Seiten

Dienstag, 15. Juli 2008

Über Silbenschleppzüge und Wortdreimaster, ellenlange Wörter und Schwulst


CHURCHILL verkündete den Engländern in seiner berühmten Rede vor dem britischen Unterhaus am 13. Mai 1940 blood, toil, tears and sweat – Blut, Mühsal, Tränen, Schweiß –, denn er wusste, dass kurze Wörter am eindringlichsten sind und am meisten berühren: »Die alten Wörter sind die besten, und die kurzen, wenn sie alt sind, die allerbesten.« Hand und Fuß sagen wir, und Haus und Hof, Glück und Pech, Freud und Leid. Für Jean PAUL ist »Je länger aber ein Wort, desto unanschaulicher«, und HORAZ spricht von »sesquipedalia verba« – ellenlangen Wörtern (siehe http://juttas-schreibtipps.blogspot.com/2007/09/schreibtipps-von-horaz-iv.html).

GOETHE benutzt im Erlkönig 67 Prozent einsilbige Wörter. Bei 215 Wörtern schreibt er 144 Einsilber, 63 Zweisilber (darunter neun Mal Vater), sechs Dreisilber (drei Mal Erlkönig) und nur zwei viersilbige Wörter: Erlenkönig. In der ersten Strophe sind von 31 Wörtern nur fünf zweisilbig, das sind 84 Prozent.

Vermeiden Sie also die »Silbenschleppzüge« (SCHNEIDER), die »Wortdreimaster« (SCHOPENHAUER) wie Glatteisbildung, Rauchentwicklung, oder wie im Tagesspiegel stand: Windmühlenflügelkämpfer. Das mir bekannte längste Wort heißt: Rindfleischetikettierungsüberwachungsaufgabenübertragungsgesetz, das sind 63 Buchstaben. Denken Sie bei solchen Wörtern an MARK TWAIN, der feststellte, dass manche deutschen Wörter »so lang« sind, »daß sie perspektivisch wirken. Es sind keine Wörter, es sind alphabetische Prozessionen.« Er schuf die Transvaaltruppentransporttränentragödie, doch das sind nur 33 Buchstaben … Und denkt er nicht ökonomisch, wenn er schreibt: »Das Wort unsere Metropole werde ich nie schreiben, um keinen Preis. Für unsere Stadt kriege ich ja dasselbe bezahlt«? – Berühmt sind auch die Kolonialwarenhändlerinsünden, Familienvatersorgenfalten und Hausputzbackwaschundbügelsonnabend von Günter GRASS.

Schreiben Sie Raum statt Räumlichkeit und Stuhl statt Sitzgelegenheit. Fassen Sie Substantive zusammen: Wir sprechen nicht von einer Predigt, die Jesus auf einem Berge hielt, sondern von der Bergpredigt. Möchten Sie auf Wörter mit mehr als drei Silben nicht verzichten, dann teilen Sie sie mit einem Bindestrich.

Doch auch dabei ist zu beachten: Wechseln Sie die Länge der Wörter: Nur einsilbige wirken monoton, vielsilbige erinnern an Amtsdeutsch.

HORAZ schreibt von »ellenlangen« Wörtern, womit er hochtrabende Wörter meint oder auch Wörter, die unnötig verschwendet sind. Das hat mir keine Ruhe gelassen. Gab es die Bedeutung »ellenlang« schon in der Antike oder ist sie nur eine freie Übersetzung von Christoph Martin WIELAND?

Schauen wir uns mal das Original an:

»Telephus et Peleus, cum pauper et exul uterque
proicit ampullas et sesquipedalia verba.«

Und dazu die Übersetzung:

»Da werfen sie die hohen Stelzen und
die ellenlangen Wörter gerne weg!«

Tatsächlich bedeutet das Wort »sesquipedalia« anderthalb Fuß oder auch ellen-lang. Denn im alten Griechenland gab es neben dem hauptsächlich verwendeten Fuß (von gr. pous) zu 16 Fingerbreit auch die Pygme – die Elle –, die vom Unterarm bis zum Handgelenk reichte und 18 Fingerbreit war. Horaz meint also damit Wörter, die aus so vielen Silben bestehen, dass sie anderthalb Fuß lang – ellenlang – erscheinen.

