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Dienstag, 12. Juni 2007

(Nicht) jeder Anfang ist schwer. III

Damit ein belletristischer Text vollständig ist, muss er auch die folgende Fragen beantworten: Was ist geschehen? Mit wessen Hilfe hat er es getan? Wie entstehen die Verwicklungen? Wohin führen sie? Wie setzen sich die Figuren damit auseinander, wie reagieren sie? Wie werden sie sich entscheiden?

Als Beispiel für einen perfekten Beginn gelten die Anfangssätze des Zauberbergs:

„Ein einfacher junger Mensch reiste im Hochsommer von Hamburg, seiner Vaterstadt, nach Davos-Platz im Graubündischen. Er fuhr auf Besuch für drei Wochen.
Von Hamburg bis dort hinauf, das ist aber eine weite Reise; zu weit eigentlich im Verhältnis zu einem so kurzen Aufenthalt. Es geht durch mehrerer Herren Länder, bergauf und bergab, von der süddeutschen Hochebene hinunter zum Gestade des Schwäbischen Meeres und zu Schiff über seine springenden Wellen hin, dahin über Schlünde, die früher für unergründlich galten. Von da an verzettelt sich die Reise …“

Der Leser erfährt, wer warum wie wann wohin fuhr. Und mit den drei Wochen, die zu einem jahrelangen Aufenthalt werden – „eine weite Reise” –, in dem sein Inneres umgewandelt wird – „zu weit eigentlich” –, mit dem einfachen jungen Menschen, der durch Menschen aus „mehrerer Herren Länder” beeinflusst wird, den (seelischen) „Schlünden, die früher für unergründlich galten” und mit „von da an verzettelt sich die Reise” weist Thomas Mann auf die kommenden Ereignisse hin.

Lesen Sie, wie meisterhaft KLEIST im Anfang der Marquise von O den Angelhaken auswirft, die Hauptperson und den Ort einführt und das unerhörte Ereignis schildert:

In M …, einer bedeutenden Stadt im oberen Italien, ließ die verwitwete Marquise von O …, eine Dame von vortrefflichem Ruf und Mutter von mehreren wohlerzogenen Kindern, durch die Zeitungen bekannt machen: daß sie, ohne ihr Wissen, in andre Umstände gekommen sei, daß der Vater zu dem Kinde, das sie gebären würde, sich melden solle; und daß sie, aus Familienrücksichten, entschlossen wäre, ihn zu heiraten.

Neugier weckt auch sein Anfangssatz im Erdbeben in Chili:

In St. Jago, der Hauptstadt des Königreichs Chili, stand gerade in dem Augenblicke der großen Erderschütterung vom Jahre 1647, bei welcher viele tausend Menschen ihren Untergang fanden, ein junger, auf ein Verbrechen angeklagter Spanier, namens Jeronimo Rugera, an einem Pfeiler des Gefängnisses, in welches man ihn eingesperrt hatte, und wollte sich erhenken.

Ina SEIDEL ködert uns im Wunschkind mit dem Ereignis, dem Ort, dem Datum und den Namen der Hauptfiguren, (doch wieso sind die Frauen namenlos? Möchte sie damit auf die Zeit weisen, in der ihr Roman spielt – als Frauen nur als Mütter wahrgenommen wurden?):

In einem alten Familienhause am Karmeliterplatz zu Mainz saß in der Nacht vom 25. auf den 26. Juli des Jahres 1792 der preußische Premierleutnant der Infanterie Hans Adam Echter von Mespelsbrunn mit seiner Frau und seiner Mutter wachend am Bett seines schwerkranken Kindes.

HAMSUN lockt in die Mysterien mit mysteriösen Personen:

Um die Mitte des vorigen Sommers war eine kleine norwegische Küstenstadt der Schauplatz einiger höchst ungewöhnlicher Begebenheiten. Ein Fremder tauchte auf, ein gewisser Nagel, ein merkwürdiger und eigentümlicher Scharlatan, der eine Menge auffallender Dinge trieb und ebenso plötzlich wieder verschwand, wie er gekommen war. Dieser Mann erhielt sogar einmal Besuch von einer geheimnisvollen jungen Dame, die in Gott weiß welcher Angelegenheit kam und nicht wagte, sich länger als ein paar Stunden am Orte aufzuhalten.

Auch Alfred NEUMANN wirft den richtigen Köder aus. Das Ziel der Pistole wird ausgespäht und erfasst, aber erst auf Seite 170 löst sich der Schuss:

Das Haus des Revolutionsministers lag in so geringer Entfernung vom Parlament, daß der Hochverräter – wie er von Hubert Hoff und seinen Freunden genannt wurde – nur in ganz seltenen Fällen den Kraftwagen zu benutzen pflegte. Das wußte man. Man kannte auch die Stunde, in der er, begleitet von seinem verwachsenen und scheuen Sekretär, im Hauptportal des barocken Baus auftauchte, kurzbeinig und fest die Allee zum Parktor durcheilte, vor den beiden salutierenden Matrosenposten höflich und etwas lächerlich den Hut zog und immer den gleichen Zehnminutenweg wählte. Man hatte sich sehr große Mühe gegeben, jede Sekunde dieses wichtigen Stundensplitters auf ihre Eignung zu untersuchen. Man wußte jetzt Bescheid und kannte den gültigen Augenblick. Man kannte sogar – und es schauderte vor solchem Weitblick keinem – das Stück des Bürgersteigs, das unter die erwählte Spanne Zeit zu liegen kam (auf das der Blitz einschlagen wird, formulierte Hoff): fünfzehn gute Meter zwischen einem Gully und der Bordschwelle einer stillen Querstraße. (Der Held)

BÜCHNER nennt im Anfang von Lenz alles Wichtige und weist mit dem Satz „Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, daß er nicht auf dem Kopf gehen konnte” und „er hätte die Erde hinter den Ofen setzen mögen” auf dessen Wahnsinn hin:

Den 20. Jänner ging Lenz durchs Gebirg. Die Gipfel und hohen Bergflächen im Schnee, die Täler hinunter graues Gestein, grüne Flächen, Felsen und Tannen. Es war naßkalt; das Wasser rieselte die Felsen hinunter und sprang über den Weg. Die Äste der Tannen hingen schwer herab in die feuchte Luft. Am Himmel zogen graue Wolken, aber alles so dicht, und dann dampfte der Nebel herauf und strich schwer und feucht durch das Gesträuch, so träg, so plump. Er ging gleichgültig weiter, es lag ihm nichts am Weg, bald auf-, bald abwärts. Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, daß er nicht auf dem Kopf gehen konnte. … Es war ihm alles so klein, so nahe, so naß, er hätte die Erde hinter den Ofen setzen mögen …

Mehr dazu siehe http://juttas-schreibtipps.blogspot.com/search/label/%C3%9Cbers%20Beginnen

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