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Dienstag, 13. November 2007

Die Angst vor dem weißen Blatt Papier. II

Schreibhemmung

Ich möchte hier nicht von den Fällen sprechen, in denen Sie nicht weiterwissen, weil Ihnen das passende Wort nicht einfällt, Sie nicht wissen, wie Sie etwas formulieren sollen oder Sie ratlos stecken bleiben. Diese Probleme lassen sich leicht lösen. Im ersten Fall können Sie die Stelle markieren und später im Synonymlexikon nach dem richtigen Wort suchen (wahrscheinlich fällt es Ihnen beim Mohrrüben- oder Autoputzen ein oder auf dem stillen Örtchen) oder den Satz erst einmal niederschreiben und später daran meißeln. Sollten Sie nicht gleich die richtigen Wörter dafür finden, dass sich das Jubelpaar bei der Silberhochzeit angiftet, sie ihn mit Champagnergläsern bewirft und er ihr die Silberhochzeitstorte ins Gesicht klatscht, bis die Polizei kommt und das Paar auseinander reißt, dann fassen Sie das Ereignis zusammen und arbeiten die Einzelheiten später aus.

Der zweite Fall zeigt, dass mit den Figuren oder der Handlung etwas nicht stimmt. Recherchieren Sie noch gründlicher, wechseln Sie die Perspektive oder Zeit, überlegen Sie, ob der Protagonist überhaupt der Richtige oder ob die Handlung logisch ist. Sollten Sie nicht recht im Klaren sein, was Thema oder Ziel Ihrer Geschichte ist, dann schreiben Sie einen Klappentext. Dabei müssen Sie sich auf das Wesentliche konzentrieren und finden einen Blick dafür, worum es eigentlich geht. Suchen Sie an allen möglichen und unmöglichen Orten nach Inspirationen. Schildern Sie einem Freund, der beruflich etwas anderes macht als Sie, das Problem. Er sieht es aus einem ganz anderen Blickwinkel und findet eine Lösung, an die Sie gar nicht gedacht hatten, gar nicht denken konnten.

Überarbeiten Sie den Text, um in die Geschichte hineinzufinden (aber beißen Sie sich daran nicht fest und überarbeiten nur noch).

Die Schreibhemmung liegt oft daran, dass der Schriftsteller den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht – er hat den Blick für Inhalt und Struktur verloren. Dann ist es hilfreich, zurück zum Ursprung zu gehen und das Gerüst mit den W-Fragen (siehe http://juttas-schreibtipps.blogspot.com/2007/11/die-groen-w.html) noch einmal zu bauen. Habe ich eine wichtige W-Frage übersehen? Welche Geschehnisse sind wichtig? Wohin will ich welche Ereignisse packen? Sortieren Notwendiges und Schönes, packen Sie das Unnötige weg. Wenn Sie sich das Gerüst neu gebaut haben und wissen, wie Ihr Kunstwerk aussehen soll, können Sie an die Feinheiten gehen.

Wählen Sie ein anderes Genre: Aus dem Krimi wird ein historischer Roman, aus der Liebesgeschichte ein Märchen. Zu jedem Thema gibt es ein passendes. Aschenputtel wurde zu Pretty Woman, Hänsel und Gretel zu Nightmare on Elm Street und das tapfere Schneiderlein zu Indiana Jones.

Es kann aber auch schlicht und ergreifend sein, dass Sie keine Ahnung haben, wie die Geschichte weiter gehen soll, selbst wenn Sie sie bis in jede Einzelheit geplant haben und das Gerüst steht. Sie sehen ihn nicht mehr vor sich, nichts passt mehr zueinander, die Handlung hat Sie weit entfernt von dem, was Sie beabsichtigt hatten. Sie haben nichts mehr zu sagen, Sie empfinden nichts, zu gut Deutsch: Sie haben absolut keine Lust, gar einen Horror davor, noch ein einziges Wort zu diesem Thema zu schreiben. Nun könnten Sie nachlesen, was Leidensgenossen zu einem ähnlichen Thema geschrieben haben – ein häufiger Trick! –, und die bereits gedachten Gedanken übernehmen. – Auch HEMINGWAY ließ sich in solchen Situationen von zeitgenössischen Autoren anregen, »wie etwa Aldous Huxley oder D. H. Lawrence oder sonst einem, von dem Bücher erschienen waren, die ich in Sylvia Beachs Bücherstube bekommen konnte«. – Aber was Sie dann schreiben, lebt nicht, es ist nicht Ihre Stimme, die erzählt – nicht Ihr Stil.

Bevor Sie nun lange am Stift kauen, Ihr Gehirn zermartern und den Roman verfluchen, an dem Sie seit fünf Jahren Tag für Tag arbeiten, überlegen Sie: Was auf der Welt beschäftigt mich so, dass es mich in meine Träume verfolgt? Was berührt mich? Was interessiert mich wirklich? Lassen Sie sich von den Antworten beflügeln – und schon fliegen die Finger wie von selbst über die Tasten.

Sollten all die guten Ratschläge nicht helfen, so lassen Sie den Text liegen. Keto VON WABERER rät: »An Tagen, an denen ich mich niedergeschlagen, ängstlich und schwarzseherisch fühle, hat es keinen Sinn, an einem Text zu arbeiten, alles erscheint mir dann mißraten und ohne Leben. Manche Geschichten fallen auf diese Weise in Ungnade und liegen lange und ungeliebt herum, bis ich sie noch einmal aufnehme.«

Und wenn das Thema, das Sie gewählt haben, doch nicht Ihres ist? Tja, dann müssen Sie noch einmal von vorn beginnen.

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