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Sonntag, 12. Juni 2011

Das Kind muss einen Namen haben: Über Titel. I


Ein Titel muß kein Küchenzettel sein. Je weniger er von dem Inhalte verrät, desto besser ist er. (LESSING)

Bei einem Lyrikwettbewerb zum Thema Herbst wählten unter rund tausend Gedichten fünf Einsender den Titel Herbst und drei Herbstgedanken, dazu kamen noch Herbstgedenken, Herbstabend, Herbst einst und Herbststimmung; sechs nannten ihr Gedicht November beziehungsweise Novemberschnee und Novembertag – ein bisschen viel Herbst.  Bei einem anderen Wettbewerb zum Thema Sternstunde hießen von fünfzig Gedichten acht originellerweise Sternstunde beziehungsweise Sternstunden und eins Sternstunden des Alters. Beliebt waren auch die Titel Traum, Unterwegs, Abschied, Wiedersehen, Begegnung und Bitte, vor allem aber die Erinnerung. Vermutlich wird vor allem bei diesem Titel kaum jemand das Gedicht lesen. Nennen Sie es aber Erinnerung an brennende Stunden wird der Leser neugierig. Was sagen Titel wie Erinnerung an einen schönen Abend oder Erinnerung an einen Morgen aus? Nichts. Frühlingserwachen, Frühlingslied, Frühlingssehnsucht – viel zu oft gelesen.

Ein bisschen mehr Einfallsreichtum sollten sich nicht nur Dichter gönnen, schließlich ist er die Voraussetzung für das Schreiben. Und dazu gehören nicht nur das gut komponierte Gedicht, sondern auch der Titel. Titeln Sie Ihr Gedicht also bitte nicht Herbst, wenn Sie mit – hoffentlich – neuen Worten über die Vergänglichkeit des Lebens schreiben. Geben Sie ihm im Zweifelsfall keinen Titel, im Gegensatz zur Prosa, wo Sie eine Geschichte nicht titeln dürfen Ohne Titel; das ist wie eine Katze ohne Namen: ungeliebt und nicht richtig akzeptiert.

SCHOPENHAUER schreibt in Über Schriftstellerei und Stil:
Was einem Briefe die Aufschrift, das soll einem Buch sein Titel sein, also zunächst den Zweck haben, dasselbe dem Teil des Publikums zuzuführen, welchem sein Inhalt interessant sein kann. Daher soll der Titel bezeichnend und, da er wesentlich kurz ist, konzis, lakonisch, prägnant und womöglich ein Monogramm des Inhalts sein. Schlecht sind demnach die weitschweifigen, die nichtssagenden, die schielenden, zweideutigen oder gar falschen und irreführenden Titel, welche letztere ihrem Buche das Schicksal der falsch überschriebenen Briefe bereiten können. 
Stellen Sie sich also vor, Sie möchten Lesestoff für eine lange Bahnfahrt kaufen. Sie stehen vor endlos langen Regalen, betrachten die überquellenden Büchertische: Welcher Titel wird Sie in Ihr Leseparadies locken? In erster Linie einer Ihres Lieblingsautors, doch wenn Sie das Buch schon kennen, werden Sie nach einem Roman mit einem Titel greifen, der in Ihnen Assoziationen weckt, der Sie neugierig macht, der Sie so beeindruckt, dass Sie mit dem Buch zur Kasse eilen. Wählen Sie also auch für Ihr Werk einen Titel, der dafür wirbt, der dem Leser einredet, dass er dieses Buch aus Ihrer Feder unbedingt lesen muss.

Der Titel ist ebenso wichtig wie jedes Wort, jede Figur, jede Einzelheit – er ist Teil des Textes, der Köder, den der Schriftsteller legt. Welcher Fisch beißt schon an, wenn der Köder fad ist oder alt? Er soll dem Leser suggerieren, dass er etwas Ungewöhnliches, noch nie Dagewesenes lesen wird.
Überlegen Sie, welche Titel sich Ihnen weshalb eingeprägt haben. Waren sie eindrucksvoller als andere oder sprachen sie Ihr Unterbewusstsein an? Wirkten sie durch ihren Rhythmus, ihren Gleichklang (Alliteration und Vokalwiederholung) oder ihren Klang (dunkle und helle Vokale und weiche Konsonanten)? Denken Sie daran, manche Bücher wurden allein durch ihre beeindruckenden Titel bekannt! Das gilt auch für Kurzgeschichten und Gedichte: Wer will Texte aus der Feder eines unbekannten Schriftstellers lesen, wenn schon der Titel zu brav oder abgedroschen klingt?

Spielen Sie aber auch nicht den Oberlehrer und wählen einen Titel, der als Nagelprobe dienen soll – ist der Leser überhaupt so phantasievoll, dass er weiß, was ich meine? – oder sich erst erschließt, wenn Leser das Buch gelesen hat. Entschuldigen Sie sich für einen weniger gelungen Titel nicht damit, dass Ihnen der richtige partout nicht eingefallen ist. Geben Sie Ihrem Text einen Arbeitstitel, wenn Sie den zugkräftigen Titel nicht gleich finden. Oft blitzt er erst beim Schreiben auf. Spielen Sie mit Ihren Einfällen, auch den bizarrsten, probieren Sie unterschiedliche Versionen aus. DICKENS notierte sich vierzehn verschiedene Titel für einen Fortsetzungsroman. Schließlich wählte er den Titel Harte Zeiten, um auf das soziale Anliegen des Romans hinzuweisen.

