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Samstag, 18. September 2010

Schreibtipp von Horaz. VII

IWir andern Dichter, meine edeln Freunde,
wir fehlen meistens nur vom Schein des Guten
getäuscht, und oft wenn wirs am besten meinen.
Man gibt sich Mühe kurz zu sein, und wird
darüber dunkel, oder nervenlos
indem man leichte Dinge leicht behandeln will.
Ein andrer strebt nach Größe auf, und schwillt;
dafür kriecht jener dort, aus Furcht des Sturms,
der in der Höhe weht, am Boden hin:
und dieser, um recht unerhört zu sagen,
was nur auf Eine Art sich sagen läßt,
malt euch Delphinen in den Busch, und läßt
die Nereid' auf einem Eber schwimmen.*

Die Furcht zu fehlen wird die reichste Quelle
von Fehlern, wenn sie nicht vom Kunstgefühl
geleitet wird. …

Quintus Horatius Flaccus 

*Dies ist, denke ich, der Sinn dieser, von den französischen Übersetzern gänzlich verfehlten, zwei Verse unsers Autors. Er tadelt nämlich die Dichterlinge, die aus eitler Sucht sich über das Gemeine zu erheben, und immer neu zu sein, auch da, wo die Natur der Sache nur Eine Art der Darstellung, nämlich die natürliche, und nur Eine Bezeichnung, nämlich die gewöhnliche, zuläßt, was neues, nie gesagtes zu Markte bringen wollen, und sich darüber ins Abenteuerliche und Ungereimte verirren. Der wilde Eber gehört in den Wald, der Delphin ins Meer; dabei muß es bleiben. Jemanden mit der Nase sehen, mit den Augen hören, mit den Ohren riechen lassen, ist freilich neu; aber es ist Unsinn.

(In Horazens Brief an L. Calpurnius Piso und seine Söhne [Von der Dichtkunst (De arte poetica)], übersetzt von Christoph Martin Wieland)

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