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Montag, 27. November 2006

Üben üben üben (Schreibanlässe)

Und woher wissen Sie, welche Wörter die Sinne Ihres Lesers ansprechen – welche leben? Sehen Sie das vor sich, worüber Sie schreiben, riechen, ertasten, hören und schmecken Sie es. Denken Sie daran, wie intensiv Sie als Kind alles wahrgenommen hatten – bevor Sie die Welt durch die Augen derer sahen, die sie Ihnen erklärten –, erwecken Sie diese Gabe wieder zum Leben. Notieren Sie in Ihrem Notizbuch Gerüche, abstoßende oder angenehme, die Ihnen auffallen, eindringliche Farben, Geräusche, Empfindungen. Wie beschreiben andere Schriftsteller Sinneseindrücke, mit welchen Mitteln haben sie erreicht, dass Ihre Sinne angesprochen wurden?

Was empfinden Sie bei den folgenden Aufgaben? Schreiben Sie darüber einen Text. Er muss nicht druckreif sein, doch versuchen Sie, die Wahrnehmungen so genau wie möglich in Worte zu fassen.

Verbinden Sie Ihre Augen und lassen Sie sich unterschiedlich riechende Dinge vor die Nase halten: Rosen, Bohnenkaffee, WC-Reiniger. Lassen Sie sich füttern mit Marzipan und Senf. – Wie schildern Sie die Schärfe einer Chilischote?

– Lässt sich überhaupt die Schärfe einer Chilischote beschreiben? Oder das Aroma des Kaffees, wie WITTGENSTEIN fordert:
»Beschreib das Aroma des Kaffees! - Warum geht es nicht? Fehlen uns die Worte? Und wofür fehlen sie uns? – Woher aber der Gedanke, es müsse doch so eine Beschreibung möglich sein? Ist dir so eine Beschreibung je abgegangen? Hast du versucht, das Aroma zu beschreiben, und es ist nicht gelungen? (Ich möchte sagen: »Diese Töne sagen etwas Herrliches, aber ich weiß nicht was.« Diese Töne sind eine starke Geste, aber ich kann ihr nichts Erklährendes an die Seite stellen. Ein tief ernstes Kopfnicken. James: »Es fehlen uns die Worte.« Warum führen wir sie denn nicht ein? Was müsste der Fall sein, damit wir es könnten?« kursiv jmw)
Das ist es: Warum finden wir keine Worte, warum geben wir so schnell auf? –

Streichen Sie über Dinge, die Ihnen jemand hinlegt: Samt, eine Bürste, einen nassen Waschlappen.

Was macht das Riechen, Schmecken, Fühlen mit Ihnen?

Schalten Sie das Radio und den Computer aus. Was hören Sie? Vielleicht fällt Ihnen zum ersten Mal das Zwitschern der Vögel auf oder der Straßenlärm. Falls Sie nichts hören, wie wirkt die Stille? – DOMBRADY sagt, dass der Dichter in zwei Bewusstseinzuständen lebt, die Stille wird erst als solche empfunden durch den Lärm, die Schärfe eines Grillentons wird erst durch die Stille vernehmbar. – Was für Geräusche macht Ihr Computer? Klackklackklack, toctoc-toc, Cuckoo oder fiep?

Der Künstler nimmt Formen und Farben nuancierter wahr als andere Menschen. Wie wirkt das Blau des Bildschirms auf Sie? Können Sie die Farbe genauer beschreiben? Ist die Wand Ihrer Dichterstube gelb, braun oder terracotta, in gebranntem Siena oder ocker gestrichen? Nehmen Sie die Grünschattierungen der Yucca-Palme wahr, das Gelb der Tulpen auf dem Schreibtisch. Lassen Sie das Spiel der Sonnenstrahlen auf der Tapete und in der Dämmerung die Schwarzweiß-Töne auf sich wirken. Betrachten Sie Formen – Linien, Kurven, Ecken – und Bewegungen – das Zittern der Blätter im Wind, das Bauschen der Gardine bei geöffnetem Fenster, das Gleiten Ihrer Katze über den Teppich.

Bei welcher Aufgabe haben Sie am wenigsten empfunden? Üben Sie so lange, bis Sie für alle Sinneseindrücke das gleiche Gespür bekommen.

Bei solch einer Übung entstand mein Text Marzipan:
Nie wieder hat ihr Marzipan so gut geschmeckt wie damals.
Stundenlang stand sie in der Küche ihrer Eltern, ließ Wasser aufkochen, warf ein halbes Pfund ungeschälter Mandeln hinein, goss das Wasser in den Ausguss, rubbelte die aufgeweichte Schale ab, bis die Fingerspitzen wellig wurden von der Nässe und der Geruch nach feuchten Mandeln sie schwindlig werden ließ. Sie mahlte sie in der Mandelmühle, die sie von ihrer Großmutter geerbt hatte, einmal und noch einmal, goss Rosenwasser hinzu, schüttete durchgesiebten Puderzucker darauf und knetete die Masse solange, bis sie geschmeidig wurde. Sie stach kleine Stücke ab und rollte sie zwischen ihren Handflächen, wälzte die Kügelchen in Kakaopulver, tat sie in Pergamenttüten und verschenkte sie an die Menschen, die sie liebte.
Damals hatte sie noch Zeit.
Damals bereitete sie auch Schokolade zu und Nougat und Krokant.
Jedes Jahr am dritten Adventsonntag buk sie ein Lebkuchenhaus und bedeckte das Dach mit Schokoladenplätzchen. Sie schuf Lebkuchentannen und einen Schlitten und einen Zaun und einen Holzstapel aus Borkenschokolade und klebte alles mit Eiweiß auf eine Lebkuchenplatte. Aus Zuckerguss zauberte sie Eiszapfen und aus Puderzucker Schnee. Sie klebte rotes Seidenpapier gegen die Fenster, und ihr Vater baute eine Puppenstubenlampe in das Haus. Es schien, als lebe dort jemand.
Damals hatte sie noch Zeit.
Dann verliebte sie sich, verlobte sich, heiratete. Sie musste den Heilig Abend bei ihren Schwiegereltern verbringen – bei ihnen sei es viel feierlicher, hieß es. Dort gab es Marzipan aus dem Laden und Schokolade aus dem Laden und keine Lebkuchenhäuser.
Nein, es stimmt nicht, dass ihr nie wieder Marzipan so gut geschmeckt hat wie damals. Seither isst sie es überhaupt nicht mehr.

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