Auch Carl VON LINNÉ, der bei der Benennung von Gattungen, Arten, Varietäten und Synonymen von Pflanzen die übermäßig langen Wörter beseitigte, spricht in der Fundamenta Botanica von »ellenlang«. In seinen Prinzipien zur Benennung schreibt er: »Nomina Generica Sesquipedalia, enunciatu difficilia, vel nausepsa, fugienda sunt« – Gattungsnamen, die ellenlang, schwierig auszusprechen oder ekelhaft sind, sind zu vermeiden. Er ging bei den ellenlangen Wörtern jedoch schon von Wörtern mit mehr als 12 Buchstaben aus. Ein unbekannter Kritiker schreibt allerdings in der Allgemeinen Literatur-Zeitung vom September 1832 zur 6. Auflage von Linnés Species Plantarum: »Das vorzügliche Verdienst [der alten Aufl., ju] bestand in seiner zweckmäßigen Form, wonach die Arten weder durch Überladung mit Synonymen und Zitaten entstellt sind … Freilich ist diese Dürftigkeit auch im vorliegenden Bande bemerkbar, und wir vermissen die treuherzigen nomina sesquipedalia durch die man sich immer hie und da Rath erholte, mitunter ungern.«

Wielands Übersetzung ist also richtig. Allerdings hätte er ampulla (= dickbäuchige Flasche) besser als Schwulst, überladener Schmuck, bezeichnen sollen, wie in der Rhetorik üblich und wie es Horaz sicher gemeint hat (siehe auch ampullor = schwülstig reden, schwülstig schreiben im Lateinischen oder ampuloso = schwülstig, hochtrabend im Spanischen ), denn das trifft das Gemeinte besser als hohe Stelzen (vermutlich kannte er das englische Wort sesquipedalian für schwülstig, vielsilbig, sehr lang nicht), wie wir auch bei LESSING sehen. Der schreibt in seiner Hamburger Dramaturgie über das Stück Der unglückliche Liebling, oder Graf von Essex von John BANKS: »Nur den Stil des Banks muß man aus meiner Übersetzung nicht beurteilen. Von seinem Ausdrucke habe ich gänzlich abgehen müssen. Er ist zugleich so gemein und so kostbar, so kriechend und so hochtrabend, und das nicht von Person zu Person, sondern ganz durchaus, daß er zum Muster dieser Art von Mißhelligkeit dienen kann. Ich habe mich zwischen beide Klippen, so gut als möglich, durchzuschleichen gesucht; dabei aber doch an der einen lieber, als an der andern, scheitern wollen. Ich habe mich mehr vor dem Schwülstigen gehütet, als vor dem Platten. Die mehresten hätten vielleicht gerade das Gegenteil getan; denn schwülstig und tragisch halten viele so ziemlich für einerlei. Nicht nur viele der Leser: auch viele der Dichter selbst. Ihre Helden sollten wie andere Menschen sprechen? Was wären das für Helden? Ampullae et sesquipedalia verba, Sentenzen und Blasen und ellenlange Worte: das macht ihnen den wahren Ton der Tragödie.«

Und so sieht man mal wieder, wie man an einem Tag ohne Übertragung der Tour de France einen Bogen von Wortdreimastern zu Lessing spannen kann.

4 Kommentare:

  1. »Möchten Sie auf Wörter mit mehr als drei Silben nicht verzichten, dann teilen Sie sie mit einem Bindestrich.«

    Diesen Vorschlag finde ich sehr eigenartig. Er würde dazu führen, dass in diesem Beitrag schon eine Flut von Bindestrichen hereinbrechen würde, sollte er angewandt werden. Bastian Sick (Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod) spricht in dem lesenswerten Kapitel »Das Elend mit dem Bindestrich« gar von einem »Bindestrichmissbrauch«.

    Die Funktion einer »Lesehilfe« wird ja dann ins Gegenteil verkehrt, wenn er zu häufig auftritt, wenn Wörter, die man schon zur Genüge kennt plötzlich durch einen Bindestrich unterbrochen zum Anhalten des Auges auffordern.

    Das Pladoyer, eher kürzere Worte zu verwenden, lange Wortzusammensetzungen möglichst zu vermeiden ist angemessen und sicher nicht verkehrt. Aber eine Inflation von Bindestrichen einzuleiten, weil nicht jedes vier- oder fünfsilbige Worte vermieden werden kann, zeigt den falschen Weg.

    Horst-Dieter Radke

    AntwortenLöschen
  2. Lieber Herr Radke,

    die vielsilbigen Wörter, die in dem Beitrag genannt werden, sind alles Negativbeispiele. Und es ist durchaus möglich, auf vier-, fünf- oder nochmehrsilbige Wörter, vor allem Substantivzusammensetzungen, zu verzichten, nicht nur in der Belletristik, zumal solch ein Stil bürokratisch und hölzern wirkt.

