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Donnerstag, 20. Oktober 2011

Verb kontra Substantiv. I


Über allen Gipfeln ein Gefühl der Ruh / Über den Wipfeln kaum das Gespür eines Hauchs / Das Schweigen der Vöglein im Walde – / Warte nur, in Balde / Gehest zur Ruhe auch du. So könnte Johann Wolfgang von GOETHE auch gedichtet haben. Doch er wollte keine statische, hölzerne Beschreibung liefern, sondern uns das, was er mit seinem Wanderers Nachtlied sagen wollte, fühlen lassen, und schrieb:
Über allen Gipfeln
ist Ruh,
in allen Wipfeln
spürest du
kaum einen Hauch;
die Vöglein schweigen im Walde.
Warte nur, balde
ruhest du auch.
Also:

Schreiten Sie zur Tat

»Ich kam, sah, siegte« – veni, vidi, vici –, schreibt Julius CAESAR und nicht: »Nach dem Erreichen der Frontlinie und Inspektion der Sachlage war die Erringung des Sieges eine Möglichkeit.« Friedrich SCHILLER lässt in der Glocke »Balken krachen, Pfosten stürzen, Fenster klirren, Kinder jammern, Mütter irren«. Er spricht nicht vom Krachen der Balken, dem Stürzen der Pfosten (und auch nicht von klirrenden Fenstern, jammernden Kindern oder irrenden Müttern). Und er spricht nicht vom Rennen, Retten, Flüchten der Menschen, sondern er schreibt: »Alles rennet, rettet, flüchtet.« GOETHE dichtet im Sänger: »Der König rief’s, der Page kam, der Knabe lief, der König sprach: Laß mir herein den Alten.« Wie dynamisch und anschaulich wirken diese Sätze durch Verben und wie hölzern durch Substantive! Verben (Tat-Wörter) bewegen, Substantive liegen wie Steine im Bauch. Wenn Sie das Kino in Ihrem Kopf in Worte umsetzen wollen, brauchen Sie aber Bewegung.

Als bemerkenswertes Beispiel für einen verb-reichen Stil gilt der folgende Ausschnitt in GOETHES Briefen aus der Schweiz:
Der Morgenwind blies stark und schlug sich mit einigen Schneewolken herum und jagte abwechselnd leichte Gestöber an den Bergen und durch das Tal. Desto stärker trieben aber die Windweben an dem Boden hin und machten uns etlichemal den Weg verfehlen, ob wir gleich, auf beiden Seiten von Bergen eingeschlossen, Oberwald am Ende doch finden mußten. Nach Neune trafen wir dortselbst an und sprachen in einem Wirtshaus ein, wo sich die Leute nicht wenig wunderten, solche Gestalten in dieser Jahreszeit erscheinen zu sehen. Wir fragten, ob der Weg über die Furka noch gangbar wäre? Sie antworteten, daß ihre Leute den größten Teil des Winters drüber gingen; ob wir aber hinüberkommen würden, das wüßten sie nicht.
Das sind fünfzehn Verben bei einhundertvierzehn Wörtern. Goethe beginnt mit tatkräftigen Verben: blasen, jagen, herumschlagen, hintreiben; die Bewegung lässt nach, wenn die Wanderer geborgen im Wirtshaus eintreffen und ein Gespräch führen. Aber auch dabei finden wir dynamische Verben: erscheinen, sehen, gehen, hinüberkommen.

Mit Substantiven überfrachtete Sätze sind schlechter Stil. Überlegen Sie bei jedem Substantiv, ob ein Verb besser klingt, ob das, was Sie statisch ausgedrückt haben, nicht eher dynamisch ist.
Was kann man mit Verben nicht alles ausdrücken! Nehmen wir nur als Beispiel eine Feststellung wie Jürgen kommt. Sie können schreiben Laut Andreas will Jürgen kommen; die Absicht ausdrücken: Jürgen will kommen, aber auch die Möglichkeit einräumen: Jürgen sagte, er käme. Sie können einschränken: Jürgen überlegt, ob er kommen solle; Wahrscheinlich wird Jürgen kommen; Jürgen wird wohl kommen; es ist ziemlich sicher, dass Jürgen kommt. Oder Sie sind sich sicher: Jürgen kommt bestimmt. Sie können die Aussage auch als Aufforderung ausdrücken: Jürgen komm!, als Frage: Kommt Jürgen? oder als Wunsch: Jürgen soll kommen. Jürgen kann selbst äußern: Ich komme.Ob ich unbedingt gleich kommen soll? Soll ich lieber noch warten? – Soll ich … soll ich wirklich hingehen? Nein! Ja! Vielleicht doch?

Fortsetzung folgt
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