Person erzählen bis zum Tode der Mutter (…).
(Brief vom 25. 6. 1878 an Theodor Storm; in Theodor Storm/Gottfried Keller: Briefwechsel: kritische Ausgabe, 1992, S. 28)
Es war auch Storm, der Keller in seinem Brief vom 15. 6. 1878 zu einem versöhnlicheren Schluss geraten hatte, in dem die Hauptfigur nicht »40, od[er] reichlich, alt sein« könnte, sondern mit 5, 6, od[er] 37 Jahren zurückkehren. »Es ist zu kümmerlich, wenn sie als krankenpflegendes altes Mütterchen wieder kommt. (…) Aber giebt der Tod der Mutter nicht einen öden Schluß (…).« (S. 31)

Keller antwortete am 13. 8. 1878:
Vorzüglich und ohne Scherz aber danke ich auch für die handwerklichen Ratschläge und Winke, die mir gut bekommen. Die Reduktion von Judiths Lebensalter hat mir mit einem Male den Schluß des Gr[ünen] H[einrich] in eine hellere Beleuchtung gesetzt und ich denke jetzt ein freundlicheres Finale zu gewinnen, ohne dem Ernste der ursprünglichen Tendenz Abbruch zu tun. (S. 33)
Nachdem er den Grünen Heinrich dann noch mehrfach überarbeitet hatte (seine Briefe, die Überarbeitungen betreffend, siehe hier), schrieb er schließlich am 21. 10. 1880 an den Schleswiger Regierungsrat Wilhelm Petersen, einem Freund Storms:
Ich gebe heut endlich den Grünen auf die Post und wünsche ihm glückliche Reise und nachsichtigen Empfang. Daß die Judith am Schlusse noch jung genug auftritt, statt als Matrone, wie beabsichtigt war, hat sie Ihren derselben so gewogenen Worten zu danken. Ich wollte mich selbst nochmals am Jugendglanz dieses unschuldigen, von keiner Wirklichkeit getrübten Phantasiegebildes erlustiren. Gern hätte ich sie noch durch einige Scenen hindurch leben lassen; allein es drängte zum Ende und das Buch wäre allzu dick geworden.
Und wie lauten nun die beiden Schlüsse? Der erste, den er schon bei den ersten Aufzeichnungen vor Augen hatte, lautet:
Der Himmel jener Jahre schien dem zuhörenden Heinrich vorüberzuziehen in der blauen wolkenreinen Höhe. Er vermochte aber den lachenden Himmel und das grüne Land nicht länger zu ertragen und wollte zur Stadt zurück, wo er sich in dem Sterbegemach der Mutter verbarg. Die Liebe und Sehnsucht zu Dortchen wachte aufs neue mit verdoppelter Macht auf, seine Augen drangen den Sonnenstrahlen nach, welche über die Dächer in die dunkle Wohnung streiften, und seine Blicke glaubten auf dem goldenen Wege, der zu einem schmalen Stückchen blauer Luft führte, die Geliebte und das verlorene Glück finden zu müssen.
Er schrieb alles an den Grafen; aber ehe eine Antwort dasein konnte, rieb es ihn auf, sein Leib und Leben brach, und er starb in wenigen Tagen. Seine Leiche hielt jenes Zettelchen von Dortchen fest in der Hand, worauf das Liedchen von der Hoffnung geschrieben war. Er hatte es in der letzten Zeit nicht einen Augenblick aus der Hand gelassen, und selbst wenn er einen Teller Suppe, seine einzige Speise, gegessen, das Papierchen eifrig mit dem Löffel zusammen in der Hand gehalten oder es unterdessen in die andere Hand gesteckt.
So ging denn der tote grüne Heinrich auch den Weg hinauf in den alten Kirchhof, wo sein Vater und seine Mutter lagen. Es war ein schöner freundlicher Sommerabend, als man ihn mit Verwunderung und Teilnahme begrub, und es ist auf seinem Grabe ein recht frisches und grünes Gras gewachsen.
Und der versöhnliche Schluss?
Sie schloß mich heftig in die Arme und an ihre gute Brust; auch küßte sie mich zärtlich auf den Mund und sagte leis: »Nun ist der Bund besiegelt! Aber für dich nur auf Zusehen hin; du bist und sollst sein ein freier Mann in jedem Sinne!«
Und so ist es auch zwischen uns geblieben. Noch zwanzig Jahre hat sie gelebt; ich habe mich gerührt und nicht mehr geschwiegen, auch nach Kräften dies oder jenes verrichtet, und bei allem ist sie mir nahe gewesen. Wenn ich den Wohnort verändern mußte, so ist sie mir das eine Mal gefolgt, das andere nicht, aber sooft wir wollten, haben wir uns gesehen. Wir sahen uns zuweilen täglich, zuweilen wöchentlich, zuweilen des Jahres nur einmal, wie es der Lauf der Welt mit sich brachte; aber jedesmal, wo wir uns sahen, ob täglich oder nur jährlich, war es uns ein Fest. Und wenn ich in Zweifel und Zwiespalt geriet, brauchte ich nur ihre Stimme zu hören, um die Stimme der Natur selbst zu vernehmen.
Sie starb, als eine verderbliche Kinderkrankheit herrschte und sie sich mit ihren hilfsbereiten Händen in eine ratlose Behausung armer Leute stürzte, die mit kranken Kindern angefüllt und von den Ärzten abgesperrt war. Sonst hätte sie leicht noch zwanzig Jahre leben können und wäre ebensolang mein Trost und meine Freude gewesen.
Ich hatte ihr einst zu ihrem großen Vergnügen das geschriebene Buch meiner Jugend geschenkt. Ihrem Willen gemäß habe ich es aus dem Nachlaß wiedererhalten und den andern Teil dazugefügt, um noch einmal die alten grünen Pfade der Erinnerung zu wandeln.
(Mehr zu dem Thema siehe hier und auf der wirklich gut gemachten Gottfried-Keller-Homepage, die regelrecht zum Stöbern einlädt.)

