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Dienstag, 5. Dezember 2006

Die ungeliebte Arbeit: Überarbeiten und Feilen

Schreiben bedeutet harte Arbeit. Die erste Fassung ist niemals die richtige, auch wenn Ihnen Ihr Werk gefällt und Sie meinen, es sei aus einem Guss, und Sie den „Genius zwischen den Zeilen” (Glaubitz) vermuten. Flaubert rät Louise Colet: „Vernachlässigen Sie nichts, arbeiten Sie, schreiben Sie neu und lassen Sie das Werk erst aus der Hand, wenn Sie die Überzeugung haben, daß Sie es zu dem Grad von Vollkommenheit gebracht haben, den ihm zu geben Ihnen möglich war (kursiv jmw).” Und für Erich Fried steckt „im schnellen Schreiben und erst nachher gewissenhaft Korrigieren eine Art Respekt und Vertrauen gegenüber seinem ursprünglichen Einfall … und das … (ist) sehr gut, weil dann die Einfälle nicht so leicht austrocknen wie bei einem Menschen, der seinen eigenen Einfällen gegenüber respektlos ist und ihnen ausbeuterisch gegenübersteht”.

Lassen Sie Ihren Text ein paar Wochen liegen und streichen Sie dann all die überflüssigen Wörter, Sätze und Absätze, die sich trotz aller Bemühungen eingeschlichen haben. „Wenn es möglich ist, ein Wort zu streichen – streiche es”, rät Orwell. Ihre Worte sind nicht in Stein gemeißelt, lassen Sie jedes einzelne um seine Berechtigung kämpfen.

Alle großen Schriftsteller feilen. Fontane ist manchmal vierzehn Tage einem einzigen Wort „hinterhergerannt”. Er meint, dass drei Viertel seiner „ganzen literarischen Tätigkeit überhaupt Korrigieren und Feilen gewesen” sei. „Und vielleicht ist drei Viertel noch zu wenig.” Thukydides feilte beim Schreiben seines Werkes über den peloponnesischen Krieg immer wieder am Stil. Er verlängerte ein Wort zu einem Satz oder zog einen Satz in ein Wort zusammen, ersetzte ein Substantiv durch ein Verb und umgekehrt. Capote schrieb vier Niederschriften: eine mit Bleistift, eine auf blaues, eine auf gelbes und die endgültige Version auf weißes Papier. Thurber strich neunzig Prozent seiner Wörter. Er soll seine Erzählungen fünfzehn Mal umgeschrieben und zweitausend Stunden für eine Arbeit verwendet haben, die zum Schluss höchstens zwanzigtausend Wörter umfasste. „Ich weiß nicht”, soll er geseufzt haben, „meine ersten Entwürfe klingen immer, als hätte die Putzfrau sie geschrieben. Nur ein einziges Mal ist es mir gelungen, eine Sache glatt herunterzuschreiben”. Bei Dorothy Parker kommen auf fünf Wörter sieben, die sie streicht. Schlink streicht die Hälfte dessen, was er geschrieben hat, durch, schreibt etwas anderes darüber, korrigiert später noch einmal, und manchmal merkt er, wenn er den Text schließlich ins Diktiergerät spricht, dass die zweite durchgestrichene Fassung doch die richtige war.

Sie alle kennen sicher den 23. Psalm – Der Herr ist mein Hirte. Aber Sie wissen wahrscheinlich nicht, wie viel Mühe es Luther bereitete, ihn zu übersetzen. Er feilte und strich und fügte hinzu, bis er die richtigen Worte fand. Zum Glück für uns Nachgeborene blieb das Manuskript erhalten (auch wenn Sie nicht die Schrift lesen können, erkennen Sie doch, wie sehr er gefeilt hat).



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