U-Literatur
Texte, die den ästhetischen, formalen und funktionalen Kriterien der Literaturwissenschaft nicht genügen, gelten als trivial. Wer keine literarischen Texte, sprich Hochliteratur oder E-Literatur, schreibt, geht auf das Bedürfnis einer möglichst großen Anzahl von Käufern, also aufs Massenpublikum, ein und verfasst Trivialliteratur (deshalb spricht man heute auch von Massenliteratur).
Nur – wie passt GOETHES Ausspruch »Wer nicht eine Million Leser erwartet, sollte keine Zeile schreiben hierhin«? Und wie sieht es aus mit SCHILLER, der mit trivialen Erzählmustern einen größeren Leserkreis erreichen wollte, so mit seiner Erzählung Verbrecher aus verlorener Ehre und seinem Fortsetzungsroman Der Geisterseher. Der Roman ist ein Politthriller mit einem obskuren Geheimbund (wofür er sich mit den Illuminaten und Rosenkreuzlern beschäftigte), mit Spiritismus, Hokospokus, einer schönen Betrügerin und geheimnisvollen Ereignissen, wodurch ein Prinz in die Fänge des besagten Geheimbundes gelangt, der durch ihn einen Thron für die Kirche erwerben will; also mit allen Elementen der U-Literatur. Der Roman blieb unvollendet, denn Schiller bezeichnete seine Romane später als »Schmiererei«, die er allmählich satt habe, obwohl er mit dem Geisterseher sein höchstes Honorar erzielte.
Schiller hatte auch keine Schwierigkeiten, von den Autoren von Abenteuerromanen und Schauerliteratur zu lernen. Er beschwerte sich zwar darüber, dass »das immer allgemeiner werdende Bedürfnis zu lesen ... noch immer von mittelmäßigen Scribenten und gewinnsüchtigen Verlegern dazu gemißbraucht (wird), ihre schlechte Ware ... in Umlauf zu bringen«. Dennoch wäre es kein »geringer Gewinn … für die Wahrheit, wenn sich bessere Schriftsteller herablassen möchten, den schlechten die Kunstgriffe abzusehen, wodurch sie sich Leser erwerben, und zum Vorteil der guten Sache davon Gebrauch machen.« Denn »es (ist) an einem unterhaltenden Buch schon Verdienst genug, wenn es seinen Zweck ohne die schädlichen Folgen erreicht, womit man bei den meisten Schriften dieser Gattung das geringe Maß der Unterhaltung, die sie gewähren, erkaufen muss«.
(Wenn es Sie interessiert: Hier ist eine ausführliche Darstellung über Schiller als Romanschriftsteller.)
Aber auch Goethe las Romane von Trivialautoren, um zu lernen, wie er im Wilhelm Meister einen Geheimbund agieren lassen könnte.
Heitere Texte können expressis verbis keine E-(ernste) Literatur sein, gelten also ebenfalls als trivial.
Bei der Trivialliteratur (von lat. trivialis: gewöhnlich – im Sinne von ordinär, allgemein bekannt) wird die Handlung in anspruchsloser Sprache (In der tiefblauen Bucht, auf die eine strahlende Sonne lachte, lag eine blendendweiße Yacht vor Anker) mit vielen schmückenden, nichtssagenden Adjektiven (Die beiden entzückenden jungen Frauen genossen ein leckeres Mahl und plauderten gut gelaunt miteinander) und breit getretenen Metaphern (Er versank in ihren blauen Augen wie in einem abgrundtiefen Meer) nach immer demselben simplen Muster – zwei links, zwei rechts – gestrickt, und eine Masche, die fällt, wird nicht wieder aufgenommen. Die Trivialliteratur gleicht einem Streuselkuchen: Er ist bedeckt mit Streuseln verschiedener Größe. Jeder Streusel ist anders, sie schmecken aber alle gleich.