– Nun ja, berauschend klingen all diese Änderungen nicht. Sie sind nahezu ein klassisches Argument gegen Happy Ends. –

Vorsicht: Kitsch!


SchreiberInnen von besonders anspruchsloser Literatur wie Schmonzetten und Groschenromane (weitere Synonyme finden sich hier) lieben solche Schlusssätze, weil sie darstellen wollen, wie geradlinig die Wege des Schicksals verlaufen, so geradlinig, dass sich der Titel im Schluss wiederholt:

»Und anstatt die Geliebte in seine Arme zu nehmen und das zweite, das ewige Bündnis, das er mit ihr schloß, durch einen heißen Kuß auf ihre Lippen zu besiegeln, nahm er ihre Hand.
Tief neigte er sich, und voller Ehrfurcht küßte er sie, die heilige, die säende Hand des Weibes – seines Weibes.« (Ida Boy-Ed, Die säende Hand)

»Dagmar war nun längst keine verstoßene Tochter mehr, sondern eine innig geliebte; ein glückseliges Weib und eine ebensoglückliche, stolze Mutter.« (Hedwig Courths-Mahler, Die verstoßene Tochter)

»Jetzt ist der hohe, noch immer schlanke Mann leise eingetreten, er biegt sich über die Korbwanne und betrachtet sein schlafendes Töchterchen.
›Es ist erstaunlich, wie das Kind dir ähnlich sieht, Lenore.‹
Ich springe stolz auf; denn er sagt das mit einem entzückten Blick ... Fort mit der Feder und dem Manuskript! Sie haben keine Farben für den Sonnenblick des Glückes über der Stirn des ›Heideprinzeßchens‹.« (Eugenie Marlitt, Das Heideprinzeßchen)

»Gotthold dachte daran; und dann dachte er an jenen Abend, als er durch die leere Dorfstraße ging und der Gesang der Schwalben ihm Thränen der Wehmuth in die Augen trieb; und wie leer sie ihm gewesen war, und wie ihm jetzt die ganze schöne Welt wie eine Heimath erschien; und er blickte in das dunkle Auge der geliebten Frau und drückte die warme schmale Hand des Kindes, das sein Kind war, und er wußte jetzt, ›was die Schwalbe sang‹.« (Friedrich Spielhagen, Was die Schwalbe sang)

Nachwort


Der geneigte Leser mag entschuldigen, dass ich sozusagen vom Hündchen aufs Stöckchen gekommen bin und der Beitrag für ein Blog viel zu lang geworden ist. Aber ich fand halt alles so spannend, dass ich es unbedingt der interessieren Öffentlichkeit mitteilen wollte.

Wie das so ist beim Recherchieren, man googelt ganz arglos nach einem Wort oder einem Satz und verfängt  sich immer mehr in den Tiefen des Netzes. Sicher gab und gibt es noch viel mehr berühmte Schriftsteller, die zypressentraurige Enden umgeschrieben haben. Aber irgendwann muss auch ich einen Schlussstrich ziehen. Und wer weiß. Schließlich, morgen ist auch ein Tag. (Margaret Mitchell, Vom Winde verweht)

Mittwoch, 16. Januar 2013

Schopenhauer über Lesen und Bücher

Es ist in der Litteratur nicht anders, als im Leben: wohin auch man sich wende, trifft man sogleich auf den inkorrigibeln Pöbel der Menschheit, welcher überall legionenweise vorhanden ist, Alles erfüllt und Alles beschmutzt, wie die Fliegen im Sommer. Daher die Unzahl schlechter Bücher, dieses wuchernde Unkraut der Litteratur, welches dem Waizen die Nahrung entzieht, und ihn erstickt. Sie reißen nämlich Zeit, Geld und Aufmerksamkeit des Publikums, welche von Rechtswegen den guten Büchern und ihren edelen Zwecken gehören, an sich, während sie bloß in der Absicht, Geld einzutragen, oder Aemter zu verschaffen, geschrieben sind. Sie sind also nicht bloß unnütz, sondern positiv schädlich. Neun Zehntel unserer ganzen jetzigen Litteratur hat keinen anderen Zweck, als dem Publiko einige Taler aus der Tasche zu spielen. Dazu haben sich Autor, Verleger und Rezensent fest verschworen.

Ein verschmitzter und schlimmer, aber erklecklicher Streich ist es, der den Litteraten, Brodschreibern und Vielschreibern gegen den guten Geschmack und die wahre Bildung des Zeitalters gelungen ist, daß sie es dahin gebracht haben, die gesammte elegante Welt am Leitseile zu führen, in der Art, daß diese abgerichtet worden, a tempo zu lesen, nämlich Alle stets das Selbe, nämlich das Neueste, um, in ihren Cirkeln einen Stoff zur Konversation daran zu haben. (…) Was aber kann elender seyn, als das Schicksal eines solchen belletristischen Publikums, welches sich verpflichtet hält, allezeit das neueste Geschreibe höchst gewöhnlicher Köpfe, die bloß des Geldes wegen schreiben, daher eben auch stets zahlreich vorhanden sind, zu lesen, und dafür die Werke der seltenen und überlegenen Geister aller Zeiten und Länder bloß dem Namen nach zu kennen! – Besonders ist die belletristische Tagespresse ein schlau ersonnenes Mittel, dem ästhetischen Publiko die Zeit, die es den ächten Produktionen der Art, zum Heil seiner Bildung, zuwenden sollte, zu rauben, damit sie den täglichen Stümpereien der Alltagsköpfe zufalle.

Daher ist, in Hinsicht auf unsere Lektüre, die Kunst, nicht zu lesen, höchst wichtig. Sie besteht darin, dass man Das, was zu jeder Zeit so eben das größere Publikum beschäftigt, nicht deshalb auch in die Hand nehme, wie etwa politische oder kirchliche Pamphlete, Romane, Poesien u. dgl. m., die gerade eben Lärm machen, wohl gar zu mehreren Auflagen in ihrem ersten und letzten Lebensjahre anfangen: vielmehr denke man alsdann, daß wer für Narren schreibt allezeit ein großes Publikum findet, und wende die stets knapp gemessene, dem Lesen bestimmte Zeit ausschließlich den Werken der großen, die übrige Menschheit überragenden Geister aller Zeiten und Völker zu, welche die Stimme des Ruhmes als solche bezeichnet. Nur diese bilden und belehren wirklich.

Vom Schlechten kann man nie zu wenig und das Gute nie zu oft lesen: schlechte Bücher sind intellektuelles Gift, sie verderben den Geist. – Weil die Leute, statt des Besten aller Zeiten, immer nur das Neueste lesen, bleiben die Schriftsteller im engen Kreise der cirkulirenden Ideen und das Zeitalter verschlammt immer tiefer in seinem eigenen Dreck.

Arthur Schopenhauer

(Über Lesen und Bücher. In Parerga und Paralipomena: kleine philosophische Schriften, § 303, 1862, S.  589)

Donnerstag, 3. Januar 2013

Aus Schriftstellers Schreibstübchen (Schreibanlässe)


Als sich Robert Louis Stevenson im April 1881 im schottischen Braemar erholte, lernte er einen Jungen kennen, der mit Hilfe von Stift, Tinte und Wasserfarben
bald einen der Räume in eine Gemäldegalerie verwandelt (hatte). Meine eigentliche Aufgabe in dieser Galerie war, (…) die Bilder zu bewundern, aber manchmal (…) gesellte ich mich zu dem kleinen Künstler an die Staffelei und verbrachte den Nachmittag mit ihm im Wetteifer, bunte Bilder zu malen. Bei einer dieser Gelegenheiten malte ich die Karte einer Insel; sie war sehr kunstvoll und, wie ich fand, schön bunt; ihre Form begeisterte meine Vorstellungskraft mehr, als ich sagen kann; sie verzeichnete Häfen, die mich entzückten wie Sonette; und unbewusst, als sei gar keine andere Wahl möglich, betitelte ich mein Werk »Schatzinsel«. Man hat mir gesagt, es gebe Leute, die sich nichts aus Landkarten machen – ich mag das kaum glauben. Die Namen, die Umrisse der Wälder, der Verlauf der Landstraßen und Flüsse, die Fußspuren der Menschen früherer Zeiten, die sich noch deutlich hügelauf- und abwärts verfolgen lassen, die Mühlen, die Ruinen, die Gewässer und Furten, vielleicht die Stehenden Steine oder der Druidenkreis in der Heide; das alles ist eine unerschöpfliche Fundgrube für jeden, der Augen hat zu sehen, oder der genug Phantasie besitzt, um Verständnis für diese Dinge zu haben! Man muss nicht unbedingt ein Kind sein, um mit dem Kopf im Gras liegend in einen endlosen Wald zu starren und zu beobachteten, wie er immer mehr von einer märchenhaften Armee bevölkert wird.
Etwas in dieser Art begann sich in mir zu regen, als ich mit meiner Karte der ›Schatzinsel‹ inne hielt; die zukünftigen Charaktere des Buches wurden in den imaginären Wäldern sichtbar; und braune Gesichter mit glänzenden Waffen guckten mich von unerwarteten Blickwinkeln her an, als sie hin und her huschten und kämpften und Schätze jagten, alles auf diesen paar Quadratzentimetern flachen Bodens. Das nächste, was ich weiß, ist, dass ich ein paar Blätter Papier vor mir hatte und das Inhaltsverzeichnis schrieb.

There was a schoolboy in the Late Miss McGregor's Cottage, home from the holidays, and much in want of “something craggy to break his mind upon.“ He had no thought of literature; it was the art of Raphael that received his fleeting suffrages; and with the aid of pen and ink and a shilling box of water colours, he had soon turned one of the rooms into a picture gallery. My more immediate duty towards the gallery was to be showman; but I would sometimes unbend a little, join the artist (so to speak) at the easel, and pass the afternoon with him in a generous emulation, making coloured drawings. On one of these occasions, I made the map of an island; it was elaborately and (I thought) beautifully coloured; the shape of it took my fancy beyond expression; it contained harbours that pleased me like sonnets; and with the unconsciousness of the predestined, I ticketed my performance 'Treasure Island.' I am told there are people who do not care for maps, and find it hard to believe. The names, the shapes of the woodlands, the courses of the roads and rivers, the prehistoric footsteps of man still distinctly traceable up hill and down dale, the mills and the ruins, the ponds and the ferries, perhaps the STANDING STONE or the DRUIDIC CIRCLE on the heath; here is an inexhaustible fund of interest for any man with eyes to see or twopence-worth of imagination to understand with! No child but must remember laying his head in the grass, staring into the infinitesimal forest and seeing it grow populous with fairy armies. Somewhat in this way, as I paused upon my map of 'Treasure Island,' the future character of the book began to appear there visibly among imaginary woods; and their brown faces and bright weapons peeped out upon me from unexpected quarters, as they passed to and fro, fighting and hunting treasure, on these few square inches of a flat projection.
The next thing I knew I had some papers before me and was writing out a list of chapters. (weiterlesen hier)
(In Robert Louis Stevenson: The Art of Writing: 5. My First Book: Treasure Island)
Die Schatzkarte ist leider verloren gegangen. Das Titelbild der Schatzinsel ist ein Remake, das im Büro von Stevensons Vater angefertigt wurde.

(Quelle Wikipedia)
Dafür, dass die Zeichnung entstand, als Stevenson seinem Stiefsohn Lloyd beim Malen half, wie Wikipedia behauptet, habe ich keinen Beleg gefunden. Er schreibt ja selbst:
Da war ein Schuljunge im Landhaus der seligen Miß Mack Gregor, der in der Ferienzeit nach Hause kam und etwas Kniffliges zum Kopfzerbrechen suchte. Er hatte keine Ahnung von Literatur; es war die Kunst Raffaels, von der seine flüchtigen Anregungen erhielt; und mit Hilfe von Stift und Tinte und einem billigen Kästchen mit Wasserfarben hatte er in kurzer Zeit eines der Zimmer in eine Gemäldegalerie verwandelt.
There was a schoolboy in the Late Miss McGregor's Cottage, home from the holidays, and much in want of ‘something craggy to break his mind upon.’ He had no thought of literature; it was the art of Raphael that received his fleeting suffrages; and with the aid of pen and ink and a shilling box of water colours, he had soon turned one of the rooms into a picture gallery. (Siehe The Art of Writing: 5. My First Book: Treasure Island)

Sonntag, 16. Dezember 2012

Vom Schreibhandwerk


Ich glaube, daß ich ein Arbeiter, ein Handwerker bin. Schreiben ist für mich nicht so sehr eine Sache der Stimmung. (Friedrich Dürrenmatt, Der Klassiker auf der Bühne, 1996, S. 126)

Die Kunst fängt an, wenn man mit dem Handwerk vertraut geworden ist. (Elizabeth George,
Wort für Wort oder Die Kunst, ein gutes Buch zu schreiben
, 2011; siehe auch
http://juttas-schreibtipps.blogspot.de/2012/11/elizabeth-george-uber-das.html)

Schriftsteller werden, Dichter werden! Lernen, lernen, lernen! Am Grossen, Schönen, Edlen
mich emporarbeiten aus der jetzigen tiefen Niedrigkeit! Die Welt als Bühne kennen lernen,
und die Menschheit, die sich auf ihr bewegt! (Karl May, Mein Leben und Streben, 2006, S. 65)

Wer da glaubt, in Deutschland allein bedürfe es weder des Lehrens noch Lernens, weil bei uns die Schriftsteller naturhaft in Feld und Wald und Wiese wüchsen, der sollte nicht klagen, daß unser Land mehr Feld-, Wald- und Wiesenschriftsteller hervorbringe als andere Völker – Völker, bei denen Schriftstellerei an Universitäten und anderen Anstalten mit größtem Ernst praktisch gelehrt und gelernt wird. (Otto Schumann, Das Manuskript: Handbuch für angehende Autoren, Lektoren und Pädagogen, 1977, S. 5)
Für Pierre-Auguste Renoir ist das Malen „nicht eine Angelegenheit von Träumerei oder Inspiration, sondern ein Handwerk, wozu es eines guten Handwerkers“ bedürfe (zitiert nach Patricia Highsmith: Suspense oder Wie man einen Thriller schreibt). Und Theodor W. Adorno beruft sich auf Paul Valéry, wenn er sagt, „man solle nicht gleich nach Ewigkeitswerten rufen, sondern die technisch-handwerklichen Dinge, die Werkstatt, würdigen, weil hier am unmittelbarsten die ethischen Werte erscheinen, in der Form selbst“. Auch die Dichter diskutierten in ihren Briefen mit Kollegen öfter technische Probleme des Schreibens als den Sinn ihrer Gedichte oder philosophische Themen. (Zitiert nach Norbert Mecklenburg: Literarische Wertung, 1977, S. 146)

