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Sonntag, 2. Oktober 2011

Über Dichter, die lügen, und ihr Pakt mit dem Leser


In literarischen Texten ist alles möglich, da gibt es Vampire, Elfen, Zauberer, da berichtet der Freigelassene und Privatsekretär Marcus Tullius Tiro in Robert Harris Romanen Imperium und Titan vom Leben M. Tullius Ciceros, da gibt es eine fiktive Autobiografie des römische Kaisers Claudius, und der Arzt Sinuhe  schildert sein turbulentes Leben zur Zeit des Pharao Echnaton. Shakespeare verlegt im Wintermärchen die wüste Gegend Böhmen ans Meer (siehe dazu auch http://de.wikipedia.org/wiki/B%C3%B6hmen_am_Meer), und Thomas Hettche schreibt in seinem Roman Nox:  »Da war ich längst tot«, schreibt also aus der Sicht eines Toten. Wallenstein verhält sich anders als die historische Figur, umgekehrt bewegen sich fiktive Personen wie die Buddenbrooks in Lübeck an Orten, die heute  noch existieren. Die Fakten sind also nicht an die Wirklichkeit gebunden. Und  der Leser lässt sich auf solche Scheinwahrheiten ein, weil er gut unterhalten werden möchte.

Samuel Taylor Coleridge prägte dafür die Formel »suspension of disbelief« – die freiwillige Aussetzung des Zweifels oder, salopp gesagt, die dichterische Freiheit –:
... wir sind übereingekommen, dass meine Bemühungen auf übernatürliche – oder zumindest romantische – Personen und Figuren gerichtet sein sollten, aber trotzdem so, dass es möglich ist, eine Verbindung mit den Figuren aufzubauen und so diese Schatten der Einbildungskraft mit jener momenthaften willentlichen Aussetzung der Ungläubigkeit auszustatten, die ein Vertrauen in die Dichtung schafft. (Übersetzung laut Wikipedia)

… in which it was agreed, that my endeavors should be directed to persons and characters supernatural, or at least romantic; yet so as to transfer from our inward nature a human interest and a semblance of truth sufficient to procure for these shadows of imagination that willing suspension of disbelief for the moment, which constitutes poetic faith.
(In The Works of Samuel Taylor Coleridge, Prose and Verse, 1840,  S. 308)
Der »Pakt« zwischen Autor und Leser, den Anspruch auf die Echtheit des Gelesenen und damit jeden Zweifel daran aufzuheben und so die perfekte Illusion zu schaffen, ist für Coleridge ein Merkmal von Literatur. Erst das mache die Rezeption, also die Aufnahme und Übernahme von fremden Gedanken, Handlungsweisen und Wertvorstellungen, eines Kunstwerks möglich.

Anders ausgedrückt: Der Leser soll sich von der Geschichte mitreißen lassen und nicht schon bei der Lektüre sagen: Das ist doch alles erfunden! Der Pakt bedeutet aber nicht, dass der Leser Ungereimtheiten der Handlung, der Emotionen und bei den Figuren billigt. Er respektiert die Autorität des Autors nur, solange er den Eindruck hat, dass das, was dieser schreibt, so auch geschehen sein könnte.

Dass sich der Leser freiwillig einer Illusion hingibt, ist jedoch seit der Antike verbreitet. Aristoteles definiert Literatur durch das Merkmal der Fiktionalität (von lat. fictio: Bildung, Gestaltung, Personifikation), für ihn ist also Literatur das, »was geschehen könnte«:
… es (ist) nicht Aufgabe des Dichters ... mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte, das heißt das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche. Denn der Geschichtsschreiber und der Dichter unterscheiden sich nicht dadurch voneinander, daß sich der eine in Versen und der andere in Prosa mitteilt – man könnte ja auch das Werk Herodots in Verse kleiden, und es wäre in Versen um nichts weniger ein Geschichtswerk als ohne Verse –; sie unterscheiden sich vielmehr dadurch, daß der eine das wirklich Geschehene mitteilt, der andere, was geschehen könnte. (Von der Dichtkunst; http://www.matoni.de/dichtk/aristpo1.htm)
Aristoteles sieht das also nicht so eng wie Platon, für den Dichtung Lüge ist, denn so wie ein Maler eines Tisches nur ein Abbild des Gegenstandes ›Tisch‹ liefert, stellt auch die Dichtung nur ›Trugbilder‹ der Wirklichkeit her. Da die nachgeahmten Gegenstände selbst bereits bloße Abbilder der Ideen sind, befindet sich  Dichtung in doppelter Distanz zu den Ideen. Sie liefert also Trugbilder ›zweiten Grades‹ (mehr dazu siehe hier).

Fiktionalität ist eben nicht dasselbe wie Lüge, sondern bedeutet, dass man lügen darf, ohne dass es jemanden stört.

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