Sie wird auch nach immer demselben Schema verfasst (deshalb wird sie auch als Schemaliteratur bezeichnet). Probleme werden so gelöst, wie es der Leser erwartet, Gefühle beschrieben statt im Leser hervorgerufen und die Charaktere einfach gezeichnet. Gut und Böse sind feststehende Kategorien: Der Gute ist ohne Fehler und braucht den Bösen als Gegenspieler. Nuancen kommen kaum vor. Gute Taten und hohe Ideale werden einseitig, klischeehaft und damit verlogen dargestellt, auf das Schlechte wird mit dem moralisierenden Zeigefinger hingewiesen.
Elend und Armut werden zum Beispiel romantisch verbrämt (die arme Einwandererfamilie, die trotz allem Hunger und Elend zusammenhält und ihre Kinder zu achtbaren Menschen erzieht wie in Die Asche meiner Mutter). Bruno PREISENDÖRFER schreibt dazu: »In den Künsten ist die unveredelte Darstellung von Armut in Wahrheit sehr selten, weil so etwas ästhetisch nicht genießbar ist. Elend ist schmutzig, stinkt und entwürdigt diejenigen, die ihm zum Opfer fallen, weil sie die Elenden selber schmutzig, stinkend, böse und gemein machen.«
Trivialliteratur spiegelt nicht die Wirklichkeit. Die Texte haben keinen »doppelten Boden«, weil das, was sie sagen wollen, auf dem Silbertablett präsentiert wird. Die Trivialliteratur ist eine Ware, für die nicht die literarischen Regeln gelten, sondern der Markt. Ein belangloses Manuskript wird zum Bestseller, wenn der Schreiber jemanden findet, der mehrere hunderttausend Euro spendiert.
Autoren von Trivialliteratur kommt es auf Spannung und action an, und nicht auf Sorgfalt bei der sprachlichen und inhaltlichen Ausführung
Besser als FLAUBERT in Madame Bovary kann man Trivialliteratur nicht beschreiben:
Es wimmelte darin von Liebschaften, Liebhabern, Geliebten, verfolgten Damen, die in einsamen Gartenpavillons in Ohnmacht sanken, von Postillionen, die an jeder Poststation ermordet wurden, von Rossen, die man auf jeder Seite zuschanden ritt, von düsteren Wäldern, Herzenswirrnissen, Schwüren, Seufzern, Tränen und Küssen, Gondelfahrten bei Mondschein, Nachtigallen in den Gebüschen, von Edelherren, die tapfer wie Löwen und sanft wie Lämmer waren, dazu stets schön gekleidet und tränenselig wie Urnen. Ein halbes Jahr lang machte sich Emma als Fünfzehnjährige mit dem Staub der alten Leihbibliotheken die Hände schmutzig. Später berauschte sie sich mit Walter Scott an historischen Begebnissen, träumte von Truhen, Waffensälen und Minnesängern. Sie hätte, ach! so gern auf einer alten Burg gelebt wie jene Schloßfräulein im langmiedrigen Gewand, die unter Kleeblattfensterbogen ihre Tage hinbrachten und, den Ellbogen auf den Stein und das Kinn in die Hand gestützt, Ausschau hielten nach dem Reiter mit der weißen Feder, der auf einem Rappen von weither über die Ebene herangaloppiert kam. Damals trieb sie auch einen wahren Kult mit Maria Stuart und verehrte enthusiastisch alle berühmten oder unglücklichen Frauen. Jeanne d’Arc, Héloise, Agnes Sorel, die schöne Helmschmiedin und Clemence Isaure hoben sich leuchtend wie Kometen von der endlosen Finsternis der Geschichte ab, aus der noch hie und da, jedoch verlorener im Dunkel und ohne jede Beziehung untereinander noch andere Gestalten hervortraten: der heilige Ludwig mit seiner Eiche, der sterbende Bayard, ein paar Greueltaten Ludwigs XI., ein bißchen Bartholomäus-Nacht, der Helmbusch des Béarners hervortraten, und immer wieder die Erinnerung an die bemalten Teller, auf denen Ludwig XIV. verherrlicht wurde.Die Einteilung von Autoren in solche von E- und von U-Literatur ist oft subjektiv, von Vorurteilen geprägt. Zu den U-Autoren zählt außer Karl MAY, Hedwig COURTHS-MAHLER oder Vicki BAUM auch VERNE, weil seine literarischen Mittel nicht ausreichten, um eine atmosphärische Dichte zu erzeugen, wie es heißt. Dem widerspricht Arno SCHMIDT: Für ihn liegt Vernes »eigentliches literarisches, noch nie so recht gewürdigtes Verdienst« darin, dass er als Erster »den Groß-Nachweis geführt hat: wie die Errungenschaften des Technikers … nicht nur nicht poesie-zerstörend wirkten; sondern vielmehr unerhört neue-reiche Gebiete dem Dichter eröffneten!«.
