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Dienstag, 26. August 2008

Die Hauptperson: Ihr Leser. I


Liebe deinen Leser wie dich selbst. (Wolf SCHNEIDER)

»Jedes Kunstwerk hat es in sich, daß es wahrgenommen werden will. Es will, wie monologisch es ausfallen mag, jemanden ansprechen. Und wenn auch dieser Jemand, den wir ansprechen, von uns durchaus als Fiktion gemeint ist«, schreibt Max FRISCH. Für wen studieren Sie also Ihr Handwerk? Für wen erdulden Sie Qualen, Einsamkeit, Angst vor dem leeren Blatt Papier? Für sich selbst? Ja, in erster Linie, denn das Schreiben soll vor allem Ihnen Freude bereiten. – »Ich finde nicht, daß ein Künstler sich mit Gedanken an sein Publikum belasten sollte. Sein bestes Publikum ist der Mensch, dessen Gesicht er allmorgendlich im Rasierspiegel erblickt«, so NABOKOV. – Aber auch für ein Gegenüber: für Ihren Leser. Sie schreiben die ersten Seiten für ihn, damit er die nächsten zwanzig oder zweihundert auch noch liest. Sie sehen ihn vor sich und überlegen, wie Ihre Worte und Ihr Thema auf ihn wirken, wie Sie seine Neugier wach halten können, und vermitteln ihm mit literarischen Mitteln ein einzigartiges Erlebnis, Sie lassen ihn vergessen, »dass er eigentlich nur Worte auf Papier sieht«, wie Sol STEIN schreibt.

ECO schreibt dazu in der Nachschrift zu Der Name der Rose:
Es kann sein, daß der Autor beim Schreiben an ein empirisch vorhandenes Publikum denkt, wie es die Begründer des neuzeitlichen Romans taten, Richardson, Fielding oder Defoe, die für Kaufleute und deren Gattinnen schrieben, doch für ein Publikum schrieb auch Joyce, der sich einen Idealleser mit einer idealen Schlaflosigkeit vorstellte. In beiden Fällen heißt schreiben – ob nun der Schreibende glaubt, ein vorhandenes Publikum anzusprechen, das mit dem Geld in der Hand vor der Tür steht, oder ob er sich vornimmt, für einen künftigen Leser zu schreiben – sich mit Hilfe des eigenen Textes den gewünschten Lesertyp schaffen.
»Schreiber, was bemühst du dich, immer gut zu schreiben?/  Liest dich denn ein jeder gut? Treib’s, wie’s alle treiben!«, meint Wilhelm MÜLLER, doch

Der Leser verdient, dass Sie das Beste geben, was Ihnen möglich ist, auch wenn er nicht weiß, was das ist. Er hat einen Anspruch darauf, dass Sie ihn mit Hochachtung behandeln. Er opfert Ihnen Lebenszeit, ebenso wie Sie Lebenszeit geopfert haben, um ihn zu unterhalten.

Denken Sie daran, dass Sie Ihren Leser nicht kennen und jeder Leser andere Bedürfnisse hat. Der eine will bei der Lektüre entspannen, der andere einen Gewinn für sein Leben daraus ziehen und etwas lernen, der dritte sucht Abenteuer oder Trost. Und manch einer möchte »Abhakliteratur« (abhaken: ursprünglich seemännisch: vom Haken des Schleppers nehmen) lesen: Er setzt hinter jeden dritten Satz in Gedanken ein Häkchen: »Ja, stimmt, das kenne ich, genauso habe ich gefühlt, als ich arbeitslos wurde.« – »Ja, ganz genauso habe ich reagiert, als Oliver mir sagte, dass er ausziehen wird.«

Ihr Leser möchte lachen, weinen oder beides zugleich, er möchte er möchte sich im Helden wiederfinden, möchte mitfiebern und spekulieren, ob er es schafft, aus dem Elend herauszukommen. Er möchte seine Gedanken schweifen lassen, möchte erinnert werden oder Hoffnung spüren, aber auch Wut, Zorn, Ärger. Er möchte, dass Sie dem Sprache verleihen, was er selbst nicht auszudrücken vermag. Womöglich vergisst er zu essen oder packt ihn das Fernweh, weil Sie so eindrucksvoll einen Markt auf Mauritius oder eine Reise nach Timbuktu geschildert haben. Er möchte Ihr Buch zur Arbeit mitnehmen, in die S-Bahn, ins Bett, weil er nicht aufhören kann zu lesen. Er möchte den Alltag vergessen. Und manchmal möchte er beten nach der Lektüre. Lesen bedeutet sich einzufühlen in andere Menschen, sich mit ihm auseinanderzusetzen, und vermittelt dadurch soziale Kompetenz.

Doch Sie können es nicht jedem Recht machen. Zwanzig Prozent der Leser werden schockiert das Buch zuklappen, wenn Ihre Heldin mit ihrer neuen Eroberung auf der ersten Seite ins Bett hüpft, springt sie nicht gleich mit ihm ins Bett, werden das dreißig Prozent der Leser spießig finden. Der eine Leser legt ein Buch zur Seite, wenn es zu reißerisch beginnt, der andere, weil ihm missfällt, dass der Autor nicht gleich mit der Tür ins Haus fällt. Schreiben Sie jedoch so stromlinienförmig, dass Ihr Leser nichts zum Anecken findet, wird das so öde sein, dass nach zehn Seiten neunzig Prozent Ihrer Leser weg sind. Und denken Sie daran: Sie schreiben Ihre eigene Wahrheit sie ist nicht allgemeingültig. Nicht jeder Leser wird Ihrer Meinung sein, doch wie langweilig wären Bücher, wenn wir in ihnen nur das fänden, was wir ohnehin fühlen und denken.

Patricia HIGHSMITH schreibt in Suspense oder Wie man einen Thriller schreibt, dass ein
Schriftsteller finanziell mit guten Erfolgen rechnen (kann), wenn er aktuelle Trends kopiert und dabei logisch und nüchtern vorgeht, denn solche Imitationen lassen sich verkaufen und beanspruchen den Schreiber auch emotionell nicht zu stark. Er kann daher zwei- onzder zehnmal soviel produzieren wie ein origineller Autor, der sich nicht nur physisch und gefühlsmäßig verausgabt, sondern dazu noch riskiert, daß sein Buch abgelehnt wird.
Schreiben Sie so, dass Ihr Leser nicht einschläft. »Ein Mann«, so William ZINSSER, »der in seinem Sessel eingenickt ist mit einer halb gelesene Zeitschrift auf dem Schoß, ist jemand, dem der Schreiber zu viel unnötige Mühe bereitet hat.« Aber lassen Sie ihn träumen. Das bedeutet jedoch nicht, wie ECO schreibt, die Leser »zu besänftigen, mit versöhnlichen Bildern zu trösten. Es kann auch heißen, sie aufzuschrecken: mit Alpträumen, Obsessionen«.

Vor allem aber will der Leser unterhalten werden, ob er den Zauberberg liest oder Vom Winde verweht.

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