Doch viele, ach viel zu viele deutsche Autoren meinen, ihr Handwerkszeug – sechsundzwanzig Buchstaben, Papier und ein Stift oder ein PC – befähige sie dazu, gute Texte zu schreiben. Und viele Menschen, die das Bedürfnis zu schreiben in sich spüren und etwas zu sagen wissen, wagen gar nicht erst, ihre Gedanken zu Papier zu bringen, oder sie schreiben und schreiben und verstehen nicht, dass sie niemand druckt, weil sie nicht wissen, dass man das Schreiben lernen kann. Die Schubladen quellen über von Manuskripten. Wie viele begabte Schriftsteller bleiben unentdeckt! Aber Verlage drucken nun mal nur Bücher, von denen sie meinen, dass sie sich verkaufen, schließlich sind sie keine Wohltätigkeitsvereine. Von den Unmengen an unverlangt eingesandten Manuskripten, die sie jedes Jahr erhalten, wird noch nicht einmal ein tausendstel Prozent gedruckt (siehe unter anderem http://www.hyperwriting.de/loader.php?pid=534). Um sozusagen der Leuchtturm darunter zu sein, muss man nicht nur eine tolle Romanidee haben und möglichst etwas Neues sagen, sondern auch sein Handwerk verstehen.

Nur weil man ein paar Tasten klimpern kann, spielt man nicht auf Anhieb die Mondscheinsonate, und wer einen Pinsel halten kann, ist nicht der wiedergeborene Leonardo (und wir sind keine Frisöre, nur weil wir eine Schere, oder Schuhmacher, weil wir eine Ahle halten können). Oder, wie der berühmte Dirigent Arturo Toscanini als Redner bei einer Jubiläumsveranstaltung so schön gesagt haben soll: „Jeder Esel kann den Takt schlagen, aber Musik machen – das ist schwierig.“

Nach allen Regeln der Kunst


Es ist merkwürdig, jeder Künstler lernt sein Handwerk, nur Autoren springen im Dreieck, wenn sie etwas von – pfui – Handwerk und – noch mehr pfui – Schreibregeln hören. Sie wollen nichts von irgendwelchen Regeln wissen (die im übrigen nicht etwa von Creative-Writing-Dozenten, bekannten Autoren oder Germanistikprofessoren aufgestellt wurden, sondern die Schriftsteller seit Aristoteles’ Zeiten, von den griechischen Tragödiendichtern über Shakespeare, Goethe und Schiller bis John Irving (dessen Roman Zirkuskind (A Son of the Circus) für mich das Beispiel für eine meisterhafte  Umsetzung des Handwerks ist) und Stephen King (auch Schreiber von Horrorromanen müssen ihr Handwerk beherrschen) und wie die Bestsellerautoren alle heißen, anwenden) und wundern sich  über den Erfolg vor allem US-amerikanischer Schriftsteller, für die es selbstverständlich, dass der Schriftsteller sein Handwerk studiert (siehe http://juttas-schreibtipps.blogspot.de/2012/11/elizabeth-george-uber-das.html). Man stelle sich vor, ein Komponist würde sagen, er orientiere sich nicht an den Regeln für Klang und Rhythmus, ein Maler nicht an denen für Farbenlehre und Perspektive, ein Schuhmacher nicht an den Regeln für Orthopädie. Nicht grundlos spricht man von „nach allen Regeln der Kunst“ = vorschriftsmäßig; wie es sich gehört; ganz richtig, auch wenn diese Redewendung aus dem Meistergesang des Mittelalters stammt.

Damals gab es ein Normenbuch, die Tabulatur (von lat. tabula = Tafel) (auch Schulregister), in der die Regeln der Gesangskunst festgehalten waren. Nur wer diese beherrschte, wurde in die Zunft der Meistersinger  aufgenommen. Wer mehr als die zulässigen sieben Fehler beging, hatte sich „versungen und vertan“ (mehr dazu siehe Richard Wagners Opern: Ein musikalischer Werkführer, 2012, S. 62f.).  Das Sünden- und Strafregister enthielt fünfundzwanzig Strafregeln und sieben Schärfstrafen, die die unter anderem falsche Silben und Wörter, Grammatik, Versbau und Vortragskunst bestraften (siehe http://www.litde.com/die-dichtung-der-ritterlichen-welt/der-meistersang.php; mehr dazu siehe auch Vom Minnesang zum Meistersang und Ludwig Uhland: Einrichtung und Satzungen der Singschulen. In Uhlands Schriften zur Geschichte der Dichtung und Sage, 1866, S. 306ff., http://gutenberg.spiegel.de/buch/5081/3).

Mit der Zeit wurden die Regeln jedoch immer enger ausgelegt, und die Tabulaturen verzeichneten eher die Fehler, die von den Merkern – so genannt, weil sie sich die Fehler in Dichtung und Gesang zu merken hatten – bestraft wurden. (Bei Richard Wagner ist das ein gewisser Sixtus Beckmesser – und nun wissen wir auch, woher der Ausdruck beckmesserisch für kleinlich, pedantisch, engherzig stammt.)

