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Montag, 5. November 2012

Die Sprache wandelt sich


Wörter sind wie Lebewesen: Sie kennen Geburt und Tod, Jugend und Alter, Familie und Vorfahren.
(Duden-Newsletter; zitiert nach http://woerter.germanblogs.de/archive/2007/07/23/wie-kommt-ein-wort-in-den-duden.htm)

Jeden Tag erblicken neue Wörter (Neologismen, von gr. neos = neu, logos = Wort) das Licht der Welt. Doch nicht immer werden sie kampflos übernommen. Wörter wie belichten, Gepflogenheit, Jetztzeit, die heute selbstverständlich sind, waren im neunzehnten Jahrhundert heftig umstritten. Doch schließlich gewöhnte man sich an diese »anstößigen« Wörter – sie hörten auf, Neologismen zu sein.

Wandel der Bedeutung von Wörtern

Aber es ändert sich auch die Bedeutung von Wörtern. So schreibt Walter Porzig, dass sich
Aussprache, Wortschatz und Satzfügung bei den einzelnen Altersklassen einer Gemeinde und innerhalb derselben Familie bei Kindern und Erwachsenen verschiedener Altersstufen merkbar unterscheiden, ja, dass sie sich bei demselben Menschen im Laufe seines Lebens sehr allmählich aber dauernd ändern. Die Älteren unter uns können das an ihrer eigenen Sprache beobachten: ein Angeber war in meiner Jugend ein Denunziant, jetzt ist er ein Großtuer. Das heißt, daß die Bezeichnung Angeber für Denunziant außer Gebrauch gekommen ist und daß der Großtuer einen neuen Namen bekommen hat. Es handelt sich gar nicht um ein Wort, sondern um zwei Wörter Angeber, die nur zufällig gleich sind. Worauf es hier ankommt, ist, daß sich die Bezeichnung für die beiden Begriffe im Laufe eines Menschenalters völlig geändert hat. (Das Wunder der Sprache. Francke 1957, S. 301)
Brandschatzen bedeutet heute das Niederbrennen eines Anwesens, ursprünglich jedoch das Erpressen von Schutzgeld, damit es eben nicht niedergebrannt wird. Ein Geschäftsmann war zu Goethes Zeiten ein Staatsbeamter, Firma die Unterschrift eines Fürsten. Ekel stand für wählerisch und anspruchsvoll. Das Wort Dirne bezeichnete ein Mädchen und Weib eine Frau. Mit »Bin weder Fräulein, weder schön / Kann ungeleitet nach Hause gehn« aus Goethes Faust I begründet Gretchen, dass sie keine ledige Adlige sei, denn nur diese wurde damals als Fräulein bezeichnet.

Vogel hieß alles, was flog. In manchen Dialekten, vor allem in der Schweiz, werden Schmetterlinge heute noch Sommervögel genannt. Wilhelm Buschs »Jeder weiß, was so ein Mai- / Käfer für ein Vogel sei« in Max und Moritz ist also durchaus nicht komisch.

Veraltete Wörter (Archaismen; latinisiert vom altgriechischen archaios = alt, ehemalig)

»Jeder von uns«, so Hans Eggers,
könnte bemerken, daß seine eigene Sprache anders ist als die seiner Großeltern. Wir sagen er kommt, wo Großmutter vielleicht noch er kömmt sagt, und wenn wir heute wechselweise zu Haus und zu Hause sagen, bald eine neue, bald eine ältere Form verwendend, pflegt Großvater wohl noch regelmäßig das e des Dativs zu bewahren. Auffälliger noch als solche lautlichen Veränderungen sind die Wandlungen des Wort- und Ausdrucksschatzes. Manches Wort und manche Redewendung, die die Großeltern ständig im Munde führen, verstehen wir freilich, werden sie aber niemals selbst gebrauchen, und unser modisches genau für das schlichte ja, unser prima, unser mit achtzig Sachen und viele Ausdrücke unserer Tage werden sich die Alten unter uns nicht mehr angewöhnen. Und sprechen unsere Kinder und Enkel nicht wieder eine andere Sprache? Wir, die wir mitten im Leben stehen, werden uns nur schwer daran gewöhnen, die Sprößlinge als Teenager und Twens zu bezeichnen, und auch deren Ausdrücke für ein hübsches Mädchen, dufte Biene oder steiler Zahn, werden wir uns kaum noch zu eigen machen. (Deutsche Sprachgeschichte. Rowohlt 1986 , S. 10)
Wörter können aber auch wieder modern werden. Manche veraltete Wörter wie Hain, Fehde, Degen, Recke, Tafelrunde, hegen und küren wurden vor allem durch Schriftsteller neu belebt.

