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Sonntag, 14. Januar 2007

Aus Schriftstellers Schreibstübchen (Recherche III)

Tom WOLFE sagt »den Triumph des tief recherchierten naturalistischen Romans« voraus:
Ich bekämpfe seit Jahren das, was ich den magersüchtigen Roman nenne. Den Leuten wird heute an der Universität beigebracht, magersüchtige kleine Miniaturen des Lebens zu fabrizieren. Das Soziale, die Wirtschaft, viele Dinge, die unser Dasein bestimmen, gelten als vulgär, man macht sich die Hände schmutzig damit. Phänomene wie die Rassenbeziehungen oder die Frage, wie eine Stadt überhaupt gesteuert wird, kommen in großen amerikanischen Romanen überhaupt nicht mehr vor.
Das Sammeln von Originalmaterial bezeichnet er als das Fundament, auf dem der Romanschriftsteller aufbauen muss. »Wenn er sich schreibend darüber zu erheben vermag, um so besser.«

Siegfried LENZ recherchiert sorgfältig und beschreibt detailgenau, ob es sich nun um eine Werft oder die Fischzucht wie in der Auflehnung handelt, denn, so sagt er, man muss der »Phantasie einen konkreten Ort anbieten, um sie glaubwürdig zu machen«.

SIMMEL ist für seine Recherchen berühmt. Das Haus mit den französischen Fenstern in einer bestimmten Straße in einer bestimmten Stadt, in dem die Protagonistin wohnt, können Sie betreten (ebenso die Drogerie zwei Häuser weiter oder die Zahnarztpraxis im Haus gegenüber). Auch sein technisches, ökonomisches und politisches Wissen sind auf dem letzten Stand. Er sagt dazu:
Ich fliege oder ich fahre mit der Bahn an die Stätten der Handlung, mit Tonband und Kamera, und interviewe, wen ich nur unter die Finger kriegen kann. Wenn es sich um Milieus handelt, in denen ich mich nicht auskenne, dann interviewe ich auch Fachleute. Ich habe Fotos, ich habe Stadtpläne, ich habe Telefonbücher. – Sie können damit rechnen, daß, wenn in Rio de Janeiro an der Avenida Atlantica eine Telefonzelle vor dem Haus Nummer soundso steht, dann steht sie wirklich da. Das muß ein Reportertick von mir geblieben sein. Und wenn ich das alles habe, dann komme ich nach Hause zurück und mache mir einen großen Plan.
Auch die Gefahren, die seine Helden überwinden müssen, sind nicht nur Fiktion.

Thomas MANN recherchierte für den Zauberberg, als er 1912 seine Frau Katia drei Wochen lang im Davoser Waldsanatorium, dem Vorbild des Berghofs, besuchte (Hofrat Behrens’ Vorbild hieß übrigens Jessen). Er notierte jedes medizinische Detail: wie unter knatternden Blitzen geröntgt, wie der Schweregrad der Tuberkulose bestimmt und wie ein künstlicher Pneumothorax gelegt wurde. Anschließend schrieb er elf Jahre lang den Roman. Elizabeth GEORGE, deren Romane in England spielen, fliegt drei bis vier Mal im Jahr auf die Insel, besichtigt Landsitze und besucht Kirchen und Friedhöfe. Hermann BURGER belegte, als er die Novelle Diabelli schrieb, einen Kurs für Zauberer.

GOETHE erzählt, wie es war, als SCHILLER sich »die Aufgabe stellte, den Tell zu schreiben«: »Er fing damit an, alle Wände seines Zimmers mit so vielen Spezialkarten zu bekleben als er auftreiben konnte. Nun las er Schweizer Reisebeschreibungen, bis er mit Weg und Stegen des Schauplatzes bestens bekannt war.«

Und PEREC berichtet über die Entstehung des Romans Das Leben. Gebrauchsanweisung:
Der zweite Entwurf ... zielte vage auf die Beschreibung eines Pariser Mietshauses, dessen Fassade aufgeklappt werden sollte. ... Jedes der Zimmer des Mietshauses würde eines der ... Kapitel des Buches (werden). Um die verschiedenen Pläne, die ich zu sammeln begann, zu konkretisieren, bat ich meine Freundin Jacqueline Ancelot, die Architektur studierte, die Fassade meines Mietshauses zu zeichnen. Man kann dort zwei oder drei Details erkennen, die im Roman dann nicht mehr verändert wurden: Das große Atelier von Hutting oben links, der Dienstboteneingang, der Laden, die Loge der Concierge.

Für GRASS geht die Niederschrift seiner Arbeiten in drei Etappen vor sich: Die erste Fassung, erklärt er, folge dem Einfall, der Erinnerung, der Phantasie. Dann fülle er Lücken mit dokumentarischem Material. An dieser Fassung feile er so lange, bis die Fakten nicht mehr als Fremdkörper wirkten.

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