PREISENDÖRFER bemängelte im Tagesspiegel das Erfinden von »Titeläffchen«, die er zu den schlechtesten Gewohnheiten des Literaturbetriebes zählt:
Kommt ein »böses Mädchen« irgendwohin, laufen ganze Heerscharen hinterher; wird ein Halbsatztitel wie der von Mutters Asche erfolgreich, werden kohortenweise verwandtschaftliche Halbsatztitel ausgeheckt.
Club der toten Dichter ist originell, auch Club der Teufelinnen weckt die Neugier des Lesers; wenn weitere Autoren auf der Erfolgswelle schwimmen wollen und ihre Werke mit Der Club der … titeln, wirken sie nur noch langweilig. Mittlerweile kennt der Leser die Apothekerin, die Bienenzüchterin und jede Menge weiterer Berufsbezeichnungen. Doch irgendwann wird er Bücher mit solchen Bezeichnungen gar nicht erst in die Hand nehmen. Er ahnt, dass es ebenso einfallslos geschrieben ist wie der Titel.

Keine Köder sind Titel, die dem Leser etwas versprechen, was der Text nicht hält, wie englische Titel für ein Werk, das nichts mit einem englischsprachigen Land zu tun hat (vor allem, wenn sie auch noch falsch aus dem Deutschen übersetzt sind). Im Sommer des Erwachen lässt Marjorie REYNOLDS ihre zwölfjährige Heldin erzählen, wie es ihr ergeht, als sie versucht, in der Stadtbibliothek Bücher zu dem Thema auszuleihen, das sie am meisten interessiert: das, was zwischen Mann und Frau wirklich abläuft:
Beim nächsten Ausflug in die Bibliothek … nahm ich »Die Geliebte«  mit … Das Buch hatte eine Frau namens Evelyn Waugh geschrieben und bei solch einem Titel mußte man doch Romantik erwarten. Aber es ging hauptsächlich um Beerdigungen, Särge und Grüfte und so gut wie gar nicht umLiebe. Der einzige nackte Körper … war eine Leiche, und ich mußte, um überhaupt etwas zu verstehen, eine Menge Wörter nachschlagen, die ich noch nie gehört hatte, wie Mausoleum, Steinplastik, Balsamierer und vestalische Jungfrau, was etwas ganz anderes war, als man hätte meinen können. Ich fand, daß der Titel eine arglistige Täuschung war – auch ein Begriff, den ich beim Lesen dazu gelernt hatte.
Ebenso schlecht sind die »marktschreierischen Locktitel«, wie REINERS sie nennt:
Zschokke taufte eines seiner Machwerke Kuno von Kyburg nahm die Silberlocke des Enthaupteten und ward Zerstörer des heimlichen Vehmgerichts. Die Hersteller gewisser Unterhaltungsromane pflegen ihren Verlegern grundsätzlich ein halbes Dutzend lockender Titel zur Auswahl vorzuschlagen. Am lästigsten werden die Locktitel, wenn sie geistreich sein wollen, so, wenn jemand einen Aufsatz über Nähnadeln betitelt Die einäugige Königin der modernen Kultur oder über Bleistifte Womit Goethe den Faust schrieb.
Modern ist, Artikel mit Überschriften zu versehen wie Schwanensee. Eine Kritik oder Der gute Mann vom Wedding. Ein Bericht, doch in der Belletristik dürfen Titel im Untertitel nicht den Gegenstand oder Inhalt des Buches bezeichnen. Thomas MANNS Roman heißt nicht Der Zauberberg: Aus dem Leben eines Tbc-Kranken und IRVINGS Roman nicht Das Zirkuskind. Ein Roman über Indien. FLAUBERT nennt sein Werk Madame Bovary. Sittenbild aus der Provinz, er bezeichnet es aber auch nicht als Roman. Auch Doppeltitel wie Maria Oder: Die Lust am Leben sollten Sie vermeiden. Sie wirken, als wollten Sie sagen: Lieber Leser, ich konnte mich nicht entscheiden, such dir selbst aus, was dir besser gefällt.

Aber selbst Verleger können sich irren. Die Fachleute waren sich einig, dass ein Musical mit dem Titel My Fair Lady niemals erfolgreich sein würde. Das Stück lag jahrelang in der Schublade, bis es jemand ausgrub und über Nacht zu einem Welterfolg machte … Der Verleger Sebastian FISCHER lehnte DÖBLINS Berlin Alexanderplatz auch wegen des Titels ab – das sei ein U-Bahnhof und kein Romantitel. Zu seinem Roman Wenn Ali die Glocken läuten hört meint Güney DAL, dass das ein schrecklicher Titel sei, aber ein gutes Buch. Und manche Titel werden später geändert. Tania BLIXENS Afrika – dunkle, verlockende Welt heißt nach dem Welterfolg der Verfilmung: Jenseits von Afrika.

Viele Titel täuschen auch den Leser: Hinter STRINDBERGS Vater verbirgt sich eine Ehetragödie und nicht etwa ein gütiger Vater; auf dem Zauberberg geistern keine Elfen und Feen umher und verzaubern den Wanderer, und HAUPTMANNS Vor Sonnenuntergang verspricht kein Urlaubsabenteuer auf Jamaika.

Denken Sie daran:

Durch einen Leser, der Ihr Buch ablehnt, verlieren Sie mindestens fünf weitere.

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