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Donnerstag, 21. August 2008

Heldinnen und Bösewichter (Ihre Figuren. I)


Der Leser will Außergewöhnliches lesen: nicht über den Durchschnittsbürger, der ist er selbst, sondern über Riesen oder Zwerge; nicht über die Durchschnittsehe, sondern über Lachen, Weinen, Streit, Versöhnung. Die Figuren sollen einerseits so sein wie er selbst, denn er identifiziert sich mit ihnen, er erkennt in ihnen sein Spiegelbild und seinen Schatten. Ist er selbst langweilig und spießig, sollen die Figuren noch langweiliger und spießiger sein als er. Andererseits sollen sie das bisschen mehr Mut und Glamour besitzen, das er sich selbst immer gewünscht hat. Sie sollen böser, feiger, glücklicher sein als gewöhnliche Menschen, sie sollen leidenschaftlicher lieben, tödlicher hassen, sollen größere Wünsche haben, größere Autos fahren und in größeren Häusern wohnen. Der Leser will Erfahrungen sammeln, die er anders nicht gewinnen kann. Deshalb sollen Figuren mit Eigenschaften und Angewohnheiten, guten und schlechten, versehen werden, die sie von den anderen unterscheiden und sie herausheben aus der Menge. Der Leser interessiert sich nicht besonders für das, was er kennt. Ihn lockt das, was ihm ähnelt und doch fremd ist.

Ohne Figuren, die lieben und hassen, verbinden und integrieren, lachen und weinen, die wütend, neidisch und böse sind – die leben –, gibt es keine Handlung, ist keine Geschichte denkbar

Aber wie erreicht man, dass die Figuren, die Charaktere, die Helden, Protagonisten und Antagonisten zwischen zwei Buchdeckeln leben? Dass sie atmen wie Du und ich? Nun, die Menschen sind vielschichtig: Jeder Mensch besitzt rund fünftausend Charaktereigenschaften, heißt es. Schöpfen Sie also aus sich selbst, kundschaften Sie aber auch aus, was Sie nicht sind. Sie selbst sind der Ursprung Ihrer Figuren: Arbeiten Sie Ihre Facetten aus und formen Sie daraus eigene, vielschichtige Charaktere. Erfinden Sie sich neu. Denken Sie an Ihre Schattenseite, aber vergessen Sie Ihre Sonnenseite nicht. Überlegen Sie, was geschehen wäre, wenn ein Ereignis in Ihrem Leben nicht stattgefunden hätte. All das ergibt unendlich viel Material für Ihre Geschichten.

Lernen Sie die Menschen kennen

»Romanschreiber sollten des Studiums des echten Lebens nie überdrüssig werden.« (Charlotte BRONTÈ)

»Wenn du das Leben verstehen willst, hör auf zu glauben, was die Leute sagen und schreiben. Beobachte lieber dich selbst, und mach dir deine eigenen Gedanken.« (TSCHECHOW)

Leblose Figuren bleiben Ihrem Leser gleichgültig. Um lebendige Menschen zu schaffen, nicht »Perspektiventräger«, die nur die Handlung vorantreiben sollen, müssen Sie Vorbilder für Ihre Figuren suchen. Versetzen Sie sich also in andere Menschen, studieren Sie ihre Natur und versuchen Sie, ihr Handeln zu verstehen. Sie müssen kein Psychologe sein, Sie müssen sich nur Zeit für den anderen nehmen. Die besten Geschichten entstehen aus dem genauen Beobachten von Menschen. Doch vorher

beobachten Sie sich selbst

»Jeder Alptraum ist ein Hinweis auf die in der menschlichen Seele verborgenen Schätze der Vorstellungskraft. Was jeder Schriftsteller braucht, gleichgültig ob er schon etabliert ist oder erst anfängt, ist irgendein Zauber, ein Schlüssel,
der ihn mit sich selbst in Berührung bringt.« (John GARDNER)

Der Dichter besitzt die Gabe, sich selbst zu beobachten und auch aus dem scheinbar Banalen und Flüchtigen wichtige Erkenntnisse zu gewinnen – und er besitzt die Gabe, sie anderen zu vermitteln. Überlegen Sie also, wie Sie bei bestimmten Ereignissen handeln und was Sie in bestimmten Situationen fühlen. Wie würden Sie sich weiter verhalten? Wie drücken Sie Liebe, Enttäuschung, Freude, Wut, Erfolg und Niederlage und Ablehnung körperlich aus? Wie atmen Sie? Wie laufen Sie eine Treppe hinab, wie schließen Sie eine Tür? Wie sitzen Sie mit Freunden, mit der Familie, am Esstisch? Wer sitzt am Kopfende? Wie öffnen Sie eine Weinflasche?

Schauen Sie sich Ihre Mitmenschen an

Befassen Sie sich aber auch mit den Gefühlen, auch mit den außergewöhnlichsten, und mit den Wünschen und Sorgen Ihrer Mitmenschen. Woher wollen Sie sonst wissen, welche Freuden und Nöte sie bewegen?

Führen Sie keinen Small Talk, sondern hören Sie den Menschen, die Ihnen im Büro, bei Seminaren oder im Urlaub begegnen, aufmerksam zu. Sprechen Sie mit anderen Menschen über ihre Hoffnungen und Ängste, fragen Sie sie nach ihren Träumen und Gedanken. Lassen Sie sich ihr Leben erzählen.

