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Mittwoch, 20. Februar 2008

Dreißig Zeilen oder dreißig Wörter? (Nicht) jeder Anfang ist schwer. VII



Sie alle kennen die Romane, in die Sie sich einlesen müssen, bei denen Sie erst nach vielen Seiten in das Buch einsteigen. und wenn der Autor Pech hat, stellen Sie das Buch entnervt in den Bücherschrank. Da Sie nicht zu diesen bedauernswerten Autoren gehören möchten (schließlich wäre es schade um die vielen mühevoll und mit großen Entbehrungen be- und geschriebenen Seiten), reden Sie von Anfang an nicht drumherum, sondern von der Sache selbst. Denn, so Patricia HIGHSMITH, »in der Annahme, daß der Leser sein Auge oder Gehirn nicht gerne der Anstrengung eines langen Abschnitts von dreißig Zeilen aussetzt, ziehen manche Autoren einen kurzen Eingangsabschnitt von einer bis sechs Zeilen vor. Ich finde, daß daran etwas ist. Thomas Mann z. B. kann einen langen, soliden Absatz an den Anfang von Tod in Venedig setzen, aber nicht jedermann schreibt so anregende Prosa wie er.«

In den Buddenbrooks springt Thomas MANN allerdings mit einem Dialog sofort in die Geschichte: »Was ist das. – Was – ist das …« »Je, den Düwel ook, c’est la question, ma très chère demoiselle!« Die Konsulin Buddenbrook, neben ihrer Schwiegermutter auf dem geradlinigen, weißlackierten und mit einem goldenen Löwenkopf verzierten Sofa, dessen Polster hellgelb überzogen waren, warf einen Blick auf ihren Gatten, der in einem Armsessel bei ihr saß, und kam ihrer kleinen Tochter zu Hilfe, die der Großvater am Fenster auf den Knieen hielt.«

Und mit den Gedanken seiner Figur beginnt SCHNITZLER in Die Toten schweigen: »Es ist sonderbar, dachte Franz, wie man sich hier, hundert Schritt von der Praterstraße, in irgendeine ungarische Kleinstadt versetzt glauben kann. Immerhin – sicher dürfte man hier wenigstens sein; hier wird sie keinen ihrer gefürchteten Bekannten treffen.«

Auch die DROSTE hält sich in der Judenbuche nicht lange mit der Vorrede auf: »Friedrich Mergel, geboren 1738, war der einzige Sohn eines sorgenvollen Halbmeiers oder Grundeigentümers geringerer Klasse im Dorfe B«, ebenso Ricarda HUCH in Wonnebald Pück: »Über Berge, auf denen der Schnee noch nicht geschmolzen war, ging Lux Bernkule, ein junges verwitwetes Weib, mit ihren zwei Kindern, dem zehnjährigen Brun und der kaum dreijährigen Lisutt, nach dem jenseitigen Orte Klus, der ihre Heimat werden sollte.«

Beim folgenden Anfang wissen wir sofort, worum es FRISCH geht: um die Identität: »Ich bin nicht Stiller! – Tag für Tag, seit meiner Einlieferung in das Gefängnis, das noch zu beschreiben sein wird, sage ich es, schwöre ich es und fordere Whiskey, ansonst ich jede weitere Aussage verweigere.« (Stiller)

HAMSUN wiederum beginnt manche seiner Werke so direkt, dass Titel und Anfang fast übereinstimmen, wie in den bereits erwähnten Mysterien und in Hunger: »Es war in jener Zeit, als ich in Kristiania umherging und hungerte, in dieser seltsamen Stadt, die keiner verläßt, ehe er von ihr gezeichnet worden ist.« (Über den Beginn mit »Es war« lesen wir hier mal großzügig hinweg – siehe dazu hier meine Ausführungen über erste Sätze, die mit »Es war einmal …« anfangen.

Mehr dazu siehe http://juttas-schreibtipps.blogspot.com/search/label/%C3%9Cbers%20Beginnen

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