Ich vermisse in dieser Prosa … eine ganze Dimension – jene, in der die dargestellten Sachverhalte und Situationen, Vorgänge und Vorfälle mehr als nur sich selbst erkennen lassen, wo sie etwas signalisieren und also zu Chiffren werden. Es fehlt, was man gemeinhin und anschaulich den »doppelten Boden« nennt. Ich befürchte, daß Romane, denen diese Dimension abgeht, nicht wert sind, gelesen zu werden.Wörter können die Wirklichkeit nicht beschreiben, denn sie ist immer subjektiv. Aber Sprache ist mehr als Wörter. Der literarische Text schafft durch das, was er verschweigt, das wovon er nicht handelt, zusätzliche (Deutungs-)Ebenen, er ist mehrdimensional: Der Leser soll zwischen den Zeilen lesen. Spätestens hierdurch wird das Handwerk zum Kunstwerk, ein Schritt, der den Könner vom Anfänger unterscheidet.
Ein Text muss geheimnisvoll bleiben, auch wenn er offensichtlich erscheint, er überzeugt erst dann, wenn er nicht hermetisch ist. Denn dadurch bietet er immer wieder neue Lesarten und kann immer wieder neu erlebt und enträtselt werden. Wir lesen Vom Winde verweht oder Effi Briest mit sechzehn Jahren anders als mit sechzig, obwohl wir sie beide Male »richtig« gelesen haben. Wir erleben sie nur anders, weil sich unser Wissen, unser Blick auf die Welt und unser Ich geändert haben und wir auf andere Zeichen achten.
»Alle Interpretationen der Leser haben gleichermaßen Gültigkeit und sind wichtiger als die Absichten des Autors«, schreibt Dekon. Der Autor schreibt auch aus dem Unbewussten heraus. Doch ebenso wie er seine Weltanschauung einbringt, bringt der Leser seine Denkweise ein, die den Text bis zu einem gewissen Grad neu schafft. Er entnimmt ihm seine eigene Wahrheit, anders, als der Autor geplant hatte.
Das ist sein gutes Recht. Erklären Sie dem Leser nicht, was Sie gemeint haben, verteidigen Sie Ihren Text nicht, und vor allem: Behandeln Sie Ihren Leser (oder Zuhörer) nicht von oben herab. Er ist nicht beschränkt, weil er Ihren Text anders versteht, als Sie beabsichtigt hatten; umgekehrt entnimmt nicht »irgendein Doofer« einem Text etwas, das der Schreiber gar nicht gesagt hat – die Meinung so mancher Autoren, die von Literatur keine Ahnung haben. Nur ein schlechter Text ist eindimensional.
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