Seiten

Sonntag, 2. Oktober 2011

Über den erhobenen Zeigefinger


Der Leser ist klüger, als Sie denken, stellen Sie sich umgekehrt nicht schlauer dar als er. Seien Sie keine »Briefkastentante«, geben Sie keine Ratschläge oder peinlichen Hinweise. Schreiben Sie nicht mit dem erhobenen Zeigefinger, um dem Leser zu demonstrieren, wie überlegen Sie ihm sind.

Der Leser will nicht belehrt und von oben herab behandelt werden.
Wenn Sie Ihre Sicht der Dinge einbringen oder Verhältnisse anprangern wollen, die Sie empören, veranschaulichen Sie Ihre Erkenntnisse so, dass der Leser sich im Text wiederfindet. Lassen Sie eine Figur über Ihre Ansichten über den Klimawandel kurz(!) nachdenken oder mit einer anderen unterhaltsam über das Elend der Welt diskutieren. Seitenlanges Grübeln darüber, wie schlecht die Zeiten doch sind, langatmige Erläuterungen, wie es dazu kam, oder ellenlange Diskussionen darüber, weshalb jetzt paradiesische Verhältnisse in der Welt herrschen (falls Sie einen utopischen Roman schreiben), überfliegt der gelangweilte Leser, zumal er selbst weiß, wie schlecht die Zeiten sind.

Ein Text, dessen Thema allein dazu dient, Missstände zu beklagen oder die Vision einer besseren Gesellschaft zu entwerfen kann noch so gut gemeint sein, er wirkt aber fast immer eindimensional, weil der Autor sich so auf sein Thema konzentriert, dass er vergisst, die Charaktere auszuarbeiten und kritiklos den Helden als makellos und die Schurkin als uneingeschränkt böse darstellt, ohne Brüche und Facetten, ohne Chance zur Entwicklung, und so ins Triviale abrutscht. Es geht nicht um Erkenntnis, die der Leser gewinnen soll, sondern um die Wirkung, die der Autor erreichen will.

Literatur bedeutet ja gerade, unter die Oberfläche zu schauen und zu erkunden, was sich dort verbirgt. Sie soll das Unsagbare sagen, das Unrecht anklagen, aber mit literarischen Mitteln. Der Autor soll nicht nur etwas erreichen, sondern selbst etwas erfahren wollen; die Wirklichkeit, die er sich wünscht, soll er nicht darlegen, sondern sie soll vom Leser erforscht werden. Die ehrenwerten Absichten allein genügen nicht. Denn solche Bücher gleiten schnell in Betroffenheitsprosa ab. Außerdem findet der Leser kopflastige Romane meist  langweilig. Auch wenn Ihr Anliegen ihn ebenso beschäftigt wie Sie, kauft er lieber ein Sachbuch, weil er sich dort besser informiert fühlt.

Henning Mankell zum Beispiel klagt in seinen Romanen die Gesellschaft Schwedens an: Jugendliche werden zu Monstern, ein altes Bauernehepaar wird wegen ein paar Kronen ermordet, unglückliche Nachbarn töten glückliche, weil sie deren Anblick nicht ertragen. Seine Bücher sind Bestseller, weil er nicht belehrt, sondern sein Anliegen unterhaltsam darstellt und zwischen den Zeilen mitteilt.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen