Oh je, höre ich Sie sagen, da habe ich Ihre Beiträge studiert, ich habe sie ausgedruckt und durchgearbeitet, habe alles Wichtige markiert (und manchmal ein Fragezeichen an den Rand geschrieben), habe meinen Figuren Eltern, Geschwister, Großeltern Onkel, Tanten, Cousins und Freunde und eine Ausbildung gegeben, habe sie mit Vorlieben und Abneigungen, mit Talenten und mit mindestens zwanzig negativen und dreißig positiven Charaktereigenschaften versehen. Ich weiß, wie sie aussehen, was sie fühlen, wie sie sich geben, und trotzdem bleiben sie nur Papierfiguren. Wie kann ich sie atmen lassen – wie kann ich sie lebendig machen? Noch einmal: Schlüpfen Sie in Ihre Figuren und seien Sie Roswitha oder Martin, ebenso wie Ihr Leser das tut, wenn Sie sie gut geschildert haben. Nicht Roswitha leidet die Qualen eines Liebeskummers, sondern Sie erleiden ihn, nicht Martin wird gemobbt, sondern Sie. Nicht Hannelore findet ein Kästchen mit Goldmünzen, sondern Sie, nicht Anna fährt voll Sehnsucht in die Toskana, sondern Sie, und wenn Sie Kindergeschichten schreiben, ist nicht Paule plötzlich auf einem fernen Planeten, sondern Sie sind es. Sie verkörpern die Figur, ebenso wie ein Schauspieler, wie Dustin Hoffman Rain Man ist und Meryl Streep Karen Blixen.
Doch wie es so ist, Menschen sind Individuen und haben ihren eigenen Willen und ihre eigenen Vorstellungen. Damit ein lebendiger Text entsteht, müssen Sie sich von Ihren Figuren überraschen lassen, die im Laufe des Schreibens ihr eigenen Leben führen. Eine Nebenfigur kann sogar zur Hauptfigur werden und die Hauptfigur zur Nebenfigur. Denn die Figuren lösen sich von Ihnen, entwickeln sich, entscheiden sich und handeln, ohne Sie zu fragen. Manchmal beeinflussen sie sogar den Ausgang dessen, was Sie erzählen möchten. CERVANTES wollte mit Don Quijote die Fahrten der Troubadoure und damit die altmodischen Ritterromane verspotten, doch »der Ritter von der traurigen Gestalt«, wie Ludwig TIECK ihn nennt, entwickelte ein Eigenleben: Aus dem Narren wurde im zweiten Band ein Idealist, der an der Wirklichkeit scheitert, daran, dass die Träume, die er der Lektüre von Ritterromanen entnommen hatte, nicht mit ihr vereinbar waren.
Die Figuren beginnen zu leben und Sie leben mit ihnen. Sie lieben sie – wie soll Ihr Leser sie lieben, wenn Sie das nicht tun –, Sie leiden und freuen sich mit ihnen und weinen, wenn Sie Ihre Heldin sterben lassen müssen, auch wenn das für die Geschichte notwendig ist. Harry MULISCH erzählt von seinen Erfahrungen beim Schreiben seines Romans Siegfried:»Als der kleine Siegfried erschossen wird, da tat ich mich schwer. Ich habe öfters geschrieben, wie einer stirbt. Normalerweise trinke ich ein Glas Wein, wenn mir diese Szene gelungen ist. Diesmal war es anders, es war scheußlich. ... Ich habe ihn auf andere Weise getrunken, ich wollte was wegspülen.«
Für die Dramaturgie Ihrer Geschichte kann es sogar wichtig sein, dass Sie Ihre Figur quälen, sogar durch psychische Gewalt, auch wenn Sie das ablehnen und Sie körperliches Unbehagen beim Schreiben fühlen. »Quäle die Heldin«, rät DUMAS D. Ä. allen werdenden Autoren. Je mehr Unglück der Autor auf den Schultern seiner Hauptfigur ablädt, um mehr Aufmerksamkeit wird er beim Publikum finden.
Die Figuren können aber auch ein Eigenleben entfalten, das Sie erschreckt: Ihr Held zeigt plötzlich negative Eigenschaften oder der Antagonist entwickelt sich zum Positiven. Unter Umständen müssen Sie sogar den Roman umschreiben. Das kann zum Beispiel erforderlich sein, wenn Sie über einen Landwirt von altem Schrot und Korn schreiben und auf Seite 170 feststellen, dass er sich völlig anders verhält, als Sie beabsichtigt hatten, weil Sie anders als ein Landwirt denken und es Ihnen nicht gelungen ist, sich in dessen Welt zu versetzen. Auch Schauplatz oder Zeit können sich ändern. Halten Sie nicht an den einmal festgelegten Orten fest, gönnen Sie Ihren Figuren auch die örtliche Veränderung.
Das Eigenleben der Figuren und Handlungen macht einen Text lebendig.
Andererseits: ECO wusste, als er »Jorge in die Bibliothek setzte«, »noch nicht, daß er der Mörder war. Er hat das Ganze sozusagen auf eigene Faust getan. Und man halte das nicht für einen »Idealismus« wie die Behauptung, Romanpersonen hätten ein Eigenleben und der Autor lasse sich, wie in Trance, ihr Handeln von ihnen eingeben. Dummheiten für Abituraufsatzthemen. Nein, die Personen sind gezwungen, nach den Gesetzen der Welt zu handeln, in der sie leben. Anders gesagt, der Erzähler ist der Gefangene seiner eigenen Prämissen.«
Ob das Eigenleben der Figuren nun Dummheit ist oder nicht: Geben Sie die Regie nicht ab und schauen nur noch zu, was mit Ihrem Text geschieht: Sie entscheiden über Ihre Geschichte, das Wohl und Wehe Ihrer Figuren – Sie sind der Boss. Ihre Geschichte geschieht einzig und allein auf dem Papier, sie lässt sich jederzeit mit einem Füllerstrich oder Mausklick ändern. Seien Sie also mutig und spielen Sie mit den Möglichkeiten: Die Heldin schickt ihren Liebhaber in der nächsten Szene in die Wüste; wenn sie ihn ermordet, besorgen Sie ihr im nächsten Kapitel einen guten Anwalt. Ja, Sie können sogar aus dem Paul eine Paula machen und umgekehrt: aus dem Mann, der dreißig Jahre älter ist als seine Geliebte, eine Frau, die dreißig Jahre älter ist als ihr Geliebter. Bei meiner Kurzgeschichte Fräulein K. habe ich das getan. Zuerst war es Herr K., der sich in eine viel jüngere Frau verliebt. Das fand ich abgedroschen und verwandelte Herrn K. in Fräulein K. (was merkwürdigerweise die Männer nicht gut fanden).
Und noch etwas: Die Idee, die Sie zum Schreiben veranlasst hat, ist kein Dogma. Gestatten Sie sich neue Einfälle, die Ihnen im Laufe der Geschichte kommen. Manchmal ist es angebracht, die ursprüngliche Idee dortzulassen, wo sie anfangs war: in Ihrem Kopf, und das Papier, auf das Sie Ihr Konzept (von lat. concipere: aufnehmen, erkennen, auffassen, schwanger werden) geschrieben haben, dorthin zu werfen, wohin Konzeptpapiere gehören: in den Papierkorb.
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