Aber: Wie lang ist eigentlich ein Anfang? Er kann einen Absatz, eine Seite oder auch zwei Seiten betragen. Der dichte Anfang, wie im letzten Post beschrieben, gilt als vorteilhafter, weil eine gemächliche Charaktereinführung den Leser ermüden könnte.
Iris ALANYALI nennt Schriftsteller, die bedächtig beginnen, »Schilf-Autoren«. Sie schreibt im Tagesspiegel:
»Man könnte Siegfried Lenz einen Schilf-Autoren nennen. Im Gegensatz zu den Schreibern von Kriminalromanen, die im Fernsehen mit schnellen Schnitten vorzugsweise inmitten des Großstadtlärms interviewt werden, beginnen Porträts von Schilf-Autoren mit einer flötenton-unterlegten Kamerafahrt über unberührte Landschaft und enden mit der Großaufnahme einer Idylle von Pfeife an Lesebrille auf Schreibtisch. So lächerlich derartige Inszenierungen wirken, so treffend beschreiben sie die Atmosphäre, auf die man sich für die Bücher von Schilf-Autoren einlassen können muß.«Wenn der Autor die Regel des Zeigen, nicht informieren einhält, ist es oft günstiger, mit dem Allgemeinen zu beginnen und die Hauptfigur langsam näher zu bringen, sie quasi heranzuzoomen. Auf diese Weise kann er auch erklärende Passagen wie das Aussehen der Figuren, den Ort und die Zeit einführen, ohne dass er zu Rückblenden greifen muss. Doch sollte er seinen Leser nicht seitenlang auf die Folter spannen, bis der Held erscheint, nach zwei Seiten möchte der Leser schon wissen, mit wem er es zu tun hat und wie er heißt. Er wird ärgerlich, wenn er der Wissenschaftler, der Neugierige oder der Eindringling lesen muss, bis er auf Seite 21 endlich erfährt, dass der gute Mann James Smith heißt (was nun auch kein beeindruckender Name ist).
Edgar Allan POE beginnt im Mann in der Menge mit dem Allgemeinen, einer Straße, »einer der Hauptadern« Londons, und entdeckt im »Auf- und Abwogen der tausendköpfigen Menge« das Besondere: sein Individuum:
Außer all diesen Menschen sah ich noch Kuchenverkäufer, Packträger, Kaminfeger Kohlenträger, Orgeldreher, Affenführer, Bänkelsänger, ärmliche, fast zerlumpte Künstler, erschöpfte Arbeiter. Diese alle strömten mit einer lärmenden Geschäftigkeit vorüber, die mit wirren Mißtönen in mein Ohr summte und von der mich mein Auge bald schmerzte.Wie eine Kamerafrau beginnt auch Doris LESSING den Roman Und wieder die Liebe: Sie richtet die Kamera zuerst auf die ganze Szene und zoomt dann die Heldin langsam heran. Sie schildert zuerst, wie sie lebt und wie sie aussieht, bevor sie den Namen nennt. Die Anfangssätze weisen auf die Hauptfigur hin, auf den Schauplatz – ein Theater – und auf das besondere Ereignis: Sarah wird sich verlieben.
Doch steigerte sich mit zunehmender Dunkelheit mein Interesse an all diesen Szenen immer mehr. Nicht nur der allgemeine Charakter der Menge nahm alsbald eine andere Gestalt an, weil der bessere Teil der Bevölkerung sich langsam in die Wohnungen zurückzog und nun der rohere noch kühner hervortrat, sich zu dieser vorgerückten Stunde jedes Laster aus seiner Höhle hervorwagte auch die Strahlen der Gaslaternen, die matt erschienen waren, als sie sich zuerst noch mit dem sterbenden Tageslichte vermischten, gaben jetzt dem Bilde ein anderes, neues Aussehen und überfluteten die Straße mit blendendem Licht, so daß alles dunkel und doch von Strahlen wie übergossen war.
Diese phantastische Beleuchtung regte mich wieder zur Betrachtung der einzelnen Gesichter an, und wenn die Geschwindigkeit, mit der die Personen an dem Lichtscheine meines Fensters vorüberglitten, es auch unmöglich machte, mehr als einen flüchtigen Blick auf einen Vorübergehenden zu werfen, so war’s mir doch, als könne ich in meinem seltsam hellseherisch gesteigerten Zustande auch in diesem kurzen Augenblick die Geschichte langer, langer Jahre lesen.
So studierte ich also, die Stirn an die dunstige Fensterscheibe gedrückt, die vorüberhastende Menge, als mich plötzlich ein Gesicht bannte, das da draußen auftauchte – ein Gesicht von sonderbar stark ausgeprägtem, vielfältigem Ausdruck – ein Gesicht, das einem alten, hinfälligen Manne von fünfundsechzig oder siebzig Jahren angehörte.