Alte und neue Wörter und die Weltliteratur

Viele heute alltägliche Wörter waren unseren Großeltern unbekannt (abgesehen von Schreibwerkstatt, Internet und Geldautomat), aber wussten Sie, dass es vor einhundertfünfzig Jahren noch nicht das Wort jubeln gab? Man jubilierte oder frohlockte. Hingegen sagen wir nicht mehr justament für ausgerechnet, zu diesem Behufe für zu diesem Zweck, Veloziped für Fahrrad, Comptoir für Büro, Droschke für Taxi, Elektrische für Straßenbahn oder Automobil, platterdings, Gendarm und Boudoir.

Dagegen wurden so aktuelle Wörter wie Nervosität, Unsicherheit, Gespaltenheit, schon vor zweihundert Jahren gebraucht, und Karl Kraus benutzte bereits das Wort ausgepowert: »Aber selbst wenn diese Journalistik nicht die Sprache ausgepowert hätte, gäbe es keinen Ausdruck, ihr moralisches Niveau zu bezeichnen.« (Fackel, H. 622, 1913, S. 201)

Johann Wolfgang von Goethe schrieb von der Anarchie, der Bundesregierung, vom ankiffen und von den Aktien. Berühmt ist er auch für die Prägung des Begriffs Weltliteratur. Erster Beleg ist der Tagebucheintrag vom 15.1. 1827: »An Schuchardt diktiert bezüglich auf französische und Welt-Literatur.« (Tagebücher. Cotta 1959, S. 368) Doch schon wenige Tage später, am 27. 1. 1827, schreibt er an Karl Streckfuss: »Ich bin überzeugt, daß eine Weltliteratur sich bilde«, und prophezeit: »Der Deutsche kann und soll hier am meisten wirken, er wird eine schöne Rolle bei diesem Zusammentreten zu spielen haben.« (Briefe, S. 215)

Der Begriff Weltliteratur wurde zwar erstmals von Christoph Martin Wieland um 1790 geprägt, doch dieser meinte damit die Literatur, die der homme du monde, der Weltmann, liest. Für Goethe hingegen ist Welt die Menschheit jenseits der nationalen Grenzen. Er versteht darunter die Literatur, die aus einem übernationalen Geist heraus geschaffen wurde, also die Kleinstaaterei auch in der Dichtung überwindet. (Und musste später erkennen, dass das auch ein Überschwemmtwerden mit trivialer fremdsprachiger Literatur bedeutet.) (Siehe dazu auch http://www.adglossar.de/Weltliteratur und Goethes Aufsatz über die Weltliteratur auf http://www.wissen-im-netz.info/literatur/goethe/aufsatz/07.htm)

Modewörter

Heute selten gebrauchte Wörter wandeln sich schnell zu Modewörtern, andererseits klingen Wörter, die früher als Modewörter bezeichnet wurden, heute wieder unverbraucht. Vor über hundert Jahren prangerte Gustav Wustmann in Allerhand Sprachdummheiten: Kleine deutsche Grammatik des Zweifelhaften, des Falschen und des Häßlichen. Ein Hilfsbuch für alle, die sich öffentlich der deutschen Sprache bedienen Modewörter an, die heute noch lebendig sind, wie belanglos, Darbietung, Ehrung, einwandfrei, erheblich, erhellen, großzügig, jugendlich, Prozent/Prozentsatz (für Teil), schreiten, selbstlos, unerheblich, unerfindlich, unentwegt. – Ob sie einen Text verschönern, steht auf einem anderen Blatt und ist auch ein anderes Thema. –

