Seiten

Donnerstag, 23. November 2006

Was ist eigentlich Poesie?

Zuhörer beim seinerzeit sagenhaften „Literarischen Quartett” brauchten nicht viel Geduld, wenn sie auf eine der alternativen Bemerkungen Marcel REICH-RANICKIS warteten: „Ich vermisse hier wieder einmal jegliche Poesie” oder „Hier endlich hört man sie wieder einmal, die Poesie” – und dann war ihm vieles andere an einem literarischen Werk minder wichtig.

MRR hat seine Worte immer sorgfältig gewählt. Wenn er „jegliche” sagte, wollte er andeuten, dass es unterschiedliche Formen der Poesie gibt, und wenn er „hören” sagte, hatte er Poesie schon ziemlich genau beschrieben.

Dem (gr.) poiein, das zunächst nur machen, schaffen, schöpferisch tätig sein bedeutete, wurde bald das Dichten zugeordnet, und im 18. Jahrhundert fand man dann den dichterischen Stimmungsgehalt/den Zauber/– die Verzauberung – hinzu.

Da hat es sich der Freiherr von EICHENDORFF ziemlich leicht gemacht, als er sein vielleicht berühmtestes Gedicht über eine „Mondnacht“ schrieb, in der für uns Menschen seit alters ein unerklärbarer Zauber wirkt: die Poesie des Themas? Aber dann:

Es war, als hätt' der Himmel
die Erde still geküsst,
dass sie im Blütenschimmer
von ihm nun träumen müsst.

Die Luft ging durch die Felder,
die Ähren wogten sacht,
es rauschten leis die Wälder,
so sternklar war die Nacht.

Die Poesie der Sprache!

Und schließlich kann es sich Eichendorff sogar leisten, sein Eingangsthema zu verlassen:

Und meine Seele spannte
weit ihre Flügel aus,
flog durch die stillen Lande,
als flöge sie nach Haus.


denn seine dichterische Sprache trägt ihn – nicht irgendwohin, aber jedenfalls aus dem Bilde.

Und jetzt mache ich es mir leicht, wenn ich gleich bei Eichendorff bleibe, um ein Beispiel für die Poesie in der Prosa zu suchen, denn reine Poesie ist der Anfang zum „Taugenichts”:

"Das Rad an meines Vaters Mühle brauste und rauschte schon wieder recht lustig, der Schnee tröpfelte emsig vom Dache, die Sperlinge zwitscherten und tummelten sich dazwischen; ich saß auf der Türschwelle und wischte mir den Schlaf aus den Augen; mir war so recht wohl in dem warmen Sonnenscheine. Da trat der Vater aus dem Hause; er hatte schon seit Tagesanbruch in der Mühle rumort und die Schlafmütze schief auf dem Kopfe, der sagte zu mir: „Du Taugenichts! Da sonnst du dich schon wieder und dehnst und reckst dir die Knochen müde und lässt mich alle Arbeit allein tun. Ich kann dich hier nicht länger füttern. Der Frühling ist vor der Tür, geh auch einmal hinaus in die Weit und erwirb dir selber dein Brot.”

Natürlich geht der Taugenichts.

Und dann geschieht etwas geradezu Sensationelles:

"Wie aber denn die Sonne immer höher stieg, rings am Horizont schwere weiße Mittagswolken aufstiegen und alles in der Luft und auf der weiten Fläche so leer und schwül und still wurde über den leise wogenden Kornfeldern …",

denn da reißt seine poetische Sprache den Dichter ganz aus seiner Zeit heraus, in den hohen Sommer, obwohl gerade eben noch der letzte Schnee emsig vom Mühlendach getropft war.

Zunächst also trägt die Sprache den Dichter mit sich fort, sogar aus dem Bilde heraus, und wenn sie ganz zauberhaft ist, merken auch wir das noch nicht einmal – oder jedenfalls erst mit dem zweiten Hinsehen. Denn wir sind selbst verzaubert.

Eichendorff zählt zu den Romantikern, die ganz besonderen Wert auf die Poesie in ihren Werken gelegt haben, vor allem auf die Poesie der Sprache. Und es wäre ganz unfair, sie auch heute den Dichtern in Lyrik und Prosa als Vorbilder zu empfehlen: Wir leben in einer anderen Zeit. Aber beim Lesen (– beim Laut-Lesen!) hat wahrscheinlich jeder von uns ein Schwingen gespürt, das weiter trägt, den Ton gehört, der über allen diesen Sätzen liegt.

MRR hat in seinen Anmerkungen kaum jemals genau gesagt, wo oder wie er das besonders Poetische heraus gehört hatte und wie man Poesie bestimmen kann, aber er hat mit seinen Hinweisen fast immer Recht gehabt. Umstritten war dann bei der Beurteilung eines literarischen Werkes nur noch der Stellenwert, den die Poesie haben sollte.

Nun die unangenehme Rückseite der Medaille!

Das Gedicht eines jungen Lyrikers ist zweifellos poetisch:

Über die Wiesen, leis hingesungen,
weht schon der Jubel des Maien;
flüsternd fließen alle Brunnen,
wärmer tönen die Schalmeien.

Zärtlich sind die Stimmen der Welt
und ruhig atmet die Erden.
Selbst der geschwätzige Star verhält
sich still, da alle stiller werden.

Birken wiegen sich sacht im Wind
nach ungehörter Melodei …


Der junge Dichter lebt längst nicht mehr. Er starb sehr früh im Polenfeldzug des Zweiten Weltkriegs. Und deswegen, und weil er ein sehr guter Freund war, darf ich die letzten Zellen seines kleinen Opus einfach weglassen: sie sind Kitsch.

Aber auch die fliegende Seele könnte Kitsch sein, ebenso wie das blaue Band und die prangenden goldenen Sternlein und …
– sogar das junge und morgenschöne Röslein! Dass sie es nicht sind, liegt an dem sicheren Gespür der großen Dichter für die Grenzen ihrer Poesie.

Und jetzt braucht es Ihre ganz besondere Aufmerksamkeit: Sie wissen vermutlich nicht, wo der Vers

Als wüchsen zwischen staubgrauen Steinen des Weges
die süßen Schwingel des Grases
und als bräche aus schwerem Herbstgewölk
unvermutet der Frühling …

steht, aber er ist zweifellos große Poesie. Sie finden ihn in Hermann STEHRS, eines schlesischen Dichters (um 1900), „Amadeus Mandels Geburt“. Und dort steht er als ganz schlichte Prosa!

(Versuchen Sie jetzt bitte einmal, die vier Zeilen als Prosa zu lesen!)

Horst Dinter

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen