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Montag, 21. November 2011

Dein Leser das unbekannte Wesen (Die Hauptperson: Ihr Leser. II)


Wer ist das eigentlich, dieses merkwürdige Wesen, von dem Ihr Wohl und Wehe abhängen, das den Daumen hebt oder senkt? Das Sie glücklich machen kann oder in die tiefsten Tiefen der Hölle versinken lässt?

Nun, dazu hatte ich vor einiger Zeit schon etwas geschrieben (siehe http://juttas-schreibtipps.blogspot.com/2008/08/die-hauptperson-ihr-leser.html). Heute möchte ich einfach mal Ausschnitte aus meinem Buchmanuskript „Am Anfang war die Phantasie: Über das Geheimnis der Schreibkunst“ einstellen, die sich mit diesem Wesen beschäftigen.
  • Jeder Leser sieht die Welt mit seinen eigenen Augen, hat seine eigene Sicht der Dinge, seine eigenen Erfahrungen, Überzeugungen und Gefühle. Er deutet Wörter anders und entnimmt einem Text seine eigene Wahrheit, oft anders, als der Autor beabsichtigt hatte. Jeder weiß bei Mutter und Vater, von wem die Rede ist. Doch was der eine mit einem Gefühl tiefer Geborgenheit verbindet, bedeutet für den anderen lebenslange Kränkung.
  • Der Leser will weinen und lachen, mit dem Helden leiden oder über ihn schmunzeln, ihn auf der Stelle anrufen und zum Geburtstag einladen wollen; er will neugierig umblättern, atemlos weiterlesen oder erschreckt den Atem anhalten, will Hunger, Durst und Schmerzen vergessen und am Schluss erleichtert aufatmen, das Buch schockiert zuklappen oder nach dem letzten Wort meinen, er hätte einen Freund verloren.
  • Der Leser will Außergewöhnliches lesen und nicht das, was er kennt: nicht über den Durchschnittsbürger, der ist er selbst, sondern über Riesen oder Zwerge; nicht über die Durchschnittsehe, sondern über Lachen, Weinen, Streit, Versöhnung. Die Figuren sollen einerseits so sein wie er selbst, er erkennt in ihnen sein Spiegelbild und seinen Schatten. Ist er selbst langweilig und spießig, sollen sie noch langweiliger und spießiger sein. Andererseits sollen sie das bisschen mehr Mut und Glamour besitzen, das er sich selbst immer gewünscht hat, und das sein, vor dem er sich immer fürchtet: Sie sollen böser, feiger, mutiger, schöner, glücklicher sein, sie sollen leidenschaftlicher lieben, tödlicher hassen, sollen größere Wünsche haben, größere Autos fahren und in größeren Häusern wohnen. Der Leser will Erfahrungen sammeln, die er anders nicht gewinnen kann. 
  • Zuschauer geben einem Film sieben Minuten. Werden sie innerhalb dieser Zeit nicht in den Bann der Figuren oder in die Handlung gezogen, sind sie enttäuscht. In der Buchhandlung liest der Kunde den Klappentext und überfliegt anschließend die erste Seite. Er gibt einem Buch also noch weniger Zeit, bis er entscheidet, ob es viele lohnende Lesestunden verspricht. Tauchen der überraschende, wichtige Satz, die mitreißende Figur, erst auf der zweiten Seite auf, ist es zu spät.
  • Der Leser möchte nicht über die Wut Hannas wegen der Untreue ihres Mannes informiert werden, sondern Teller gegen die Wand fliegen sehen. – Er versteht eh etwas anderes unter Wut oder Angst als Sie. – Er möchte nicht erklärt bekommen, dass es regnet, sondern nass werden; er möchte nicht lesen, dass es schneit, sondern durch Schneeverwehungen stapfen: Er will sehen, hören, fühlen, tasten, riechen und schmecken
  • Der Leser achtet auf das kleinste Zeichen. Selbst eine Nebelbank oder ein Armband wie in Elizabeth Georges Krimi Denn sie betrügt man nicht müssen für die Handlung wichtig sein. Ohne die Brille des Professors in Michael Chrichtons Timeline wäre die Geschichte anders verlaufen. Auch ein Spielzeuggewehr muss schießen. Und niemand darf sich grundlos schnäuzen.
  • Der Leser will sich nicht durch einen Text durchkämpfen, er möchte ernst genommen werden. Wenn der Autor ihn so wenig ernst nimmt, dass er seinen Text mit sprachlichen Stolpersteinen spickt, Wort für Wort und Satz für Satz nicht auf deren Wirkung abwägt, warum sollte der Leser dann ihn ernst nehmen? Wenn der Text äußerlich schlampig ist, wie wird erst der Inhalt sein?
  • Der Leser hat das Recht auf einen Text, der nicht mit der heißen Nadel, sprich mit banalen Wörtern, Wendungen oder Sätzen, gestrickt ist. Äußerst beliebt sind Wörtchen, die überall zu passen scheinen und doch nichts sagen, keine Gefühle hervorrufen, wie gutgelaunt. Der Leser muss raten, was gemeint ist, nur weil der Autor sich das Nachdenken über den speziellen Ausdruck erspart hat.
  • Der Leser darf sich nicht langweilen. Er möchte nicht im jedem vierten Thriller lesen, dass sich ein Drachen über den Arm der Schönen schlängelt, nicht in jedem dritten Thriller eine Verfolgungsjagd in einem Museum oder einer Gemäldegalerie und nicht in jedem zweiten, dass jemandem ein Auge ausgestochen wird. Besonders originell ist natürlich, wenn bei der obligatorischen Verfolgungsjagd durch ein Museum das obligatorische Auge ausgestochen wird wie in Frank Schätzings Limit.
  • Der Leser will nicht belehrt und von oben herab behandelt werden. Er ist klüger als Sie denken, stellen Sie sich nicht schlauer dar als er. Seien Sie keine »Briefkastentante«, geben Sie keine Ratschläge oder peinlichen Hinweise. Schreiben Sie nicht mit dem erhobenen Zeigefinger, um dem Leser zu demonstrieren, wie überlegen Sie ihm sind, und geben Sie keine Erzählkommentare, in denen Sie zeigen wollen, wie klug Sie sind und worüber Sie sich im Unterschied zum Leser tiefgründige Gedanken gemacht haben. 
  • Der Leser will sich nicht berieseln lassen, sondern aktiv lesen. Erschlagen Sie Ihren Leser also nicht mit Fakten. Schildern Sie nicht seitenlang, wie Ihr Held eine Dissertation über Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft schreibt, welche Sekundärliteratur er wälzen muss, lassen Sie ihn nicht über Textstellen und Kants Philosophie reflektieren; beschreiben Sie in einem Campus-Roman keine endlos langen Forschungsprogramme. Schließlich schreiben Sie keinen literarischen Gebrauchstext. So füllen Sie zwar Seite um Seite, doch der Leser blättert darüber hinweg. Oft wirkt das auch so, als schaue der Autor mit einem Auge auf seinen Text und mit dem anderen auf Wikipedia.
  • So wie jeder Fußballenthusiast der bessere Trainer ist, dichtet der Leser mit. Schreiben Sie nur, was wirklich wichtig ist. Überlassen Sie dem Leser, die Lücken, das Nichtgesagte, mit Leben zu füllen. Ein Text, der nicht geheimnisvoll ist, wirkt konstruiert – tot. 
  • Und last not least: Der Leser merkt, wenn das Buch lustlos geschrieben ist: Er wird es genauso mühevoll lesen, wie es entstanden ist, und umgehend bei Amazon verhökern.

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