Der Meistersang war durch die Regeln schließlich so erstarrt, dass der berühmte Meistersinger Hans Sachs
mahnte:
Vernehmt mich recht! Wie Ihr doch thut!
Gesteht, ich kenn’ die Regeln gut;
und daß die Zunft die Regeln bewahr’,
bemüh’ ich mich selbst schon manches Jahr.
Doch einmal im Jahre fänd’ ich’s weise,
daß man die Regeln selbst probir’,
ob in der Gewohnheit trägem G’leise
ihr’ Kraft und Leben sich nicht verlier’:
     und ob ihr der Natur
     noch seid auf der rechten Spur,
         das sagt euch nur,
wer nichts weiß von der Tabulatur.

(In Richard Wagner: Die Meistersinger von Nürnberg, 1868, S. 28, http://www.rwagner.net/libretti/meisters/g-meisters-a1s3.html)
Hans Sachs war es dann auch, der die erstarrtem Formen mit neuem Leben füllte (siehe http://www.jita.com.cn/Seiten/Begriffe/Musikalische_Begriffe_1.htm).

Über Sporn und Zügel


Als erster erwähnte Pseudo-Longin das Handwerk in seiner an Posthumus Flavius Terentianus gerichteten Schrift Vom Erhabenen [= das, was den Hörer bewegt und erschüttert, die Seelengröße] (Peri hypsous; De sublimitate; On the Sublime [die Links führen jeweils zu den Originaltexten]; Over de verhevenheid). (Pseudo deshalb, weil es unklar ist, ob der Grieche Dionysius Cassius Longinus, der im dritten Jahrhundert lebte, wirklich der Verfasser ist.)

Viele glaubten, so schreibt er, dass alle, die Regeln anwenden, sich eher selbst betrügen, denn das Talent sei angeboren und lasse sich weder lehren noch lernen. Ja, sie behaupteten sogar, dass Regeln dieses Geschenk verdürben oder schwächten. Doch nur der Unterricht, so Longinus, könne dem Genie Schranken setzen und ihn vor allen Ausschweifungen und Verirrungen bewahren. Es sei sogar gefährlich, es ohne Regeln, „ohne Anker und Ruder“, sich selbst zu überlassen. Denn:
Oft genug braucht das Genie den Sporn der lebhaften Empfindungen: aber eben so muß es durch den Zügel der kältern Überlegung [Regeln, jmw] zurückgehalten werden.
(…)
Die Natur findet, die Kunst [lat. ars, jmw] räth; und, was noch mehr als alles von der Wichtigkeit der Regeln auch in den Werken des Geschmacks überführen muß, das selbst, ob’s die Natur ist, die das Genie begeistert, woher lernen wir das anders als aus den Beobachtungen der Kunst? Gewiß, wenn die, die den Schülern der Kunst ihre Regeln und Vorschriften so übel nehmen, dieses alles überlegen wollten, so würden sie unsere Theorien nicht für überflüßig und so unnütz halten, als sie thun.
(In Johann Georg Schlosser: Longin vom Erhabenen mit Anmerkungen und einem Anhang, 1781, S. 36f. Es lohnt sich, Longinus zu lesen, entweder in der Übersetzung von Karl Heinrich von Heinecken als Digitalisat (97 Seiten) oder der von Schlosser, der mit den „Plattheiten“ in der Übersetzung von Heinecken gar nicht zufrieden war (siehe S. XIf.), die durch die Anmerkungen 335 Seiten umfasst.

Longinus formuliert dann auch anhand vieler Beispiele antiker Autoren eine Menge Warnungen und Verbote für Dichter. Dazu gehören der sprachliche Schwulst – der übertriebene Pathos, die Hülsen –, denn man erreiche dadurch das Gegenteil dessen, was man beabsichtigt hat: „Nichts sey trunkener als ein Wassersüchtiger“. Wer so schreibt, sehe einem „Menschen ähnlich (…), welcher grosse Pausbacken machet, und doch nur in eine Kindertrompete stößt“. Solche Autoren bildeten sich ein, „daß sie von einer Begeisterung, oder von einem göttlichen Eifer getrieben werden, da sie doch nur tändeln und wie Kinder spielen“. Und doch sei das Schwülstige am schwersten zu vermeiden, denn alle, „die erhaben reden wollen, befürchten nichts so sehr, als daß man sie einer Schwachheit oder Mattigkeit beschulde“, und folgten dem Sprichwort „In grossen Dingen zu fehlen ist keine Schande“ (S. 6ff. der Übersetzung von Heinecken). Das echte Pathos werde nicht durch Schreien, sondern durch Schweigen ausgedrückt.

