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Dienstag, 15. April 2008

Über das Schreiben der ersten Sätze: (Nicht) jeder Anfang ist schwer. VIII


Das Letzte, was man findet, wenn man ein Werk schreibt, ist,
zu wissen, was man an den Anfang stellen soll. (PASCAL)

Glücklich der Autor, dem es wie Birgit VANDERBEKE ergeht, die ihren ersten Satz »aus dem Traum« mitbringt oder der »sonstwie plötzlich da« ist, auch ihr Schlusssatz ist »mit einem Mal ›da‹. Meistens überraschend«. Er erspart sich stundenlanges Grübeln und viel Papier. Auch Terézia MORA kann nicht beginnen, bevor sie den richtigen Anfangssatz gefunden hat: »Der kommt meist ganz plötzlich, bei einer völlig anderen Tätigkeit.« Muriel SPARK beginnt gar nicht erst mit dem Schreiben, wenn sie keinen Anfangssatz gefunden hat, der sie zufriedenstellt. Die meisten Schriftsteller jedoch brüten lange über den Anfangssätzen, sie streichen und feilen und grübeln wieder, bis sie die richtigen Worte gefunden haben. Doch lassen wir E.T.A. HOFFMANN zu Wort kommen, denn wer kann uns besser etwas erzählen über die Schwierigkeit, den rechten Anfang zu finden, als der Schriftsteller selbst?
»Hast du, Geneigtester! wohl jemals etwas erlebt, das deine Brust, Sinn und Gedanken ganz und gar erfüllte, alles andere draus verdrängend? ... Dein Blick war so seltsam, als wolle er Gestalten, keinem andern Auge sichtbar, im leeren Raum erfassen, und die Rede zerfloß in dunkle Seufzer. Da frugen dich die Freunde: »Wie ist Ihnen, Verehrter? – Was haben Sie Teurer?« Und nun wolltest du das innere Gebilde mit allen glühenden Farben und Schatten und Lichtern aussprechen und mühtest dich ab, Worte zu finden, um nur anzufangen. Aber es war dir, als müßtest du nun gleich im ersten Wort alles Wunderbare, Herrliche, Entsetzliche, Lustige, Grauenhafte, das sich zugetragen, recht zusammengreifen, so daß es, wie ein elektrischer Schlag, alle treffe. Doch jedes Wort, alles was Rede vermag, schien dir farblos und frostig und tot. Du suchst und suchst, und stotterst und stammelst, und die nüchternen Fragen der Freunde schlagen, wie eisige Windeshauche, hinein in deine innere Glut, bis sie verlöschen will. Hattest du aber, wie ein kecker Maler, erst mit einigen verwegenen Strichen den Umriß deines innern Bildes hingeworfen, so trugst du mit leichter Mühe immer glühender und glühender die Farben auf und das lebendige Gewühl mannigfacher Gestalten riß die Freunde fort, und sie sahen, wie du, sich selbst mitten im Bilde, das aus deinem Gemüt hervorgegangen! ... So trieb es mich denn gar gewaltig, von Nathanaels verhängnisvollem Leben zu dir zu sprechen. Das Wunderbare, Seltsame davon erfüllte meine ganze Seele, aber ebendeshalb, und weil ich dich, o mein Leser! gleich geneigt machen mußte, Wunderliches zu ertragen, … quälte ich mich ab, Nathanaels Geschichte bedeutend – originell, ergreifend, anzufangen: »Es war einmal« – der schönste Anfang jeder Erzählung, zu nüchtern! – »In der kleinen Provinzstadt S. lebte« – etwas besser, wenigstens ausholend zum Klimax. – Oder gleich media in res: »›Scher er sich zum Teufel‹, rief, Wut und Entsetzen im wilden Blick, der Student Nathanael, als der Wetterglashändler Guiseppe Coppola« – Das hatte ich in der Tat schon aufgeschrieben, als ich in dem wilden Blick des Studenten Nathanael etwas Possierliches zu verspüren glaubte; die Geschichte ist aber gar nicht spaßhaft. Mir kam keine Rede in den Sinn, die nur im mindesten etwas von dem Farbenglanz des innern Bildes abzuspiegeln schien. Ich beschloß, gar nicht anzufangen. Nimm, geneigter Leser! die drei Briefe, welche Freund Lothar mir gütigst mitteilte, für den Umriß des Gebildes, in das ich nun erzählend immer mehr und mehr Farbe hineinzutragen mich bemühen werde. Vielleicht gelingt es mir, manche Gestalt wie ein guter Porträtmaler so aufzufassen, daß du sie ähnlich findest, ohne das Original zu kennen, ja dass es dir ist, als hättest du die Person recht oft schon mit leibhaftigen Augen gesehen. Vielleicht wirst du, o mein Leser! dann glauben, daß nichts wunderlicher und toller sei als das wirkliche Leben, und daß dieses der Dichter doch nur, wie in eines matt geschliffnen Spiegels dunklem Widerschein, auffassen könne.« (Der Sandmann. Reimer 1827, S. 18 f.)
Manchmal fanden Schriftsteller nicht den richtigen Anfang, und doch wurden die Bücher später Welterfolge. Krieg und Frieden wurde trotz des schlechten Anfangs ein Klassiker, weil die vielen Seiten hinter dem Anfang gut sind.

