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Montag, 30. Mai 2011

Karl Kraus über das Wörtchen, das ich so liebe: Das kleine Wörtchen „Es“. II

(Fortsetzung von Karl Kraus über das Wörtchen, das ich so liebe: Das kleine Wörtchen „Es“. I,  http://juttas-schreibtipps.blogspot.com/2011/05/karl-krauss-uber-das-wortchen-das-ich.html)

Weil ich nicht sagen kann: »die Freiheit, die es leben möge«, so könne ich auch nicht sagen: »das Licht, das es werden soll«. Und doch kann ich dies so sicher sagen, wie ich jenes nicht sagen kann, und selbst dort, wo nicht das Zitat immunisierend wirkt. (Ich habe es schon einmal gesagt, in dem so benannten Gedicht schließe ich: »Ihr lobet Gott; ich weiß, wie Licht es werde.«  Nicht: »wie Licht werde«. Die Erlaubnis des Zitats muß hier gar nicht dem »es«, sondern nur dem »werde« zugutekommen, das grammatikalisch bedenklich, stilistisch berechtigt ist durch die Kraft des Zitats wie durch das Moment der Sehnsucht, das der entliehene Konjunktiv einschließt.) Der Zwang, zu fragen: »das – was werden will?«, besteht für den nicht mehr, der eben die ganze Fülle des »es« in diesen Beispielen im Gegensatz zu der Unwertigkeit des »es« in den andern Beispielen erfaßt hat. Denn in »Es werde Licht« ist das »es« so wahr ein Subjekt, als im Anfang das Wort war. Das stärkste Subjekt, das es im Bereich der Schöpfung gegeben hat, jenes, das Licht wurde, jenes, das Tag wird, jenes, das Abend  werden will. (Alles hängt davon ab; alles kann Relativsatz werden.) Es: das Chaos, die Sphäre, das All, das Größte, Gefühlteste, welches schon da ist vor jenem, das daraus erst entsteht. Licht, Tag, Abend  ist nicht Subjekt, sondern Prädikat, kann nicht Subjekt sein, weil »es« erst zu Licht, zu Tag, zu Abend »wird«, sich dazu entwickelt. »Und so ward es Abend; so ward es Morgen – der erste Tag.« (Luther übersetzt berichthafter: »Da ward aus Abend und Morgen der erste Tag«.)  »Und es geschahe so.« »Und Gott sahe, daß es gut war.« »Es werde Licht« bedeutet nicht: Licht werde. »Es will Abend werden« bedeutet nicht: Abend will werden. »Es beginnt der Tag« bedeutet aber allerdings: der Tag beginnt. Da ist der Tag das Subjekt. Warum nun steht hier auch ein es »voran«? (In Wahrheit steht es nur hier »voran«.) Es ist eine Wohltat der Sprache, keine, die sie dem Mund, sondern eine, die sie dem Gedanken erweist, indem sie doch einen Unterschied zur Aussagenorm erleben läßt. Sehr deutlich wird das an dem folgenden Beispiel: »es beginnt der Tanz« und »der Tanz beginnt«. Das »es« – ein dichterisches und kein bloß »rhythmisches« Element – dient der Anschauung: Taktstock, die Paare gruppieren sich. Oder: Programmpunkt innerhalb einer zeremoniellen Entfaltung, »nun beginnt …«. »Der Tanz beginnt« ist der bloße Bericht, das Begriffsskelett der Handlung; aus dem Wissen heraus, daß »es« der Tanz ist, was da beginnt, wird dieser gesetzt, wobei man weder ihn sieht noch die Stimmung, das »es«, woraus er hervorgeht. Man beachte den Unterschied zwischen dem Gedicht »Es rast der See und will sein Opfer haben«  und dem Bericht: »der See rast und will sein Opfer haben«. Kein Zweifel, daß auch diesem »es«, das tatsächlich dem Subjekt »der See« vorangestellt ist, etwas innewohnt von dem Erlebnis des Unbestimmten, dem sich das sinnlich Wahrnehmbare entschält und welches eben in »Es will Abend werden« so stark ist, daß es sich des Subjektcharakters bemächtigt. Die Sprache läßt zunächst beim Rasen des Elements verweilen, worauf erst das Bewußtwerden folgt, daß es der See ist, der sich so verwandelt hat, er, der ehedem lächelnde, und gar nicht wiederzuerkennen ist, während ihn das bloß aussagende Bewußtsein des Wetterreporters sofort erkennt. (Der neue Stilist, der nur Stadien der Wahrnehmbarkeit notiert, würde freilich auch: »es wird Tanz« oder »Rasendes ist See« sagen.) Der Expressionist der Bibel, der »Es werde Licht« sprach, mußte nicht die Sprache aus der Welt schaffen, ehe er diese schuf.)

(In Die Fackel 1921, Heft 572–576, S. 46ff.)

Fortsetzung folgt

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(Zum Thema „Es“ siehe auch http://juttas-schreibtipps.blogspot.com/2009/10/es-ist-schlechter-stil-das-wortchen-es.html)

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