Als zweites nennt Longinus das Frostige, also den unangemessenem Pathos, das, „wobey es die Seele friert“ (Schlosser, S. 52)  So bemängelt er, dass Herodot die schönen makedonischen Weiber einen Augenschmerz  nennt. Das könne damit entschuldigt werden, dass die, die das sagen, Barbaren und dazu Betrunkene sind. Aber das reiche nicht, denn man müsse sich durch die Beschreibung solcher Leute keinen „ewigen Schandfleck anhängen“ (S. 11 der Übersetzung von Heinecken; dass ich hier aus beiden Übersetzungen zitiere, liegt daran, dass mir mal die eine, mal die andere Übersetzung besser gefällt). Dazu kommen zu kurze und zu lange Sätze, denn erstere verdunkelten den Verstand, letztere hätten weder Kraft noch Nachdruck; die schlechten Wörter, denn wenn man etwas Großes, etwas Schönes sagen will, darf man sich keinen Ausdruck erlauben, der nicht der Sache würdig sei, es sei denn, er sei unbedingt nötig (S. 89ff.).

All diese Fehler, durch die „die Schriften verunzieret werden“, kommen, so resümiert Longinus, durch die Begierde, immer etwas Neues, Unerhörtes sagen zu wollen, worin die „Raserey der heutigen Welt“ bestehe (S. 11).

Aber Longinus nennt auch fünf Quellen für den hohen Stil (und bringt dazu wiederum viele Beispiele), die sich aufteilen in natura und ars: Zur natura zählen die Fähigkeit, große, eindrucksvolle Gedanken hervorzubringen, und eine heftige, begeisterte Leidenschaft, die beide angeboren sind. Was aber gelehrt werden könne (die ars), sind die sorgfältige Ausführung in Hinsicht auf Gedanken und Ausdruck, die Sprache, also die Wahl der Wörter und Metaphern, sowie der poetische Ausdruck, also Wort- und Satzfügung (S. 14ff.; mehr zu dem Buch siehe Dietmar Till: Das doppelte Erhabene, 2006, S. 89ff., und Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste,  1792, S. 103ff).

Über göttliche Eingebungen


Regeln für einen guten Stil existieren seit den ersten Rhetorenschulen im fünften Jahrhundert vor Christus. Aristoteles Poetik, die Lehre von der Dichtkunst, gilt auch heute noch, auch wenn sie inzwischen modifiziert und erweitert wurde. Aber ebenso wenig wie beim Meistersang kann es Sinn des Schreibhandwerks sein, dass ein Buch nach allen Regeln der Kunst geschrieben wird, ihm aber die Seele fehlt. Umgekehrt bedeutet das jedoch nicht, dass sämtliche Regeln von vornherein abgelehnt werden, weil man von deutschen Schriftstellern „nur“ göttliche Eingebungen erwartet. Wer der Inspiration, dem Musenkuss, vertraut, wird lange warten müssen.

Niemand wird als begnadeter Schriftsteller geboren. Niemandem fließen die Wörter nur so aus der Feder, derweil der Normalsterbliche sich Wort für Wort mühsam abringen muss. Angeblich küsst die Muse den echten Schriftsteller, oder er galoppiert auf Pegasus ins Dichterschlaraffenland, wo klangvolle Wörter auf Bäumen wachsen und brillante Sätze vorbeifliegen und sich die Seiten von allein mit klugen Gedanken, außergewöhnlichen Figuren und einer mitreißenden Handlung füllen. Doch Musen küssen nun mal nicht auf Befehl.

Über Kunst


Der Begriff ars (von gr. téchne) bedeutet Kunst, Kunstfertigkeit, Kunstwerk, Handwerk, Geschicklichkeit, aber auch Kunstgriff (List, Betrug), Kunstwerk. In der Kunst ist also das Handwerk enthalten. Das von téchne abgeleitete Wort Technologia = Verarbeitungslehre wurde als ars (Pl. artes) ins Lateinische übernommen und steht für die Lehre der Kunst. Der davon abgeleitete Artifex war ein Künstler, Schöpfer, Handwerker, das Artificium ein Handwerk oder Kunstwerk. (Kunst kommt also nicht nur von Können – siehe http://juttas-zitateblog.blogspot.de/2011/06/uber-kunst-und-konnen-wollen-und-wulst.html).

Zu den sieben freien Künsten (septem artes liberales) gehörte im Mittelalter auch die Dichtkunst als erlernbares Handwerk. Johann Christoph Gottsched verwendete den Begriff jedoch auch später noch in seinem Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Nur heutzutage gilt im Gegensatz zum Komponieren, Malen, der Architektur, die gelehrt werden, für das Schreiben in Deutschland immer noch der Geniebegriff.

Aber was ist Schreiben denn anderes als Kunst? Der Komponist gebraucht Rhythmus und Klang für seine Musik, der Schriftsteller für die Musik seiner Sätze. Der Maler malt Bilder mit Farben, der Schriftsteller malt Bilder mit Worten, um ein Bild in seinem Leser entstehen zu lassen (siehe http://juttas-schreibtipps.blogspot.de/2008/08/ber-bewegung-wasserkessel-wut-und-das.html). Der Architekt entwirft Häuser, in denen Menschen zufrieden und selbst bestimmt leben können, der Schriftsteller konstruiert seinen Text wie ein Haus, mit einem Eingang, der zum Eintreten verlockt, mit Räumen, in denen das Leben tobt, und einem Ausgang, bei dem der Leser traurig ist, dass er das Haus verlassen muss.

