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Samstag, 21. März 2009

Was ist Literatur. VI.


Pro U-Literatur

Gute Unterhaltungsliteratur (nicht zu verwechseln mit Kitsch) hat aber durchaus ihre Berechtigung, und es ist kein Wunder, dass in Deutschland viel mehr englischsprachige als deutschsprachiger Romane gelesen werden. REICH-RANICKI weiß, weshalb: »Man sehe sich die Romane und Kurzgeschichten solcher Autoren an wie Saul Bellow, John Updike, Yoyce Carol Oates. Alle diese Autoren verachten das Publikum nicht, und anders als viele deutsche Autoren vergessen sie den Leser nie.«

Auch Gregor DOTZAUER bricht eine Lanze für die Unterhaltungsliteratur:
An trüben Tagen, wenn man sich wieder einmal durch besonders ambitionierte neue deutsche Prosa quält, kann es einem schon so vorkommen, als wäre die ganze Literatur eine Angelegenheit von Doktoranden, Gymnasialprofessoren und höheren Töchtern. Man stellt sich vor, wie unglückliche Menschen feingliedrige Metaphern für den fatalen Weltenlauf entwerfen, die andere unglückliche Menschen mit schwerem hermeneutischem Instrumentarium entschlüsseln. Und man malt sich aus, wie Autoren und Leser dabei zusammen von einer Schönheit träumen, die sich spätestens bei einer Stadtteilbibliotheks-Lesung, zwischen Leuchtstoffröhren, Resopal-Tischen und stapelbaren Plastikstühlen, als hoffnungslos überirdische Sehnsucht entpuppt. Im Grunde muß man nur an die Tristesse des Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs denken, damit einen ein heiliger Zorn packt und man bereit ist, all die Forderungen an eine saftlose Literatur zu unterschreiben, die man inzwischen schon auswendig kann: Mehr Spaß! Mehr Sex! Mehr Glamour! Mehr Drogen! Mehr Wahnsinn! Mehr Gegenwart! Mehr Wirklichkeit!
BECKETT las Kriminalromane von Edgar WALLACE, Agatha CHRISTIE, Erle Stanley GARDNER und STOUT, um sich zu entspannen.

Für Patricia HIGHSMITH sind Schriftsteller »Entertainer«: »Sie genießen es, Dinge in reizvoller und amüsanter Form darzubieten, damit Zuschauer oder Leser überrascht aufblicken, anteilnehmen und Spaß an der Darbietung haben.«

– Man stelle sich den Aufschrei hierzulande vor, wenn ein anerkannter Autor zugäbe, er wolle amüsant schreiben, damit sein Leser Spaß bei der Lektüre habe. –

Auch REICH-RANICKI benutzt das Wort amüsant:
Dürrenmatt hat vor bald dreißig Jahren sehr richtig gesagt, daß gerade große Schriftsteller sehr wohl imstande gewesen wären, das Ihrige unter den auferlegten Bedingungen an den Mann zu bringen: Indem sie den menschlichen Unterhaltungstrieb einkalkulierten, hätten sie amüsant geschrieben und damit bewiesen, daß sie ihr Geschäft verstehen.
Jeder Dramatiker, ob SHAKESPEARE, HAUPTMANN, legt Wert darauf, seinen Zuschauer zu unterhalten, und denkt auch an den weniger anspruchsvollen. BRECHT will Gesellschaftskritik üben und die Welt verändern, und doch baut er Lieder in seine Stücke ein. Ihm ist wichtig, dass seine Botschaft alle Menschen erreicht, auch die, denen der Ton mehr sagt als das Wort. Sind die Dreigroschenoper oder der Sommernachtstraum deshalb trivial?

