Ein US-amerikanisches Sprichwort sagt: »Ein Klischee ist grauenvoll, zehn sind unerträglich, fünfundzwanzig grandios«. Doch überlassen Sie Klischees lieber den Schreibern von Heftchen oder Drehbüchern von Seifenopern.
Schreiben Sie keine Klischees, mag das Leben noch so klischeehaft sein.
Beim Beschreiben von Figuren können Sie leicht in Klischees verfallen: die Narbe über der rechten Gesichtshälfte, die Tätowierungen, das nervöse Zucken des linken Augenlids Ihres Bösewichts. Ihr Bösewicht starrt auch nicht mit kleinen schwarzen oder verwaschenen blauen Augen (haben Sie schon einmal gelesen, dass der Held mit verwaschenen blauen Augen seinen Gegner beäugt?) und trägt kein dünnes Goldkettchen (dünnes Goldkettchen ist ohnehin ein Pleonasmus, da Kettchen bereits eine Verkleinerungsform ist). Und vergessen Sie die »dumme« Blondine. Und der Held ist kein weißblonder, stahlblauäugiger Recke mit markantem Kinn und einer klaren, hohen Stirn.
Nur in der Trivialliteratur behandelt der Schurke die wunderschöne Gefangene mit kalter Höflichkeit, mustert sie mit ausdruckslosem Blick aus einem Gesicht, das eisige Kälte ausstrahlt, ist seine einzige Regung ein eisiges Glitzern in den eng stehenden eisgrauen Augen unter den zusammengewachsenen Augenbrauen, stiert der Gefängniswärter verschlagen mit Rattenaugen, ist sein Äußeres verwahrlost, sein Gesicht bärtig mit faulenden Zähnen in einem wulstlippigen Mund. Und nur dort knirscht der Schlüssel im rostigen Schloss der Gefängnistür.
Die Zigeunerin, die Ihr Held aufsucht, um sich aus der Hand lesen zu lassen, trägt keine klingenden Münzen an ihrem weit schwingenden roten Rock mit dem engen schwarzen Mieder. Ihr fällt auch keine rabenschwarze Löwenmähne, die sie mit einem bunten Kopftuch mühsam bändigt, über die schmalen Schultern. Sie schaut nicht aus schwarzglühenden Augen und spricht kein gebrochenes Deutsch, und sie verstaut Ihre Scheine nicht in einer in einer prächtigen Kassette aus Ebenholz, edel verziert mit geheimnisvollen arabischen Schriftzeichen und Sternen und Monden. Nein, sie trägt ein Designer-Kostüm, der Held wird vom Walkürenritt ihres Handys gestört, und die Münzen klappern höchstens im Portemonnaie. Lieber sind ihr Schecks.
Ältere Damen tragen keine grauhaarige Betonfrisuren und keine geblümten Kleider und warten nicht sehnsüchtig auf den Anruf ihrer erwachsenen Kinder, der dann doch nicht kommt. Sie wohnen nicht Reihenhäusern mit schmalen Vorgärten. Und Rentnerehepaare schaukeln nicht abends auf der Veranda im letzten Schein der Sonne in ihren Stühlen (so wie nicht alle Rentner auf Mallorca überwintern oder auf dem Traumschiff ihre stattliche Rente verjubeln).
Weitere Stereotypen gefällig? Hier sind sie (wohlgemerkt – ich habe sie mir nicht ausgedacht, sondern einer seriösen Tageszeitung entnommen):
Huschende Augen; unsteter, fast panischer Blick; jungenhaftes Grinsen, das Harmlosigkeit signalisiert; instinktive Wachsamkeit, die hinter dem japanischen Lächeln lauert; müdes Lächeln; forensische Kühle; rosige, wie von Puder bestäubte Wangen; oberlehrerhafter Zeigefinger; pastoral vor dem Schmerbauch gefaltete Hände; auffallend kleine Füße; einen cleveren, ja zu cleveren Eindruck machen; der Kleine, fast Zwerg, der Zu-kurz-Gekommene; auch Zwerge haben klein angefangen; am Hemdkragen rumfummeln; linkisch Blumen hochhalten; die Zunge, die die Wangen aufbeult.
Ein einziges schlechtes Wort zerstört jeden gut geschriebenen Text.
(eine der wichtigsten Schreibregeln; am besten abtippen und über den Schreibtisch hängen!)
REICH-RANICKI schreibt in seiner Kritik zu Anna SEGHERS’ Roman Das Vertrauen:
Wer gut und wer böse ist, wird uns immer nachdrücklich mitgeteilt: »Er sah vor sich Ulspergers schönes, hartes Gesicht, seine aufrechte Haltung.« Einer, der ein schönes und hartes Gesicht hat und sich überdies aufrecht hält, ist natürlich ein vorbildlicher Kommunist. Oder: »Hell stach es aus Janauschs weißblauen Augen heraus in Webers ruhigen, noch jungen Blick, als berührten sich die Spitzen zweier elektrisch geladener Drähte.« Und selbst der Klassenletzte ahnt, daß sich derjenige, aus dessen Augen etwas heraussticht, als ein Verräter, der andere hingegen als ein treuer Sohn des Arbeiter- und Bauernstaates erweisen wird.Zu HEYMS 5 Tage im Juni schreibt er:
Aber mit einer derartigen Kennzeichnung ihrer Gestalten gibt sich Anna Seghers nicht zufrieden, sie hat neuerdings noch massivere Mittel in Reserve: Um die Abscheulichkeit jenes Janausch, aus dessen Augen etwas heraussticht, vollends zu verdeutlichen, läßt uns die Erzählerin wissen, daß er einen ekelerregenden Geruch verbreitet.
Heyms Romanfiguren voneinander zu unterscheiden ist oft nicht leicht, dafür kann man, wie beim Fußballspiel, gleich erkennen, auf welcher Seite sie stehen. Da gibt es Bürger der DDR mit widerlichen Zähnen und spinnenhaften Fingern, sie haben in ihrem Wesen »etwas Lauerndes und zugleich Herrisches«, sie sind geil und feige und mißhandeln Frauen. Von einem heißt es, er habe »in besseren Tagen die Zwangsarbeiter von Rowono« drangsaliert, dem anderen wird wenigstens ein Vater nachgesagt, der in der SS war. Sie alle sind – wie könnte es anders sein? – westliche Agenten. »Wenn es brodelt, steigt der Dreck nach oben« – werden wir belehrt.Und zu ANDERSCHS Efraim:
Hier aber sind die meisten Darlegungen entwaffnend banal und naiv zugleich, ein Klischee jagt das andere. Der deutsche Verleger ist blond, »ungeheuer humorlos« und zeichnet sich durch Gründlichkeit aus. Der jüdische Journalist wird »von Unrast beherrscht« und trägt natürlich »randlose Gläser, die mich zum Intellektuellen machen«; um den Angestellten der Jüdischen Gemeinde – in Berlin Anno 1962 – ist »etwas Morgenländisches«, der alte enttäuschte Kommunist hat »ein nicht nur von der Arbeit, sondern auch von Leiden ausgehöhltes Gesicht«. In Rom ist es trocken und sonnig, in London feucht, grau und neblig.Nachtrag: Sie haben Probleme mit der Figurenbeschreibung? Trösten Sie sich: Sie stehen nicht alleine da. Denn auch Schüler sind oft verzweifelt, weil sie in einer Klassenarbeit Personenbeschreibungen machen müssen. Eine entzückende (dieses Adjektiv sei mir gestattet) Sammlung mit Fragen von Schülern zu dem Thema fand ich hier: lehrerfreund.de/in/schule/1s/personenbeschreibung-aufbau/
Nun ja, Seghers ist trotzdem viel besser als Reich-R.
AntwortenLöschenWieso wohl?