    Es geht nicht darum, dass man sie überhaupt nicht verwenden darf, sondern nur, wenn es gar nicht anders geht. Sick schlägt vor „Tempo-Taschentuch“ zu schreiben, wobei ich eher „Tempotaschentuch“ schreiben würde, weil es ein fester Begriff ist, der sich im Deutschen eingebürgert hat. Es ist auch eine Frage der Wahrnehmung: Wörter mit mehr als zwanzig Zeichen lesen sich einfach schlecht. Insofern könnte man ruhig „Bindestrich-Missbrauch“ schreiben. Sick geht es in seinem Artikel vor allem um den Gebrauch von unsinnigen Bindestrichen bei zwei- oder dreisilbigen Wörtern wie Atom-Krieg oder Seh-Test.

    Viele Schriftsteller verwenden sogar bewusst drei- und mehrsilbige Wortneuschöpfungen (wobei ich das Wort schon wieder grenzwertig finde), um nüchternen Ausführungen eine überraschende Wendung zu geben oder Dingen, die einfach nur schön sind wie der Mond oder die Rose, das allzu Makellose, das Klischeehafte, zu nehmen. KLOPSTOCK prägte flammenverkündend, wahnsinnstrunken, schnellherschmetternd, GOETHE wellenatmend, Marmorfelsen, schlangenwandelnd, entgegenglühen und Flatterhaare, Glitzertand und Lächelmund. HEINE bildete ironische Zusammensetzungen wie Perlentränentröpfchen, Dolchgedanken und transzendentalgrau. RILKE erfand warmwallend, Flügelmühlen, Luftgewürze und die sich Verlierenden, CELAN Schattenentblößter und Ingeborg BACHMANN Silbersandmusik. Brigitte BREIDENBACH spricht von konsumgeschwängerten Bäuchen und SCHUTTING von Sonnenaufgangsrauch und Nachtschichtlicht und eben Grass u. a. von Kolonialwarenhändlerinsünden.

    Herzliche Grüße

    Jutta Miller-Waldner

    AntwortenLöschen
  3. Liebe Frau Miller-Waldner,

    gegen die Grundaussage des Artikels (Vermeidung ellenlanger Wörter) habe ich nichts einzuwenden. Allein gegen die Aussage "alle" mehr als dreisilbigen Wörter durch Bindestriche zu trennen, habe ich ein Veto eingelegt. Ich glaube, dass man durch solche generalisierenden Regeln "das Kind mit dem Bade" ausschüttet.

    Freundliche Grüße

    Horst-Dieter Radke

    AntwortenLöschen
  4. Ich persönlich finde Empfehlungen zu einem guten Schreibstil immer sehr anregend; vieles, was mir Sprachexperten und Lektoren angeraten haben, erscheint mir durchaus sinnvoll.
    Aber ich bin dennoch der Ansicht, dass nicht jede Regelung zu hundertprozentiger Anwendung kommen muss/sollte; denn das würde letztendlich bedeuten, -wir schreiben alle im selben Stil!
    Ich habe längst meine sehr eigene Art des Schreibens, meinen Fingerabdruck als Autorin, gefunden.
    Sprachtrends ändern sich ... dem muss man sich nicht unbedingt beugen.
    Ich verwende die Neue Rechtschreibung zwar, denn es macht mir Freude, den Wandel einer Sprache und der Schrift zu begleiten, aber meiner Ausdruckweise wegen, überlege ich mir gut, mich neuen sprachwissenschaftlichen Trends zu unterwerfen, nur um gute Kritiken zu erhalten.
    Erst kürzlich las ich ein Buch, welches mit höchster Empfehlung und Auszeichnung versehen war. Es war dermaßen überzüchtet einsilbig, jeder zweite Dialog endete mit "sagte er/sie", dass ich dieses Exemplar des postmodernen Minimalismus nach wenigen Seiten zum Altpapier legte.
    Fazit: Regeln sind wichtig, aber eine einheitliche Sprache, schränkt Ausdruck ein.
    Die eigene, sehr persönliche Interpretation macht das Herz eines guten Schreibers aus ... das ist der Grund, warum wir auch heute noch Goethe von Lessing und Schiller unterscheiden können.

    AntwortenLöschen