REICH-RANICKI geht es
also immer wieder darum, daß sich die Autoren bemühen sollten, die in Deutschland besonders große und ärgerliche Kluft zwischen der Literatur und ihren Adressaten zu verringern. Nur dies hatte ich im Sinn, wenn ich gelegentlich bedauerte, daß es den intelligenten deutschen Unterhaltungsroman nur sehr selten gibt. Ich habe einmal gesagt, der Weg von dem in den Niederungen gelegenen »Schloß Hubertus« des Ludwig Ganghofer zu dem auf einem hohen Berggipfel befindlichen »Schloß« sei beschwerlich, könne aber den Lesern erleichtert werden, wenn sie, von einem Schloß zum anderen aufsteigend, auf halber Höhe Rast machen, beispielsweise in einem »Schloß Gripsholm«. Eine derartige Literatur auf mittlerer Höhe ist legitim und heute nötiger als je. Man könnte hier die Unterhaltungsromane von Erich Kästner nennen, die Kriminalromane von Dürrenmatt und ähnliches. Beispielhaft ist diese Zwischenstufe in der angelsächsischen Welt. Ich meine solche Autoren wie Somerset Maugham, Priestley, Angus Willson und, vor allem, den hierzulande meist unterschätzten Graham Greene. Heute, da die Literatur von allen Seiten bedroht ist, scheint mir die Rolle und Funktion derartiger Romane und Erzählungen besonders wichtig.
Thomas MANN entgegnet auf HESSES Vorwurf, in der Königlichen Hoheit seien gar zu viele »Antreibereien des Publikums« zu finden, dass ihm daran gelegen sei, nicht nur von Kennern und Eingeweihten gelesen zu werden.

SCHLINK, der mit dem Vorleser einen Weltbestseller geschaffen hat, sagt, dass er eine Literaturlandschaft mag,
die nicht aufgeteilt ist zwischen »U«- und »E«-Kultur. Ich wollte immer Bücher schreiben, die man in jeder Bahnhofsbuchhandlung kaufen kann und einfach in die Tasche steckt und unterwegs liest, im Zug, in der U-Bahn. Und was ich so an Zuschriften aus den USA bekomme, zeigt eine ganz demokratische Leserschaft: von Intellektuellen bis zu Mitgliedern eines kleinen Buchclubs irgendwo im Mittleren Westen.
Während einer Lesereise wurde der erfolgreichsten zeitgenössischen Kriminalautorin, Elizabeth GEORGE, bedeutet, dass eine wie sie nicht im Hamburger Literaturhaus auftreten dürfe. Sie sagt dazu in einem Interview mit dem Tagesspiegel:
In unserer Diskussion über die Frage »Was ist Literatur?« fiel dieser Satz, der mich sehr erschüttert hat. Ich weiß, dass in Deutschland ein großer Unterschied gemacht wird zwischen Literatur und Unterhaltung. Doch ich frage mich schon manchmal: Wo ordnen sie jemand wie Hemingway ein oder, um auf England zu kommen, Jane Austen. Beide sind nicht unbedingt Vertreter einer elaborierten Sprache, die in Deutschland anscheinend Voraussetzung für Literatur ist.
Auf die Frage, ob sie deutsche Literatur kennt, antwortet sie: »Leider nicht gut. Zurzeit lese ich Medeas Stimmen von Christa Wolf. Ein gutes, ein schönes Buch. Und nun würde mich mal interessieren: Ist das in Deutschland Literatur oder Unterhaltung?«

– Man mag zu Elizabeth Georges Romanen stehen, wie man will, aber erschaffen die Autoren, die zur Zeit hoch gelobt werden, wirklich Hochliteratur? –

Arthur C. CLARKE erhielt 1998 für seine Verdienste um die Literatur den Ritterschlag. »Das macht mich sehr glücklich, weil Science-Fiction oft nicht als Literatur ernstgenommen wird«, sagt Sir Arthur.

In Deutschland wird nicht nur Science-Fiction abgelehnt (was auch daran liegen mag, dass früher selbst gut geschriebene SF-Literatur als Heftchenroman erschien). Sogenannte Experten werten die Leistung eines Schriftstellers ab, wenn er eine beachtliche Verkaufszahl erreicht oder – wie furchtbar – einen Bestseller landet. Als sich Ende der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts Martin WALSERS Fliehendes Pferd gut verkaufte, warfen ihm Kritiker Anbiederung an den Massengeschmack vor.

Mittlerweile haben die Literaturwissenschaftler jedoch den Leser entdeckt und kommen langsam vom Begriff des literarischen Textes als Sprachkunstwerk ab.

1 Kommentar:

  1. Der letzte Satz Ihres Textes sagt das Entscheidende: Es ist ja längst nicht mehr so! Längst haben wir unseren Kehlmann als Beweis, dass Unterhaltung heute auch intelligent sein darf, unsern Schlink als Beweis, dass Schullehrermoral auch spannend gestaltet werden darf, ... Nur in einem haben Sie Recht: entspannt und nett, das schaffen die Deutschen nicht. Erst wenn es in Deutschland eine Anna Gavalda gibt, werde ich anfangen, deutsche Unterhaltungsliteratur zu lesen.

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