Auf den ersten Blick hätte man es für eine Rumpelkammer halten können, …, aber dann bewegte sich ein Schatten, eine Gestalt tauchte auf, um Vorhänge zurückzuziehen und Fenster aufzureißen. Es war eine Frau, die rasch auf eine Tür zuging und dahinter verschwand, ohne sie zu schließen. Und nun sah man, daß der Raum übervoll war. An einer Wand standen alle möglichen Zeugen des technischen Fortschritts (…), doch abgesehen davon hätte es sich ebensogut um einen Theaterfundus handeln können, denn neben der überlebensgroßen, goldenen Büste irgendeiner Römerin gab es Masken, einen purpurroten Samtvorhang, Theaterplakate und Stapel mit Notenblättern oder vielmehr Fotokopien, die die vergilbten und allmählich auseinanderfallenden Originale getreulich wiedergaben. …Effi Briest beginnt ebenfalls wie eine Kamerafahrt: Die Kamera nähert sich einem Herrenhaus, schwenkt über eine Schaukel, die »Pfosten der Balkenlage schon etwas schief stehend« – dem zentralen Leitmotiv des Romans, das nicht nur für Kindheit, aber auch für Risiko und Gefahr steht, sondern auch für den Aufbau des Romans (die Handlung beginnt im Herrenhaus und endet dort) – und ruht im zweiten Absatz schließlich auf »Frau und Tochter des Hauses«.
Keine junge Frau, wie man aufgrund ihrer kraftvollen Bewegungen leicht hätte meinen können, solange man sie nur undeutlich im Dunkeln sah …
Die Frau war lebhaft und voller Energie, aber der Anblick, der sich ihr bot, schien ihr nicht zu behagen. Doch sie schüttelte ihr Mißfallen ab, ging zu ihrem Computer, setzte sich hin und schaltete ein Tonband ein.
…
Die Frau saß da, die Finger startbereit auf den Tasten, und ihr war bewußt, daß sie sich dieser Schwester aus vergangenen Zeiten überlegen fühlte, um nicht zu sagen, sie verachtete. Diese Erkenntnis gefiel ihr gar nicht. Wurde sie etwa intolerant?
Gestern hatte Mary aus dem Theater angerufen und erzählt, daß Patrick völlig durcheinander sei, weil er sich wieder mal verliebt habe, und sie hatte darauf mit einer bissigen Bemerkung reagiert.
»Ach komm schon, Sarah«, hatte Mary sie zurechtgewiesen.
Auch bei Kapiteln ist es oft ratsam, langsam zu beginnen. Christina GODSHALK führt auf diese Weise in ihrem Roman Kalimantaan eine Figur ein:
Schönheitscremes, Liebestränke der Swatow, Emailleschüsseln in drei Größen, indische Flinten mit doppeltem Lauf und Sensen aus Eisen erweiterten das dürftige Angebot des Pasar Pagi, seit die Pengirane nicht mehr ihren Anteil einzogen. Eine kleine Nuß war gewachsen und aufgeplatzt.Ob Sie mit der Tür ins Haus fallen oder mit einer Kamerafahrt beginnen, hängt jedoch auch von Ihrem Tempo ab. Sie legen sich zum Beispiel mit einem rasanten, besonders originellen Anfang fest, was auf die Dauer schwer durchzuhalten ist. Viele Bücher leiden darunter. Schalten Sie also, wenn Sie atemlos schreiben, bald etwas zurück, damit Sie später das Tempo wieder steigern können. Wenn Sie lakonisch anfangen, müssen Sie diese Gangart konsequent durchhalten.
Im Gefolge dieser bescheidenen Zurschaustellung von Wohlstand und Fleiß traf eine neue Spezies ein, so bizarr wie das Unternehmen, von dem sie angezogen wurde. Die plötzlich massenhaft auftretenden Chinesen brachten sie auf die Idee, Möglichkeiten auszuloten. Gerüchte von offenem Handel und dem Fehlen einer übermächtigen kolonialen Faust setzten sie in Bewegung. Eine kleine Armee sickerte ins Land, immer hübsch der Reihe nach, zusammengesetzt aus Desperados, Verbrechern, Gesetz- und Heimatlosen, wahnsinnigen Genies und schlicht Wahnsinnigen, jeder mit besonderen Begabungen, man mußte auf der Suche danach nur die Schwielen und den Moder durchdringen. Doch kein Angehöriger dieses Stammes war so formvollendet wie das Geschöpf, das vor Ramadan am Kaufladen von Heng Fo Peng auftauchte und unter der Hand einen fragwürdigen Gusi Bulan feilbot.
Um was für ein Wesen es sich handelte, ließ sich unmöglich feststellen, aber es hatte etwas Einnehmendes. Albert Dawes, den seine Freunde, darunter Kayans und Mitherumtreiber aus Moreton Bay, »Peachy« nannten, pries dem argwöhnischen Chinesen die Vorzüge des großen blauen Kruges an.
Mehr dazu siehe http://juttas-schreibtipps.blogspot.com/search/label/%C3%9Cbers%20Beginnen
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