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Sonntag, 26. November 2006

Das Wort lebt II

Das Dorf im Abu Telfan lebt (vergleichen Sie RAABES Schilderung mit Beschreibungen anderer Autoren – wie leblos werden sie Ihnen erscheinen durch die immer gleichen Wörter, nichtssagenden Adjektive und abgedroschenen Bilder):
Es war ebenfalls ein Vogelnest im Grün, dieses Dorf Bumsdorf, aber weniger voll zwitschernder Melodien als voll Gebrumm und Gegrunz, Geschnarr und Geknarr, Gequick und Gequak, Gefluch und Gepfeif, Gezeter und Gejodel und die Sonne beschien heiter die Kirche, das Pfarrhaus, den Gutshof, das Wirtshaus und den Mühlenteich, die Wohnungen der Vollspänner, Halbspänner, Brinksitzer, Kotsassen, Häuslinge und Anbauer und das Haus des pensionierten Steuerinspektors Hagebucher, eines Mannes, der seiner wohlverdienten Ruhe in ländlich sittlicher Abgeschiedenheit, jedoch nicht gar zu entfernt von den Annehmlichkeiten des städtischen Lebens, genoß.
Lebendige Geschichten entstehen auch durch Gegensätze. CANETTI baut in seine Reise-Impressionen Stille und Lärm, das Helle und das Dunkel ein:
Um in einer fremdartigen Stadt vertraut zu werden, braucht man einen abgeschlossenen Raum, auf den man ein gewisses Anrecht hat und in dem man allein sein kann, wenn die Verwirrung der neuen und unverständlichen Stimmen zu groß wird. Dieser Raum soll still sein, niemand soll einen sehen, wenn man sich in ihn rettet, niemand, wenn man ihn wieder verläßt. Am schönsten ist es, in eine Sackgasse zu verschwinden, vor einem Tore stehenzubleiben, zu dem man den Schlüssel in der Tasche hat, und aufzusperren, ohne daß es eine Sterbensseele hört.
Man tritt in die Kühle des Hauses und macht das Tor hinter sich zu. Es ist dunkel und für einen Augenblick sieht man nichts. Man ist wie einer der Blinden auf den Plätzen und Gassen, die man verlassen hat. Aber man gewinnt das Augenlicht sehr bald wieder. Man sieht die steinernen Stufen, die in die Etage führen, und oben findet man eine Katze vor. Sie verkörpert die Lautlosigkeit, nach der man sich gesehnt hat. Man ist dankbar dafür, daß sie lebt, so läßt es sich auch leise leben. Sie wird gefüttert, ohne daß sie tausendmal am Tage »Allah« ruft. Sie ist nicht verstümmelt und sie hat es auch nicht nötig, sich in ein schreckliches Schicksal zu ergeben. Sie mag grausam sein, aber sie sagt es nicht.
Man geht auf und ab, und atmet die Stille ein. Wo ist das ungeheuerliche Treiben geblieben? Das grelle Licht und die grellen Laute? Die hundert und aberhundert Gesichter?« (Reiseimpression über Marrakesch)
Wie viele Autoren beschreiben Figuren, statt sie vor uns erscheinen zu lassen! Leider haben sie Gottfried KELLERS Verlorene Lachen nicht gelesen.
Dann zog sie ihr modisches Oberkleid aus, schlug eines der weißen Halstücher der Großmutter um, die Zipfel auf dem Rücken verbunden, und kochte die gebrannte Mehlsuppe, buk den duftenden Eierkuchen oder briet die leckere Fettwurst, die sie eigenmächtig zum Nachtmahl aus der Vorratskammer geraubt. Wenn sie dann mit gerötetem Gesicht gar fröhlich und lieblich dreinschaute und vollends die glänzende Zinnkanne mit klarem, leichtem Weine regierte, so bezeugten die Alten, daß sie erst jetzt wie eine rechte alte Landjungfer aussehe, und es gab etwa noch eine kleine Mummerei, indem die Großmutter ihren verjährten Granatschmuck sowie Sonntagshäubchen und seidene Jacken herbeibrachte, die sie vor sechzig Jahren in blühender Jugend getragen.
Da duftet es, da läuft dem Leser das Wasser im Munde zusammen. Er weiß gar nicht, wohin er zuerst schauen soll, in den Kochtopf oder zur Großmutter. Er hört zwar nichts, aber er stellt sich vor, wie sie beim Kochen eine Melodie summt.

Die Menschen, an die sich die Protagonistin in Rebecca WELLS’ Roman Die göttlichen Geheimnisse der Ya-Ya-Schwestern erinnert, leben fort wegen ihrer Gerüche:
Wenn ich die Augen schließe und mich konzentriere, kann ich hier in dieser Hütte, 2500 Meilen von Louisiana und viele Jahre von meiner Kindheit entfernt, tatsächlich meine Mutter und die Ya-Yas riechen. Es kommt mir vor, als ob mein Körper die verschiedenen Düfte der Ya-Yas auf einer verborgenen Flamme leise am Sieden hält, und immer, wenn ich am wenigsten darauf gefaßt bin, steigt dieses Aroma auf und vermischt sich mit den Gerüchen meines jetzigen Lebens, bis ein neues und doch vertrautes Parfüm entsteht. Ich rieche die verwaschene Baumwolle aus einer Wäschetruhe, Tabakrauch in einem Angorapullover, Handcreme von Jergen, geschmorte Zwiebeln mit grünem Paprika, den süßen, nußartigen Duft von Erdnußbutter und Bananen, das Eichenaroma eines guten Bourbon, eine Mischung aus Maiglöckchen, Zeder, Vanille und dem schweren Duft von Damaszenerrosen.
Erklären Sie nicht mit nüchternen Worte eine Epoche. Erwecken Sie sie zum Leben, indem Sie sie, wie Rebecca Wells, erklingen lassen:
Sidda wusste nicht, dass die Leute noch viel mehr gesungen hatten in der Zeit, als Vivi selbst noch ein Kind gewesen war. So etwas steht in keinem Geschichtsbuch. Wie die Leute auch außerhalb ihrer Wohnung stets ein Lied auf den Lippen hatten. Damals, in den dreißiger und vierziger Jahren, konnte man in Thornton, Louisiana, nicht auf die Straße gehen, ohne daß man jemanden singen hörte. Singen oder pfeifen. Hausfrauen trällerten, während sie die Wäsche aufhängten. Die alten Sonderlinge und Käuze pfiffen ein Liedchen, während sie vor dem Gerichtsgebäude in der River Street herumlungerten. Gärtner summten vor sich hin beim Unkrautjäten oder Hacken. Kindern sangen aus voller Kehle, wenn sie auf ihren Fahrrädern die Gegend unsicher machten. Selbst seriöse Geschäftsleute betraten oder verließen fröhlich pfeifend die Bank. Damals hatten die Leute ein Klavier im Wohnzimmer stehen und keinen Fernsehapparat. Der Gesang war keineswegs immer ein Zeichen von Freude, gelegentlich hörte man Trauerlieder oder die alten Kirchenlieder. Und oft war es die Musik der schwarzen Bevölkerung, die in Vivi eine Traurigkeit auslöste, die sie nicht beschreiben konnte. Damals, schien es, gab es niemanden, der nicht gesungen hätte.
Ich erklärte Salome, dass ich in sie verliebt sei – nein, so schreibt ein HESSE nicht. Er lässt uns in seiner Erzählung Hans Amstein diese Aussage sinnlich erfahren:
Einmal kam sie zu uns, Onkel und Cousine waren nicht da, und sie setzte sich zu mir auf die Gartenbank. Die Dirlitzen waren schon rot, das Beerenzeug reif, und Salome griff behaglich hinter sich in die Stachelbeeren. Nebenher nahm sie am Gespräche teil, und wir waren bald so weit, daß ich mit feuerrotem Gesicht ihr erklärte, ich sei rasend in sie verliebt.
Durch die Intensität der Sprache wie schreiendes Rot, farbige Klänge, wird erreicht, dass Bilder mit allen Sinnen aufgenommen werden: »Durch die Nacht, die mich umfangen,/blickt zu mir der Töne Licht« (Clemens BRENTANO, Abendständchen).

Vermeiden Sie die beziehungslosen, toten, schablonenhaften, trivialen, klischeehaften Wörter; verwenden Sie die dichten, kraftvollen, plastischen, unwiderstehlichen.

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