Seiten

Freitag, 22. August 2008

Helden oder Bösewichter (Ihre Figuren. IV)


Kein Mensch ist schlecht, keiner! Und ich verbürg’ es. (WILDE)

Auch Ihr edler Held hat Schwächen und darf verlieren. – Achill und Siegfried sind uns sympathisch gerade wegen ihrer verwundbaren Stellen. – Er darf nicht vollkommen sein; er muss das haben, was ARISTOTELES den »tragischen Fehler« nennt: Der Leser möchte, dass sich durch einen Konflikt Wesen und Handlungsweise des Helden zum Besseren ändern. Denn ist er fehlerlos, kann sein Charakter nur schlechter werden. Nur der Trivialautor beachtet nicht die Widersprüche, die einen Charakter ausmachen. Denken Sie beim Entwerfen Ihrer Figuren auch an die Leiche im Keller oder das Skelett im Schrank, an ihre Schatten.

Schildern Sie also einen Charakter durch Gegenmotive: Zeigen Sie das Laster vor dem Hintergrund einer Tugend. Versehen Sie Ihren Schurken mit positiven Eigenschaften, damit er nicht plakativ wirkt: der Vorliebe für Barockmusik oder dem Engagement für Obdachlose. Oder schildern Sie ihn so böse, dass er schon wieder fesselt. Umgekehrt soll Ihr »edler« Held negative Eigenschaften besitzen: Der Klaviervirtuose schlägt seine Kinder, die Sozialarbeiterin ist eine Kleptomanin.

Soll Ihre Hauptfigur Sieger oder Besiegter sein? – Doch bedenken Sie, dass Figuren, die Sie anfangs als Schurken schildern, später zu Helden werden können. Wer hat nicht schon Mitleid mit dem Dieb oder Kidnapper gehabt, dem die Polizei dicht auf den Fersen war, weil sie mit all ihren Schwächen und Stärken geschildert werden? –

Barbara SLAWIG findet es »unerlässlich«,
»auch diejenigen Personen stark und stimmig zu gestalten, mit deren Handlungsweise ich im wirklichen Leben nicht einverstanden wäre. Es ist für einen Autor sehr leicht, einer Person den moralischen Boden unter den Füßen wegzuziehen, sie als böse zu denunzieren. Die meisten Menschen handeln jedoch aus der Überzeugung heraus, dass ihre Handlungsweise gerechtfertigt ist, und wenn ich diese Überzeugung als lächerlich oder fadenscheinig hinstelle, dann mache ich die Person zu einer Pappfigur.«
Auch Ihr Bösewicht schläft, träumt, isst, lacht und wird geliebt.

Für einen Wahnsinnigen wird Ihr Leser sich kaum interessieren, weil er zu unmotiviert handelt, für einen Psychopathen jedoch eher als für einen edelmütigen Helden. Dr. Hannibal Lecter aus HARRIS’ Schweigen der Lämmer fasziniert gerade deshalb, weil er menschlich dargestellt wird.

Ihre Figuren wirken dynamischer, wenn sie in einem Umfeld handeln, das nicht ihrem Charakter entspricht. Der Weichling stopft keine Kartoffelchips vorm Fernseher in sich hinein, sondern strampelt in einem Fitnessstudio verzweifelt seine Pfunde ab. Die mausgraue Beamtin tanzt in einer Disco, wohin sie ein junger Punk gelockt hat.

Lassen Sie den Charakter sich äußerlich erkennbar widersprechen. Versehen Sie einen farblosen Menschen mit einem reichhaltigen Innenleben und eine sympathischen Figur mit miesen Eigenschaften. Der Held – ein Psychopath – in Ruth RENDELLS Sonderling wirkt so liebenswert, dass der Leser hofft, dass er keinen weiteren Mord begeht. Natürlich mordet er dann doch.

Auch die Widersprüche im Charakter müssen, wie alle Eigenschaften Ihrer Figuren, für Ihren Text wichtig sein; sie müssen ihr Handeln und Fühlen beeinflussen.

Zeigen Sie den Charakter Ihrer Figuren anhand der Umgebung, in der sie leben. Graham GREENE beschreibt zum Beispiel ein Zimmer:
Dieses Zimmer hatte ich noch nie gesehen; ich war stets nur Sarahs Freund gewesen, und als ich Henry kennenlernte, geschah es in ihrem Bereich, in dem Wohnzimmer mit der bunt zusammengewürfelten Einrichtung, von der nicht zwei Stücke zusammenpaßten, demselben Stil angehörten oder planvoll aufgestellt waren, wo alles dem jeweiligen Augenblick anzugehören schien, weil niemals ein Erinnerungszeichen eines vergangenen Geschmacks, eines überlebten Gefühls zurückbleiben durfte. Dort machte die Einrichtung den Eindruck, daß sie benützt wurde, während ich jetzt in Henrys Arbeitszimmer das Empfinden hatte, daß es nie wirklich bewohnt worden war. Ich zweifelte, ob er Gibbons »Römische Geschichte« je aufgeschlagen hatte, und die Gesamtausgabe von Scotts Werken stand wohl nur deshalb da, weil sie – gleich der Bronzekopie des Diskuswerfers – vermutlich aus dem Besitz seines Vaters stammte. Und doch war er in seinem kaum benutzten Zimmer glücklicher, einfach deshalb, weil es sein Eigentum war. Voll Bitterkeit und Neid dachte ich: Wenn man etwas sicher in seinem Besitz weiß, dann braucht man es nie zu benützen. (Das Ende einer Affäre)
In der Erzählung Als die Standuhr drei Mal schlug wird der Charakter anhand der Wohnung und dem Tagesablauf der Heldin gezeigt:
Nach dem Frühstück fuhr sie mit dem Teppichkehrer über die Fußböden der zwei Zimmer von den fünf, die sie nur noch bewohnte. Anschließend ging sie im Stadtpark spazieren und auf dem Rückweg schaute sie beim Supermarkt an der Ecke vorbei, legte ein halbes Pfund Mohrrüben oder Rosenkohl, eine kleine Packung Reis, ein Viertel Gehacktes und manchmal auch ein Putenschnitzel in den Einkaufswagen. Und Kitekat und Trill. (jmw)
Erklären und beschreiben Sie nicht den Charakter, sondern zeigen Sie ihn.

Schildern Sie Ihren Helden so, dass sich der Leser mit ihm identifizieren kann. Was aber, wenn Ihr Held, wie bei Ruth Rendel, ein Psychopath ist? Dann, so Patricia HIGHSMITH, für die allerdings das Identifizieren »ein Terminus« ist, »den ich schon nicht mehr hören kann«, »sollte man dem Leser einen oder zwei weniger wichtige Personen liefern (am besten eine, die nicht von dem psychopathischen Helden umgebracht wird), damit er sich mit einer von ihnen identifizieren kann.«

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen