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Donnerstag, 24. Juli 2008

Berenten – bekochen – bemuttern – Übers Handeln und Leiden


Der Unterschied zwischen Aktiv und Passiv ist vergleichbar mit dem Unterschied zwischen Leben und Tod. (ZINSSER)

»Sie werden in Kenntnis gesetzt«, das ist Papier. »Ich aber sage euch«, das ist die Bergpredigt. (SEIFERT)

Die Redaktion des Grammatik-Duden hat laut SCHNEIDER ausgerechnet, »daß in der deutschen Dichtung nur 1,5 Prozent aller Sätze passivisch konstruiert sind, gegen 9 Prozent in deutschen Zeitungen und 10,5 Prozent in Kochbüchern (»Das Eiweiß wird steifgeschlagen«). Noch stärker als die Dichter meiden das Passiv nur die Verfasser von Trivialliteratur (1,2 Prozent Passivsätze).«

Das Passiv klingt irgendwie – passiv. Die Figuren handeln nicht, sondern werden gehandelt. Denn das Aktiv ist täterbezogen: Der Handelnde wird genannt. Das Passiv ist täterabgewandt: Der Handelnde bleibt anonym. Der Schreiber zeigt mit der Wahl einer der beiden Formen seine Sicht der Dinge: Er betont das Handeln oder klammert den handelnden Gegenstand aus. Bei dem Satz Die Mahlzeit wurde schweigend zu sich genommen ist das Essen wichtiger als die Personen. Die Figuren handeln jedoch, wenn Sie schreiben: Holger und Brigitta schwiegen während des Essens. Brigitta wurde deswegen auch nicht müde, sondern Brigitta fielen fast die Augen zu. Die Stühle wurden nicht an den Tisch gestellt, sondern Rosi stellte noch zwei Stühle an den Tisch. Wie stark wirkt Wolfgang schiebt alle Hindernisse beiseite gegen Hindernisse sind Wolfgang unwichtig.

Stephen KING bezeichnet das Passiv als »Stilsünde«, als »Hassobjekt«:
»Ich glaube, dass ängstliche Schreiber das Passiv aus dem gleichen Grund mögen, aus dem ängstliche Liebhaber passive Partnerinnen bevorzugen. Das Passiv ist sicher. Man muss sich nicht mit lästigen Vorgängen auseinander setzen; das Subjekt muss einfach nur die Augen schließen und an England denken, um mit Königin Victoria zu sprechen.«
Das Passiv wird auch als Leideform bezeichnet. Wer aber leidet bei Der Sieger wird gefeiert? Wenn Sie wirklich ein Leiden ausdrücken wie bei Der Türke wurde niedergeschlagen und mit den Füßen getreten möchten wir wissen: Wer hat ihn niedergeschlagen? SCHNEIDER schreibt dazu, dass wir dies zu wissen »dieselbe Neugier und dasselbe Recht (haben), wie über die Person des Getretenen informiert zu werden«.

Der Gebrauch des Passiv ist einer der häufigsten Fehler, der beim Schreiben gemacht wird. Dieser Satz ist schon falsch. Richtig muss er lauten: Der Gebrauch des Passiv ist einer der häufigsten Fehler. Die Passivkonstruktion … beim Schreiben gemacht wird ist falsch und überflüssig. Doch sogar ein Jacob GRIMM schreibt: »Um meine Anstellung wurde sich nun gleich noch denselben Winter beworben.«

Viele Passivformen werden mit be-, er- und ver- (oder zer-) gebildet. Sprachkritiker sprechen vom inhumanen Akkusativ: Der Einzelne wird zum Objekt. Der ältere Mensch wird berentet, erfasst, beruhigt (wenn nicht gar ruhiggestellt), betreut, bemuttert. Dem Fragenden rät man nicht mehr, man berät ihn; der Mann schenkt seiner Freundin keine Rosen, er beschenkt sie mit Rosen; Waren werden nicht mehr geliefert, sondern der Kunde wird mit Waren beliefert. Bergsteigen ist eine Tat, werten Sie sie nicht ab, indem Sie schreiben, dass ein Berg bestiegen wurde.

Ebenso schlecht ist der Gebrauch des Scheinpassiv (ROST): Das Abendmahl ist von Leonardo da Vinci gemalt worden. Hier wird das Gemälde zum Scheinsubjekt und das eigentliche Subjekt zum Präpositionalobjekt. Fragen Sie Wer hat was gemalt? und formen Sie den Satz um: Leonardo da Vinci hat das Abendmahl gemalt.

Gefährlich ist das »Passiv der großen Zahl« (ROST), wenn der Urheber der Handlung anonym bleiben und damit dessen Verantwortung verschleiert werden soll, oder wenn der Autor über verhängnisvolle Ereignisse berichtet, ohne dass der Leser erfahren soll, wer die Schuld daran trug: »Anfang 1933 wurden sämtliche Gewerkschaften verboten; das gesamte Vermögen der deutschen Arbeiterorganisationen, ja sogar die Alters- und Versorgungskassen wurden beschlagnahmt.« Jeder Gebildete weiß, dass Hitler und die Geheime Staatspolizei das zu verantworten hatten. Und wenn es heißt: »Sarajewo wurde bombardiert«, klingt das, als sei die Stadt selbst daran schuld.