Dass man in der Schule Aufsätze geschrieben hat, bedeutet nicht, dass man weiß, wie man ein gutes Buch schreibt. Niemand komponiert eine Oper, ohne Ahnung von Harmonie- oder Kompositionslehre zu haben.  Niemand ist Schuhmacher, nur weil er weiß, wie Schuhe aussehen, sich welche zurecht schustert, sie einer Schuhkette anpreist und erwartet, dass sie der Kassenschlager des Jahres werden. Der Einkäufer wird auf dem ersten Blick feststellen, dass die Schuhe handwerklich mies sind, weil sich die Sohlen beim ersten Regen lösen, die Farbe nach kurzer Zeit abblättert und sich der Käufer auf der Stelle Blasen laufen wird. (Ebenso stellt der Mensch, der die eingehenden Manuskripte beurteilt – oft sind es Praktikanten –, schon nach spätestens einer Seite fest, ob das Manuskript was taugt.)

Das Wie ist wichtiger als das Worüber


Auch wenn die Muse küsst – die richtige Ausführung muss der Schriftsteller selbst finden. Er kann lernen, welche Worte er wählen muss, um seine eigene Sprache zu finden, wie er Sätze bauen muss, um seinen Leser zu fesseln, wie er das ausdrückt, was er sagen will – wie er Bilder im Leser erzeugt. Er kann lernen, wie ein Thema ausgearbeitet wird, wie Erzählperspektive, literarische Orte und Erzählzeit eingesetzt werden, wie Charaktere geschaffen, Spannung erzeugt und Pointen gebaut werden. Und er kann lernen, sprachliche Bilder einzusetzen und Klischees und Kitsch sowie sprachliche Schlampereien von Phrasen bis zu missglückten Metaphern zu vermeiden.

Doch der Schriftsteller kann das Handwerk noch so gründlich studieren: Regeln machen aus einem schlechten Text keinen guten, wenn er sich nicht auszudrücken vermag. Das Talent für den sprachlichen Ausdruck hat ihm die Fee in die Wiege gelegt – das Talent wohl bemerkt: damit es zur Kunst wird, muss er üben, üben, üben. Er darf es aber auch nicht vergeuden: Er muss sich immer bemühen, das Beste zu geben, das, was ihm möglich ist.

Auf ein Wort zu Schreibregeln


Denken Sie beim Schreiben nicht unentwegt an die Regeln. Sie machen sich dann so viele Gedanken darüber, dass Sie keinen vernünftigen Text zu Papier bringen. Kein Stürmer holt sein Fußballlehrbuch aus der Tasche und schlägt nach, was er machen soll, wenn er frei vor dem Tor steht. Er schießt einfach. Werden Sie wieder zum Kind, das Geschichten erzählt und Spaß daran hat. Die Regeln helfen aber, wenn Sie beim Lesen Ihres Textes feststellen: Du liebe Güte, das stimmt vorn und hinten nicht, weil Sie halt doch zu sehr daneben geschossen haben; vor allem müssen Sie sie beim Überarbeiten beachten. Mit der Zeit werden Sie die Regeln jedoch ohnehin verinnerlicht haben, eben wie ein Fußballspieler ohne Nachzudenken aufs Tor zielt.

Longinus geht es darum, wie man erreicht, dass man die „Nachwelt mit dem ewigen Ruhm seines Namens“ erfüllt (S. 2). Fragen Sie sich also: Welchen Anspruch habe ich? Möchten Sie für Freunde und Verwandte schreiben oder wollen Sie mehr, wollen Sie an die Öffentlichkeit gehen mit Lesungen und Veröffentlichungen? Weil Sie meinen, dass Sie einen wirklich guten Text geschrieben haben, weil Sie etwas erschaffen haben, weil Sie geschwitzt und gebangt und gefeilt haben, weil Ihr Herzblut daran hängt, Ihr Wissen, all Ihre Gefühle und vor allem viel, viel Zeit. Weil Sie die Menschen zum Staunen bringen möchten. Beides ist legitim, doch für Tante Frieda und Onkel Franz müssen Sie keine Regelbücher durcharbeiten. Doch nichts ist frustrierender, als wenn die Zuhörer gähnen und sich auf alles andere konzentrieren (auf die neueste Benzinpreiserhöhung oder auf das Rendezvous mit Sebastian am nächsten Sonnabend zum Beispiel), als auf das, was Sie erst stolz vortragen, um dann verzweifelt nach dem nächsten Mauseloch zu suchen. Spätestens in dem Augenblick werden Sie sich wünschen, das Handwerk gelernt zu haben. Doch, etwas ist noch frustrierender: Wenn Sie nicht gedruckt werden. Wettern Sie nicht über die Verlage, die Ihre Manuskripte ständig zurückschicken. Überlegen Sie, woran das liegt.

Regel Nummer 1: Jede Regel kann gebrochen werden, wenn es begründet ist – etwa weil Sie Ihren Leser irritieren oder zum Hinsehen bringen wollen –, doch dazu müssen Sie die Regeln beherrschen, müssen Sie Ihre eigene künstlerische Identität gefunden haben. Regel Nummer 2: Sie müssen nicht jede Regel beherzigen und jeden Satz von Schreibratgebern buchstabengetreu befolgen; Sie müssen aber wissen, warum Sie das nicht tun.