Beobachten Sie Gebärden, Gesten, die Körpersprache: Was verrät jemand durch sein Äußeres? Wie streicht sich die Frau im Bus das Haar zurück? Wie sitzt der Mann im Bahnhofswartesaal? Wie bewegt sich die Verkäuferin? Verschränkt er die Arme vor der Brust? Geht sie aufrecht oder gebeugt? »Welche Sprache hat sein Lächeln?« (Anna RHEINSBERG)

Achten Sie auch auf scheinbar Nebensächliches, denn für das Drum und Dran Ihrer Figuren ist jede Einzelheit wichtig. Ihre Geschichte kann noch so spannend erzählt sein: Den Leser, der die Figur nicht vor sich sieht und ihren Charakter nicht kennt, lässt es kalt, wenn der ach so böse Einbrecher die arme alte Frau überfällt und in ihrem Blute liegen lässt. Betrachten Sie also die Menschen – hässliche und schöne, alte und junge –, achten Sie auf Figur und Frisur, Hautfarbe und Gesichtsausdruck, auf Falten, Warzen und Narben. Hinken, schlurfen oder schreiten sie? Wie kleiden sie sich, welchen Schmuck tragen sie? Duften sie nach teurem Parfum oder riechen sie nach Schweiß? Sind die Schuhsohlen abgetreten, die Fingernägel gepflegt oder abgekaut?

Sehen Sie die Welt und die Figuren, die darin leben, beim Schreiben vor sich, hauchen Sie ihnen, und damit Ihrem Text, Leben ein.

Schlüpfen Sie in das Leben anderer – der Chefin, der Freundin oder der Nachbarin, von Menschen, die Ihnen im Bus, in Zeitschriften oder im Fernsehen auffallen. Überlegen Sie, wie sie leben mögen außerhalb dessen, was sie zeigen, schauen Sie hinter die Masken – machen Sie das Unbegreifliche in ihnen begreiflich. Jeder von uns hat mehrere Gesichter, deren Widersprüche uns erst einzigartig machen, und in jedem von uns wohnen extreme Gefühle dicht beieinander. Es gibt nicht nur Schwarz und Weiß, Unschuldslamm und schwarzes Schaf. Auch der starke Mensch besitzt Schwächen, und der vermeintlich Schwache ist oft stärker als der, der sich mächtig gibt. Suchen Sie nach den Schwächen des Starken und den Stärken des Schwachen.

Barbara SLAWIG schreibt dazu:
»Der erste Schritt ist immer, daß ich versuche, die Person in mir lebendig werden zu lassen, das heißt, ich versuche sie mir in ihrem Alltag vorzustellen, beim Essen, Arbeiten, in der Kneipe ... Wenn mir das schwer fällt, hilft mir manchmal die Frage: Kenne ich jemand, der meiner Person ähnlich sieht? Also den gleichen Beruf hat, die gleiche Charakterschwäche etc. … Wenn ich gar keinen inneren Bezug zur Lebenswelt einer Person herstellen kann, ist es wohl besser, nicht über sie zu schreiben. Ganz wichtig scheint es mir zu bedenken, daß Menschen immer komplex sind, daß also niemand auf seine Funktion innerhalb der Geschichte reduziert werden darf … Und man kann auch die Eigenschaften einer Person nicht aus ihrer Funktion deduzieren. Es reicht also nicht, wenn ich mich frage: Ich brauche einen Computerfachmann – wie sind diese Computerleute denn so? Auf diesem Weg landet man nur bei Klischees. Eher umgekehrt: Ich habe hier jemand, der aus irgendwelchen Gründen Computerfachmann geworden ist – was gibt es denn sonst noch Wichtiges in seinem Leben?«
Martin WALSER beschäftigt sich mit Figuren oft jahrzehntelang:
»Die sind zunächst schemenhaft, zusammengesetzt aus realen Personen, oft ganz fernen, zufälligen Bekannten. Je weniger ich einen Menschen kenne, desto mehr kann ich von ihm verwenden. Denn dann kann er noch zusetzen. Ich lasse die Figuren spielen. Manche stammen aus der Literatur. Dann lebt Hamlet eben am Bodensee. Manche habe ich aus Zeitungsmeldungen. Solange sich die Projekte entwickeln, lebt jede Figur im Bauch, wie ein Kind, dessen Herzschlag man hört. Wenn mir dann eine Szene einfällt, notiere ich sie. Sind noch 15 Szenen dazugekommen, beginne ich zu schreiben. Wenn die Figuren Fleisch ansetzen, verlieren sich nach und nach die Konturen der Lieferanten. Die Figuren agieren dann selbsttätig. Sie schreiben die Geschichte, den Roman.«
WONDRATSCHEK sagt in einem Interview mit dem Tagesspiegel, dass er den meisten seiner Figuren tatsächlich begegnet sei. »Nur ihre Anordnung und die motivische Bedeutung ist Fiktion. Das gehört zur Alchimie des Erzählens (kursiv jmw).« Und: »Vieles ist gefunden – und alles erfunden.«

Seien Sie bei Ihren Beobachtungen jedoch nicht voyeuristisch, sondern achten Sie die Würde des Menschen, der Ihnen soviel Stoff für Ihre Texte schenkt. Sie dürfen, ja müssen sogar neugierig sein – das ist Ihr Beruf –, doch Sie dürfen niemand verachten. Projizieren Sie nicht Ihr Leben in das des anderen, werten Sie nicht, sondern fühlen Sie sich hinein.

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