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Montag, 17. Oktober 2011

Stephen King übers Feilen, über Adverbien, Pronomen, die Moral von der Geschicht’, Lektoren und Leser

Wenn dann der richtige Abend kommt (…) holen Sie das  Manuskript aus der Schublade. Wenn es wie ein fremdartiges Relikt aussieht, das Sie in einem Kramladen oder auf dem Flohmarkt erstanden haben, ohne sich noch daran erinnern zu können, ist es soweit. Nehmen Sie bei geschlossener Tür Platz (…), holen Sie sich einen Stift und einen Block. Dann lesen Sie das Manuskript. (…) Sie können sich Notizen machen, aber konzentrieren Sie sich in erster Linie auf die nüchterne Aufräumarbeit wie die Korrektur von Rechtschreibfehlern und das Auffinden von möglichst vielen Widersprüchen. Davon wird es eine Menge geben – nur Gott macht es schon beim ersten Mal richtig, und  nur ein Pfuscher sagt: »Ach, das reicht so, wofür gibt es einen Lektor?« (…)

Nach sechs Wochen Erholung werden Ihnen auch die gähnenden Löcher in der Handlung oder in der Figurenentwicklung auffallen. Damit meine ich Löcher, durch die ein Lastwagen fahren könnte. Es ist erstaunlich, was dem Schreiber entgeht, wenn er Tag für Tag nach Wörtern ringt. Und jetzt hören Sie gut zu: Es ist streng verboten, sich zu ärgern oder selbst zu kasteien, weil Sie so viele eklatante Fehler finden. Bockmist passiert den besten von uns. (…) Die krassesten Fehler, die ich beim Überarbeiten finde, haben bei mir immer mit dem Verhalten der Figuren zu tun (ist verwandt mit der Figurenentwicklung, aber nicht ganz dasselbe). Dann schlage ich mir mit der flachen Hand vor die Stirn, greife zum Block und schreibe beispielsweise: S. 91: Sandy Hunter klaut einen Dollar aus Shirleys Kasse in der Versandabteilung. Wieso? Herrgott, so was würde Sandy NIEMALS tun! (…)

Bei diesem Arbeitsgang kontrolliere ich in erster Linie Handlungsablauf und Belange des Werkzeugkastens: Pronomen mit unklarem Bezug werden rausgeworfen (ich hasse Pronomen, mißtraue ihnen, jedes ist so schmierig wie diese Anwälte, die  einen über Nacht aus jeder Bredouille paucken), klärende Zusätze werden, wo notwendig, eingefügt, und natürlich werden alle Adverbien gestrichen, von denen ich mich trennen kann (niemals alle, niemals genug).

Im Hinterkopf stelle ich mir währenddessen die »Großen Fragen«. Die größte lautet: Ist diese Geschichte schlüssig? Wenn ja, wie kann daraus ein wahres Kunstwerk werden? Welche Elemente tauchen immer wieder auf? Greifen sie ineinander und bilden eine Thematik? In anderen Worten, ich frage mich: Worum geht’s hier eigentlich, Stevie? Was kann ich tun, um die verborgenen Anliegen stärker hervorzuheben? Was ich mir am meisten wünsche, ist Resonanz; das Buch soll ein wenig in den Gedanken (und im Herzen) des treuen Lesers nachklingen, wenn er es wieder geschlossen und zurück ins Regal gestellt hat. Das will ich erreichen, ohne dem Leser eine Botschaft eintrichtern oder mich für eine geheuchelte Moral verkaufen zu müssen. Botschaft und Moral, die kann man alle in einen Sack stecken und mit dem Knüppel draufhauen, verstanden? Ich will Resonanz erzeugen. Darum konzentriere ich mich beim Überarbeiten auf die Aussage meines Textes und  füge Szenen und Vorkommnisse hinzu, die mein Anliegen  unterstreichen. Zusätzlich tilge ich alles, was in eine andere Richtung führt (…). Dieser ganze Müll muß weg, wenn ich eine einheitliche Wirkung erzielen will.

Stephen King, Das Leben und das Schreiben, S. 234f.

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