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Sonntag, 2. Oktober 2011

Über Geheim- und andere Sprachen


Es ist schwer verstanden zu werden: besonders wenn man gangasrotogati denkt und lebt, unter lauter Menschen, welche anders denken und leben, nämlich kurmagati oder bestenfalls, »nach der Gangart des Frosches«, mandukagati – ich tue eben alles, um selbst schwer verstanden zu werden? … (Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse)
Diese drei Wörter finden Sie noch nicht einmal im Fremdwörterbuch – und wer will überhaupt einen Roman lesen mit einem Fremdwörterbuch in der Hand –; sie sind Ihnen aber geläufig, wenn Sie Sanskrit sprechen: Sie bezeichnen musikalische Tempi der Inder: die Gangarten des Flusses Ganges (presto = schnell), der Schildkröte (lento = langsam) und des Frosches (stakkato = abgestoßen). Doch wer kann das schon. Und wer spricht fließend Englisch, Französisch oder Latein?

Lassen Sie Ihre Figuren also nicht in fremden Sprachen parlieren – reden natürlich. Der Leser mag sich aus dem Zusammenhang denken, was gemeint sein könnte, doch vermutlich wird er darüber hinweglesen – wozu haben Sie es dann geschrieben? Um mit Ihren Fremdsprachenkenntnissen zu brillieren? Was der Leser Thomas MANN im Zauberberg verzeihen mag – ellenlange Dialoge in Französisch – und ECO im Namen der Rose – Gebete, Anklagen und Zitate in Latein (auch wenn die Übersetzungen im Anhang stehen, wer blättert gern bei der Lektüre hin und her?) –, weil der übrige Text gut ist, wird er Ihnen nicht verzeihen. Nicht ohne Grund gelten die ersten Sätze von TOLSTOIS Krieg und Frieden als Paradebeispiel für einen schlechten Anfang:
»Eh bien, mon prince, Genua und Lucca sind weiter nichts mehr als Apanage-Güter der Familie Bonaparte. Nein, ich erkläre Ihnen, wenn Sie mir nicht sagen, daß wir Krieg bekommen werden, und wenn Sie sich noch einmal unterstehen, alle Schandtaten und Grausamkeiten dieses Antichristen in Schutz zu nehmen (denn daß er der Antichrist ist, das glaube ich), so kenne ich Sie nicht mehr. Vous n’êtes plus mon ami, vous n’êtes plus mein treuer Sklave, comme vous dites. Vor allem aber: Guten Abend, guten Abend. Je vois que je vous fais peur. Setzen Sie sich und erzählen Sie.«
So sprach im Juni 1805 das bekannte Hoffräulein Anna Pawlowna Scherer, die Vertraute der Kaiserin Maria Fjodorowna, als sie den Fürsten Wassilij empfing, einen hohen, einflußreichen Beamten, der als erster zu ihrer Abendgesellschaft erschien.
In Gedichten sollten Sie auf Fremdwörter völlig verzichten. Was haben dort Wörter wie sine die (ohne (gesetzten) Tag = ohne einen neuen Termin) zu suchen? Ganz schlecht ist, wenn der Dichter solche Wörter mit Sternchen versieht und unter dem Gedicht die Übersetzung angibt.

Demonstrieren Sie auch nicht mit Fachausdrücken, wie klug Sie sind und was Sie alles wissen. es sei denn, Sie gebrauchen sie als Euphemismus, als »Glimpfwort« (Jacob GRIMM), wie FONTANES Stechlin:
Ich muß frische Luft haben, vielleicht erste Zeichen von Hydropsie. Kann eigentlich Fremdwörter nicht leiden. Aber mitunter sind sie doch ein Segen. Wenn ich so zwischen Hydropsie und Wassersucht die Wahl habe, bin ich immer für Hydropsie. Wassersucht hat so etwas kolossal Anschauliches.
Branchenjargon gehört ebenso wenig in einen fiktiven Text. Ihnen ist er vertraut, aber nicht Ihrem Leser.

Marilyn FRENCH schreibt in ihrem Roman Der Krieg gegen die Frauen:
Carol Cohn verbrachte einen Sommer mit männlichen Experten der Nuklearstrategie. Um sie zu verstehen – und um sich selbst verständlich zu machen – mußte sie ihre Sprache lernen. Eine Sprache, die größtenteils aus Wortschöpfungen besteht, aus Akronymen, Abkürzungen, die für die meisten von uns ein Buch mit sieben Siegeln sind.
Cohn fand diese Sprache »sexy«, weil sie ihr den Machtgenuß verschaffte, Dinge zu wissen, die gewöhnliche Leute nicht wissen, weil dieses Wissen der Beweis für die eigenen Vertrautheit mit den geheimsten, weitreichendsten Belangen staatlicher Politik war. Entsetzt gestand sie sich ihre Lust an dieser Sprache ein und führte aus, welche Verführungskraft der Macht eines solchen Wissens innewohnt. es machte ihr nicht nur Spaß, diese Wörter zu benutzen, sie fühlte sich auserkoren, weil sie die Sprache gottgeweihter Priester kannte, deren Bestimmung es war, zu verschleiern und ehrfürchtige Scheu zu erwecken.
Ein Experte auf seinem Gebiet schrieb einmal: »Der Dichter muß die aktuellen Anlässe eliminieren, umdadurch die Gefühlserreger in ihrer vollen Intimität zu isolieren, konzentrieren, prononicieren.« Alles klar?

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