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Mittwoch, 13. Juni 2012

Ein Waldspaziergang (Über die Bedeutung von Wörtern)


Stellen Sie sich vor, Sie spazieren mit sechs Freunden an einem Herbstnachmittag durch einen Wald. Sie schauen Ihre Begleiter an, atmen tief ein voll Glück, dass Sie mit Gleichgesinnten zusammen sein dürfen. Das ist ganz und gar nicht selbstverständlich heutzutage, überlegen Sie und schlucken ein bisschen und wischen sich ein Tränchen aus dem Auge.

Sieben Freunde spazieren also durch den denselben Wald. Nur: Der eine schätzt, wie viel Klafter Holz er ergibt und errechnet den Gewinn, der zweite bestimmt die Baum- und Pflanzenarten und freut sich über ein seltenes Exemplar, der dritte schaut nach Pilzen und Blaubeeren aus und kocht in Gedanken das Abendessen, der vierte beklagt den sauren Regen, der fünfte bewundert die Krabbeltiere auf einem Ameisenhaufen und lauscht dem Hämmern eines Spechts, dem sechsten ist der Wald halt ein Wald, an dem er sich erfreut, und der siebte ist wie immer voller Worte und schreibt in Gedanken ein Gedicht. Sieben Freunde spazieren durch den Wald und sind Kaufmann, Botaniker, Koch, Umweltschützer, Zoologe, einfach Mensch – hier darf er’s sein – und Dichter. Vielleicht ist der eine auch ein Patriot, der den deutschen Wald besingt, und der andere ein Griesgram, der mit finsterer Miene durch den Wald stolpert, weil er lieber in der Kneipe säße.

Oder das: Sie besichtigen mit einem Freund Kloster Melk in der Wachau. Bei einem Mauerdurchbruch, der den Rahmen für eine eindrucksvolle Aussicht auf die Donau bilden würde, jammern Sie darüber, dass Sie Ihren Fotoapparat vergessen haben. Ihr Freund aber sieht ‘nur' die Straße, die sich an der Donau entlang schlängelt – und vermisst sein Fahrrad.

Sprache ist immer symbolisch. So alltägliche Wörter wie Wald sind nur ein Hinweis auf einen Gegenstand. Auch bei Mutter und Vater weiß jeder, wovon die Rede ist. Doch letztlich hängt der Sinn eines Wortes von unseren Erfahrungen ab.  Was der eine mit einem Gefühl tiefer Geborgenheit verbindet, bedeutet für den anderen lebenslange Kränkung. Denn jeder Mensch sieht die Welt mit seinen eigenen Augen, hat seine eigene Sicht der Dinge, sein persönliche Deutung von Wörtern. Beim Lesen wählen wir aus, wessen wir gerade bedürfen, Trost oder Ansporn, Frage oder Antwort, Vertrautes oder Rätselhaftes.

Sprache sagt nicht aus, was ist und wie die Welt ist, sie bildet nicht die Wirklichkeit ab, sondern unsere besondere Art, sie wahrzunehmen, und auszuwählen, was wir für nennenswert halten. Nicht umsonst spricht man von Weltanschauung und Weltbild (mehr zu den beiden Begriffen siehe Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Bd. 28, Sp. 1531 ff.)

Und genau aus diesem Grund sind Interpretationen des eigenen Textes meist nicht möglich. Denn ebenso wie der Autor seine Weltanschauung einbringt, bringt der Leser seine Denkweise ein. Er entnimmt ihm seine eigene Wahrheit, anders, als der Autor geplant hatte. 

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