Und manchmal denken Schriftsteller so lange über die Anfangssätze nach, dass sie vergessen, was sie erzählen wollen, und der Anfang kaum etwas mit der eigentlichen Geschichte zu tun hat. Meist merkt das der Leser nach einigen Seiten, fragt sich, was der Schreiber damit bezweckt, und liest nicht weiter. Vortrefflich weist Roger MACBRIDE ALLEN auf diese Gefahr hin:
»Sarah ging das Seitenschiff der Kirche entlang, noch immer im unklaren darüber, warum sie zugestimmt hatte, eine Giraffe zu heiraten. Der Bräutigam, der ruhig am Altar wartete, strahlend in einer schwarzen Krawatte, geschniegelt und gestriegelt, schwang seinen langen Hals herum und beobachtete ihr Näherkommen, gelassen wiederkäuend während all der Zeit.
Recht verrückt, oder? Die ganze Absicht einer solchen Eröffnung liegt darin, sich den Leser fragen zu lassen, wie es überhaupt zu dieser Situation hat kommen können. Okay, ich habe es selbst geschrieben, und ich habe nicht die geringste Ahnung. Achte also darauf, dass Dir so etwas nicht passiert.
Setzen Sie sich nicht unter Druck, weil Sie unbedingt mit dem druckreifen ersten Satz beginnen wollen.

Blockieren Sie sich also nicht, indem Sie stundenlang oder gar tagelang über den gelungenen Beginn nachdenken und nicht wagen, die eigentliche Geschichte zu erzählen. Oft wird Ihnen beim Schreiben selbst erst klar, wie er lauten muss. Oder Sie erküren später eine besondere Szene dafür. FRISCH zum Beispiel hat den Satz »Ich bin nicht Stiller« erst fast zum Schluss seiner Arbeit für den Anfang gewählt. Manchmal stellt sich sogar heraus, dass ganze Kapitel umgestellt und damit die so vortrefflich und mit großer Mühe formulierten Anfangssätze gestrichen werden müssen. Der Egon-Erwin-Kisch-Preisträger ZANDER rät: »Wer Schwierigkeiten mit einem ersten Satz hat, der soll zunächst den letzten schreiben und daraufhin genau jenen Satz, den man braucht, um diesen letzten Satz zu verstehen; danach einen vorvorletzten, der die Grundlage für den vorletzten erklärt, und so immer weiter zurück bis zum Beginn.«

Auch Martin WALSER hat den Lebenslauf der Liebe »nicht mit dem Satz angefangen, der jetzt da steht«. Denn: »Das ist auch eine Erfahrung, dass man sich nicht mit der Erwartung belasten darf, dass der zuerst hingeschriebene Satz auch der erste bleibt. Im Laufe des Schreibens stellt sich der erste Satz erst ein.«

Patricia HIGHSMITH erzählt von einem Autor, der manchmal zehn Tage für das Schreiben der ersten Seite verbringt. Das erscheine ihr zu lang, sie habe aber auch schon drei verschiedene Fassungen an einem Tag geschafft. Wenn sie immer noch nicht zufrieden sei, gehe sie zur zweiten Seite über und nähme sich die erste Seite am nächsten Tag vor.

Bevor Sie nun völlig verzagen, sollten Sie sich von den berühmen Anfängen anregen lassen, die ich Ihnen hier vorstelle.

Mehr dazu siehe http://juttas-schreibtipps.blogspot.com/search/label/%C3%9Cbers%20Beginnen

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