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Donnerstag, 4. Januar 2007

Spurensuche – Übers Recherchieren. I


"Indem ich dieses nicht in einem lustigen Sommer entstandene Buch in die Hände der Leser gebe und es ihrem guten Herzen anbefehle, drängt es mich, eine gute Gewohnheit scheuerer Zeiten und schämigerer Autoren wachzurufen und mich strengstens gegen alle Mißdeutungen zu verwahren. Ich bitte ganz gehorsamst, weder den Ort Abu Telfan noch das Tumurkieland auf der Karte von Afrika zu suchen; und was das Mondgebirge anbetrifft, so weiß ein jeder ebensogut als ich, daß die Entdecker durchaus noch nicht einig sind, ob sie dasselbe wirklich entdeckt haben. Einige wollen an der Stelle, wo ältere Geographen es notierten, einen großen Sumpf, andere eine ausgedehnte Salzwüste und wieder andere nur einen unbedeutenden Hügelzug gefunden haben, welches alles keineswegs hindert, daß ich für meinen Teil unbedingt an es glaube," schreibt RAABE im Vorwort von Abu Telfan.

Und an anderer Stelle:

"Es war recht angenehm, einen Helden frisch, fromm und frei aus dem allerunbekanntesten, allerinnersten Afrika in Triest landen zu lassen. Man hätte glorreich lügen können, ohne die mindeste Gefahr zu laufen, dessen überführt zu werden, und wir hatten uns entschlossen, es zu tun. Was alles hätten wir mit unserer bekannten Gefälligkeit über den Gorilla, die Tsetsefliege, den Tschadsee, den Sambesi und dergleichen Kuriositäten sagen können! Überall hatten wir es mit Dingen zu tun, von welchen jedermann etwas gehört hat, ohne jedoch etwas Genaueres darüber zu wissen."

Sie können nicht auf jedem Gebiet Experte sein, im Gegenteil, Sie könnten sich zu leicht in Einzelheiten verlieren, die höchstens für Fachleute wichtig sind. Sie müssen nicht durchs finsterste Afrika gereist sein, um darüber zu schreiben, wenn Sie Phantasienamen verwenden und das wie Raabe ankündigen. Doch wenn Sie reale Namen nennen, müssen diese nachprüfbar sein. Nennen Sie zum Beispiel nicht den Markennamen des Medikamentes, mit dem Ihr Held gemordet hat, wenn es nur bei harmlosen Kopfschmerzen hilft. Auch die Straße, in der die abscheuliche Tat geschah, muss auf dem Stadtplan zu finden sein, es sei denn, Sie wählen einen Allerweltsstraßennamen. Mit Hauptstraße können Sie nichts falsch machen, 7 630 Straßen in Deutschland heißen so, ebenso wenig mit Dorfstraße, denn so werden 6 988 Straßen genannt. Die Bahnhofstraße und Kirchstraße gibt es 4.979 beziehungsweise 2 893 Mal. Schiller schlägt Goethe mit 2 248 Straßen, dessen Name »nur« auf 2 172 Straßenschildern erscheint. In der Berliner (Bonner, Bochumer) Goethestr. 3 darf jedoch kein Buchhändler den Faust verkaufen, und vor der Kirchstr. 20 in Kiel, Köln oder Kempten darf keine Straßenbahn halten, wenn dort keine Haltestelle ist. –

Das ist keine Korinthenkackerei – verzeihen Sie uns, lieber Leser, dieses harte Wort: Seien Sie versichert, Sie werden garantiert Leser finden, die solche Angaben prüfen und sich ärgern, wenn sie falsch sind. Selbst wenn Sie über so exotische Naturwunder schreiben wie über den Angelfall in Venezuela weiß mindestens ein Leser, dass dieser »nur« ein Rinnsal ist, das tausend Meter in die Tiefe stürzt. –

Recherchieren Sie in Lexika, der Fachliteratur, an Ort und Stelle oder im Internet, sprechen Sie mit sachkundigen Personen, bevor Sie mit dem Schreiben beginnen. Googeln Sie zum Beispiel nach der Berufsbezeichnung, zu der Sie Näheres erfahren möchten, wenn Sie für Ihre Heldin zwar eine Tätigkeit gewählt haben, sie Ihnen aber zu gewöhnlich erscheint oder das Ganze noch zu platt wirkt. Zu jedem Beruf gibt es Homepages, auf denen Menschen erzählen, weshalb sie ausgerechnet ihn ergriffen haben. Solche Berichte inspirieren enorm und helfen Ihnen, den Charakter stimmiger erscheinen zu lassen. Auch Hintergrundinformationen finden Sie auf diese Weise. Befragen Sie einen Falkner zur Beizjagd, lassen Sie sich von einem Förster einen Mischwald erklären.

Viele Menschen sprechen mit Begeisterung nicht nur über ihren Beruf, sondern auch über ihr Hobby oder die Sportart, die sie ausüben. Briefmarken sammelt jeder Dritte, das ist abgedroschen, doch wer sammelt schon Einkaufszettel? Jeder Zweite spielt Tennis, aber kaum jemand Snooker. Fragen Sie einen Snookerspieler aus über den Wert der farbigen Kugeln oder über den höchsten Break. Denken Sie an das Lied in der Sesamstraße »… wer nicht fragt bleibt dumm« – Antworten erhält nur, wer Fragen stellt. Freuen Sie sich, dass Sie eine Menge über Dinge lernen, deren Existenz Sie vor einigen Jahren noch nicht einmal ahnten.

Wenn Sie über die Probleme des Besitzers eines Tante-Emma-Ladens schreiben möchten, den eine Filialkette aufkaufen will, fragen Sie einen Fachmann nach Mengenrabatten, Sconti, Minijobs oder Outsourcing.

Eine Erzählung, in der jemand auf der Bahnfahrt von Reykjavik nach Akureyri beim Fensteröffnen Bienen summen hört, wird ein Island-Kenner nicht weiter lesen. Abgesehen davon, dass man das Summen der Bienen während einer Zugfahrt nicht hören kann, gibt es keine Schienen in Island; dort ist man gleich vom Pony auf das Auto umgestiegen. Wenn Ihr Held einen Schatz in einer Höhle im Himalaja verstecken will, weil es dort erdbebensicher ist, erkundigen Sie sich vorher, ob das stimmt. Peinlich wird es, wenn ein Zuhörer bei einer Lesung freundlich darauf hinweist, dass der Himalaja eines der erdbebenreichsten Gebiete der Erde ist (die Schreiberin dieses Buches spricht aus Erfahrung …).

Literatur bedeutet auch Recherche, so lästig sie auch sein mag.

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