Nicht nur Modewörter können neu belebt werden. Viele große Wörter sind mürbe geworden, weil viel zu oft benutzt und ihrer ursprünglichen Aussage beraubt. Was bedeuten heute noch Wohltäter, Demut oder Pflicht? »Man muß manchmal einen Ausdruck aus der Sprache herausziehen, ihn zum Reinigen geben, – und kann ihn dann wieder in den Verkehr einführen«, sagt Ludwig Wittgenstein in Vermischte Bemerkungen, S. 504. Wenn die Worte rekonstruiert sind und wieder in den Umlauf gebracht werden, würde ihnen wieder zu trauen sein.

Die verlorenen Wörter

Christa Wolf mahnte bei ihrer Rede anlässlich der Verleihung des Nelly-Sachs-Preises 1999 eine Liste über verlorene Worte an:
Müßten wir nicht damit anfangen, eine Liste der verlorenen Wörter anzulegen, so wie die Naturforscher Listen der aussterbenden Arten angelegt haben, die täglich länger werden? Und ist es abwegig, zu vermuten, daß die sterbenden Wörter etwas mit den ausgestorbenen Tieren und Pflanzen zu tun haben? Weil wir geduldet haben, daß ein Wort wie »Ehrfurcht« uns fremd geworden ist, ausgesondert, überflüssig, peinlich, bleibt eine Gefühlsstelle in uns taub, wenn wir Mitlebendes ausmerzen.
Und sie fragte:
Was ist heute menschlich? Worauf beziehen wir heutzutage das Wort »human«? Für welche Inhalte ist es uns unverzichtbar geblieben oder geworden? (Der Worte Adernetz. Suhrkamp 2006 , S. 89)
Verlorene Wörter sind auch solche, die von Schriftstellern geprägt, von anderen Autoren jedoch nicht aufgenommen wurden, wie Absonderling (Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen); Betschwesterei (Georg Christoph Lichtenberg); entdonnern (Archim von Arnim); Halbgeschmack (Johann Wolfgang von Goethe); Icher (Friedrich Gottlieb Klopstock); Schicksalssohn (Johann Gottfried Herder); vergottscheden (A. G. Kästner); Warmländer (Jean Paul); zwiesprachig (Theodor Mommsen).

Und dann gibt es noch die Wörter, die heute vergessen sind wie Abnolken, Anquerdern, Anspinn, befetschen, Dolk, Empter, entnafzen, Gurbe, Gusel, hangdrüslicht, Hirsetute, Hupfelrei, ichtes (mit ichtesicht, ichteswann, ichtwan, ichtwas, ichtwasig, ichtwer, ichtwvo), Immi, Karschbein, Kannenwvroge, kille, Klipse, Kleuder, kommlich, Kone, Leibfall, Leuchse, Ludellerche, Mannsen, Melkter, Momber, Musterherr, Muttich, Pinge, Qualster, Quarre, Quappel, reuen, Ritscher, Sanduhrstein, Tschinke, Übersatz, Watschar, Wurstgraben, Zerte, Zeute, Zust.

So manches Wort werden wir bald vermissen, weil es heute schon selten erklingt, wie Anmut, Base, Belletage, betrübt, dämmern, Demut, entschwinden, entzückt, gefeit sein, Flegel, Gabelfrühstück, Göre, Herrenzimmer, Hochpaterre, Hupfdohle, intim werden, kredenzen, Lameng (aus der Lameng), Lichtspielhaus, lind, Mündel, Obacht, Ober (Ober, bringse noch’n Bier), Oheim, Philister, Plage, Plumpe, prellen, Racker, Ränke, reuen, rühmenswert, Rüstung, schwirren, schnauben, übertölpeln, Wählscheibe, Zecke, Zinne, Zuchthaus, Zugehfrau, Zwielicht, Zwist.

Dazu kommen noch die Wörter, über die wir froh sein werden, wenn sie verloren sind (diese Wörter notiere sich der Leser selbst).

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