Erstaunlicherweise wird SIMMEL ist inzwischen anerkannt. »Der Simmel-Diskurs ist schick geworden«, schreibt Beatrice VON MATT. Er gilt als »demokratischer Gebrauchsschriftsteller«, als »Chronist unserer Zeit«.
Seine ersten Bücher wie Es muss nicht immer Kaviar sein und Mich wundert, daß ich so fröhlich bin waren zwar gelungen, doch seither sind seine Romane, in denen er über so wichtige Themen wie die Mafia, die Zerstörung des Regenwaldes oder die Gentechnik schreibt, nach immer demselben Muster gestrickt: Kennt man einen seiner Helden, kennt man alle, und immer wird der edelmütige, leicht weltfremde Held mit der zauberhaften Heldin eine zauberhafte Affäre erleben. Ärgerlich sind auch die Phrasen: »Ungeheure Trauer ging von ihm aus«, »Das Traurigste, was ich jemals gesehen habe«, »Großes Erlebnis, mit Ihnen zusammenzutreffen«. Der Leser liest darüber hinweg und beschäftigt sich mit dem, was wirklich wichtig ist, eben der Mafia, der Zerstörung des Regenwaldes oder der Gentechnik. Nur bleibt dann nicht viel übrig. Er fragt sich, wie er einen Text schlecht finden kann, wenn es Simmel doch um das Gute geht. Nur leider sorgt der sich zu sehr um die Welt und zu wenig um die Kunst.
Kinder- und Jugendbücher zählen ebenfalls zur Trivialliteratur, weil sie in kunstloser Sprache und nur für eine bestimmte Gruppe geschrieben werden. Doch viele bekannte Schriftsteller wie Martin WALSER und BRECHT schreiben auch für die Jugend. Viele Jugendbücher sind Erwachsenenbücher, sogar Weltliteratur geworden, wie die Schatzinsel oder Robinson Crusoe. Und Millionen Erwachsene verschlingen ein Kinderbuch: Harry Potter. Für Harald MARTENSTEIN »hängt es damit zusammen, dass eine bestimmte Art des Schreibens sich zu einem großen Teil in den Kinder- und Jugendbuchmarkt zurückgezogen hat. Naiv, aber kunstvoll, geradeaus erzählt, aber skrupellos fabulierend, keinem literarischen Modell verpflichtet, nur der eigenen Fantasie und der Lust des Publikums«.
KÄSTNER, der nicht nur Jugendbücher schrieb, sondern auch Satiriker, Feuilletonist, Romançier und zeitkritischer Lyriker war, galt als »Gebrauchspoet« – ein Titel, auf den er stolz war. Er bekannte sich zur Einfachheit und Klarheit in Sprache und Stil, zu Volksnähe und Witz – das, was seine Kritiker bemängelten. »Mit der Sprache seiltanzen, das gehört ins Varieté«, kritisiert er seine Kritiker.
Ich kann das ganze Eingeteile in "hohe" und "Trivial"-Literatur einfach nicht mehr hören. Als wäre ein Unterhaltungsroman nicht genauso wertvoll wie "hohe" Literatur - meinen Sie allen Ernstes, Sie könnten davon so abfällig reden? Bislang habe ich von Ihnen auch noch nichts im E-Bereich hier lesen können.
AntwortenLöschenMeine Güte.
Entschuldigung, ich habe den Kommentar erst eben entdeckt.
AntwortenLöschenIch habe einen Beitrag über „Pro U-Literatur“ eingestellt (http://tinyurl.com/d7xbpr) und auch über E-Literatur geschrieben (http://tinyurl.com/c2kke2). Die Unterscheidung in E- und U-Literatur habe ich kritisiert.