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Dienstag, 15. November 2011

Anaïs Nin über das Schreiben

Warum man schreibt, ist eine Frage, die ich leicht beantworten kann, da ich mich das so oft selbst gefragt habe. Ich glaube, man schreibt, weil man eine Welt erschaffen muss, in der man leben kann. Ich konnte in keiner der Welten leben, die mir angeboten wurden: die Welt meiner Eltern, die Welt Henry Millers, die Welt Gonzalos oder die Welt der Kriege. Ich musste meine eigene Welt schaffen mit einem Klima, einem Land, einer Atmosphäre, in der ich atmen, herrschen und mich erneuern konnte, wenn mich das Leben zerstörte. Das ist, glaube ich, der Grund für jedes Kunstwerk. (…)

Wir schreiben auch, um unsere Kenntnis des Lebens zu erweitern, wir schreiben, um andere zu locken und zu verzaubern und zu trösten, wir schreiben, um unseren Liebsten ein Ständchen zu bringen. Wir schreiben, um das Leben doppelt zu kosten, im Augenblick und in der Rückschau. Wir schreiben, wie Proust, um die Dinge zu verewigen und uns zu überzeugen, dass sie ewig sind. Wir schreiben, um die Grenzen unseres Lebens zu überschreiten, um darüber hinaus reichen zu können. Wir schreiben, um uns selbst zu lehren, mit anderen zu sprechen, um die Reise in das Labyrinth aufzuzeichnen. Wir schreiben, um unsere Welt zu erweitern, wenn wir uns stranguliert fühlen oder eingeengt oder einsam. Wir schreiben so, wie die Vögel singen, wie die Primitiven ihre Riten tanzen. Wenn das Schreiben für dich nicht atmen ist, nicht Aufschrei oder Gesang, dann schreibe nicht, denn unsere Kultur hat dafür keine Verwendung. Wenn ich nicht schreibe, fühle ich, wie meine Welt schrumpft. Ich fühle mich wie in einem Gefängnis. Ich fühle, wie ich mein Feuer und meine Farbe verliere. Das Schreiben sollte eine Notwendigkeit  sein, so wie das Meer sich aufbäumen muss, und ich nenne das atmen.

Anaïs NIN, Brief an einen Autor, der fragte: „Warum scheibt man“?

(Übersetzt nach: The Diary of Anaïs Nin, Bd. 5 (1947–1955). Harvest 1975, S. 149; aus urheberrechtlichen Gründen kann ich den Originaltext hier nicht einstellen)

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