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Dienstag, 17. Februar 2009

Textarten (Was ist Literatur. II)


Der literarische Text

Ein Text (von lat. textus: Gewebe, von textere: weben) ist wie ein Teppich ein inhaltlich zusammenhängendes Gebilde. Der Schreiber webt ihn mit langen und kurzen Fäden – einige aus Zwirn und andere aus Seide –, er verflechtet sie kunstvoll und entwirrt sie wieder. Er tauscht gelbe gegen grüne, wenn sie ihm besser gefallen, und entfernt Fäden, die den Stoff überfrachten. Aber immer führt durch den Text ein roter Faden. Ab und zu wird der Teppich aufgedröselt und neu gewebt, doch nie darf der rote Faden verloren gehen. Und zum Schluss verknüpft der Schreiber kunstreich die losen Enden.

Er knüpft innere Bilder zu prunkvollen Ornamenten, und er webt hinein Tränen und Blut und manchmal ein Lachen, seine Erinnerungen und Ängste, Faden auf Faden, Farbe auf Farbe. Nicht immer ist das hübsch, was er verknüpft, nicht immer schimmert es und ist schmiegsam. Das darf es auch gar nicht sein. Denn er webt Widersprüche hinein und seine Wut und seine Gedanken über sich und die Welt.

Manche Erzähler schaffen in mühevoller Handarbeit ein wohl gebildetes Gewebe, dessen Farben auch nach Jahren noch leuchten, andere mit maschineller Routine synthetische Massenware.

Der Schriftsteller erschafft eine Illusion, eine Welt mit sprechenden und handelnden Menschen, mit Dingen und Ereignissen, die es ohne ihn nicht gäbe. Er zeigt die Schönheit und den Zauber, die zu entdecken sind, wenn der Leser die Welt mit den Augen des Erzählers sieht – Schneelandschaften oder Straßenfluchten, einen Regenmorgen am Meer oder einen Sonnenaufgang über der Wüste. Er lockt den Leser durch die packende Darstellung atmender Figuren, sich mit ungewohnten Themen, Menschen und Schicksalen zu befassen.

Der Schriftsteller beschreibt die Welt nicht, wie sie ist, er lässt sie erscheinen.

Der literarische Text erfüllt durch seine Gestaltung – wie Aufbau, Perspektive und Art des Erzählens –, durch seine Sprache – wie den Gebrauch rhetorischer Figuren und das Vermeiden von Klischees –, und dadurch, dass er dem Leser neue Erfahrungen ermöglicht, ästhetische (Ästhetik = Lehre von der Schönheit; von gr. aisthetikós: das Wahrnehmbare betreffend) Ansprüche und wird sinnlich erfahrbar. Für Sigrid LÖFFLER transportiert »literarische Sprache, wenn sie gelingt, … Bilder, Klänge, Phantasien, Erregungszustände, (sie) schafft den unmittelbaren Zugang zu den Gefühls- und Erinnerungsspeichern und gewinnt damit ihren ästhetischen Reiz«.

Der Leser kann alle Wörter, die er benötigt, in einem Wörterbuch finden. Was er aber in Ihren Geschichten findet, ist der Sinn der Worte. Und wichtiger noch, das Gefühl, das dieser Wortsinn in ihm erzeugt. … Nicht das zählt, was gesagt wird, sondern die Wirkung dessen, was gemeint ist. (Sol STEIN)

Der literarische Text beruht auf In-Frage-Stellen. TSCHECHOW schreibt am 27. Oktober 1898 an SUVORIN:
Wenn Sie vom Künstler ein bewusstes Verhältnis zu seiner Arbeit verlangen, so haben Sie recht, aber Sie verwechseln zwei Begriffe: die Lösung der Frage und die richtige Stellung der Frage. Nur zum zweiten ist der Künstler verpflichtet. In »Anna Karenina« und im »Onegin« wird keine Frage gelöst, aber beide befrieden Sie völlig, nur weil in ihnen alle Fragen richtig gestellt sind.
Ein Text mag wie die Ethik oder die Philosophie Fragen stellen nach der Moral, nach dem rechten Verhalten, er darf jedoch anders als sie keine allgemeingültigen Antworten bieten.

Der literarische Text wird nicht geschrieben, sondern sprachlich gestaltet und nach stilistischen Regeln logisch aufgebaut. Dazu gehört auch die zeitliche Ordnung. Der inhaltliche Zusammenhang reicht nicht aus, wie ich an einem Ausschnitt aus dem Kapitel Landwirtschaftsausstellung , das als eine der gelungensten Passagen in den Romanen des neunzehnten Jahrhunderts gilt, in FLAUBERTS Madame Bovary zeigen möchte:
Darin standen die Tiere, mit den Mäulern nach dem Strick hin, die ungleichmäßig hohen Kruppen aneinandergereiht, wie es gerade kam. Pferdeknechte mit nackten Armen hielten an den Trensen sich bäumende Zuchthengste, die mit geblähten Nüstern nach der Seite hin wieherten, wo die Stuten standen. Kälber brüllten, Schafe blökten, Kühe, das Knie eingeknickt, breiteten ihre Bäuche auf dem Rasen aus, käuten langsam wieder und zuckten mit den schweren Lidern, der sie umschwärmenden Stechfliegen wegen. Schläfrige Schweine wühlten mit ihrem Rüssel im Erdboden.
Ist der Text richtig gegliedert oder wirkt er unharmonisch? Richtig: ich habe die Sätze umgestellt (und einen Punkt in ein Semikolon geändert). Der erste Satz ist richtig, der folgende schildert die Szene, der darauf folgende stellt sie allgemeiner dar und der letzte Satz ungenau. Normalerweise wird vom Allgemeinen zum Besonderen beschrieben. Wie beim Zoom geht der Blick erst in die Weite, und dann werden die Einzelheiten herangeholt. Flaubert, der erste moderne Schriftsteller, beschreibt Menschen, Ereignisse und Landschaften mit fotografischer Genauigkeit, seine Sätze und Szenen ähneln Schnittfolgen und der Kameraperspektive beim Film. Hier ist also die richtige Fassung:
Darin standen die Tiere, mit den Mäulern nach dem Strick hin, die ungleichmäßig hohen Kruppen aneinandergereiht, wie es gerade kam. Schläfrige Schweine wühlten mit ihrem Rüssel im Erdboden; Kälber brüllten, Schafe blökten, Kühe, das Knie eingeknickt, breiteten ihre Bäuche auf dem Rasen aus, käuten langsam wieder und zuckten mit den schweren Lidern, der sie umschwärmenden Stechfliegen wegen. Pferdeknechte mit nackten Armen hielten an den Trensen sich bäumende Zuchthengste, die mit geblähten Nüstern nach der Seite hin wieherten, wo die Stuten standen.
Außerdem gehört zu einem literarischen Text die gleichmäßige Verteilung dessen, was erzählt werden soll: Es dürfen nicht einige Stellen mit Ereignissen überfrachtet und andere mit leerem Gerede gefüllt werden. Nicht zuletzt gehört zu ihm die optische Gestaltung wie die Unterteilung in Absätze und Kapitel.

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