Die Wendungen Jetzt wird sitzen geblieben!; von Jahr zu Jahr wird mehr gereist; bei dem Vortrag wurde sogar gelacht, die man öfter lesen kann, sind und bleiben schlechtes Deutsch, denn von zielenden Verben wie reisen, fehlen, sitzen, sprechen, lachen, blühen, kann kein Passiv gebildet werden. Das unpersönliche Passiv kann jedoch abwertend benutzt werden: Über Lisa wurde gelacht; über Andreas wurde gesprochen. Aber, wie ROST sagt: »Solche Aussagen sind aber in der Regel nur von Personen möglich: Aus allen Fenstern wurde gepfiffen und geschrien. Von den im Urwald lebenden Vögeln und Affen könnte man so nicht sprechen: Im Urwald wurde gepfiffen und geschrien – das müßten schon Pygmäen sein.«

Keine Regel ohne Ausnahme

• Sie können das Passiv verwenden, wenn Sie die Person nicht nennen wollen, die etwas getan hat, die Tat also wichtiger ist als der Täter: Das Layout wird noch geändert werden; es wurde behauptet, dass Paul die Schule geschwänzt hat; wenn Sie die Wirkung fremder Mächte schildern oder die Aussage allgemeingültig ist (unabhängig von der handelnden Person): Die Banknoten sind gefälscht – egal, wer das tat, er wird bestraft.
Beispiele dafür finden wir bei den folgenden Sätzen:
»Dann wurden wir auch über Bord gespült und sogleich voneinander getrennt.« (HARTLAUB, Die Segeltour)
»Nein, er bewegt sich nicht, er wird doch nur bewegt.« (BORCHERT, Die lange lange Straße lang)

Alexander KLUGE verwendet im Liebesversuch das Passiv der großen Zahl, um zu zeigen, wie unwichtig die Versuchspersonen waren: »Schon längere Zeit vor Beginn des Versuches waren die in Aussicht genommenen Versuchspersonen besonders gut ernährt worden … Oberscharführer Wilhelm ließ die beiden aus Gartenschläuchen anspritzen, anschließend wurden sie wieder, frierend, in das Dielenzimmer geführt.«
GOETHE erweckt in Dichtung und Wahrheit durch Anonymität den Eindruck einer objektiven Darstellung: »Als Vorwort zu der gegenwärtigen Arbeit, welche desselben vielleicht mehr als eine andere bedürfen möchte, stehe hier der Brief eines Freundes, durch den ein solches, immer bedenkliches Unternehmen veranlaßt worden.«

• Das Passiv wird gebraucht bei den Artverben: Rosi wird krank; das Laub wird gelb; Paul wird böse; ich werde berühmt.
• Bei Küchenwörtern wie kochen und schmoren, sind beide Formen möglich: das Schnitzel wird gebraten; die Hühnersuppe wird gekocht.
• Und natürlich lässt sich mit dem Passiv echtes Leiden ausdrücken: Der Briefträger wurde schon wieder von dem Dackel gebissen; Das Schmuckgeschäft wurde zum zehnten Male ausgeraubt; Jochen wurde immer wieder von seiner Frau betrogen. Der Gebrauch des Aktiv ist nicht falsch: Tanja betrog Jochen andauernd; der Dackel biss schon wieder den Briefträger; Diebe raubten das Schmuckgeschäft zum zehnten Male aus, doch durch das Passiv werden das Leiden Jochens, des Briefträgers und des Schmuckhändlers betont, und der Leser leidet mit.
Rückbezügliche (reflexive) Verben mit sich werden nur im Passiv benutzt: sich ärgern, sich entschließen, sich unterhalten, da es zu ihnen kein unpersönliches Passiv gibt. Die Beamten bemühen sich, die Bürger freundlicher zu behandeln muss es heißen und nicht: In den Amtsstuben wird sich bemüht

1 Kommentar:

  1. Ist nicht die angestaubt-karnevaleske Formulierung "Es darf gelacht werden" eine schon geniale Zusammenfassung all dessen, was im organisierten Humor falsch läuft? Und das in vier Wörtern? Mit dem Passiv wird die größtmögliche Distanz zum emotionalen Ausbruch gesichert, dazu wird das Lachen von der zentralen Lachverwaltung mit einem Modalverb gnädigerweise gestattet, und selbst, wenn der Satz ironisch gemeint ist, ist es doch eine so klägliche und piefige Ironie, dass man sich ganz weit weg wünscht. In beide Richtungen nur noch schlimmer denkbar als "Es darf geschmunzelt werden" bzw. "Es darf herzhaft gelacht werden".

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