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Samstag, 24. November 2012

Marie von Ebner-Eschenbach über Novellenstoffe (Schreibanlässe)

„Geben Sie mir einen guten Stoff zu einer Novelle“, sagte mein nun schon dahingeschiedener Freund.

„Bücken Sie sich und heben Sie ihn auf, er wächst überall aus dem Boden.“

Er lachte. „Und hat Erdgeruch. Ich danke.“

„So strecken Sie die Hand aus, wenn Sie sich nicht bücken wollen. Stoffe fliegen zu Hunderten in der Luft herum.“

„Danke abermals. Auch aus der Luft mag ich meinen Stoff nicht greifen. Erzählen Sie mir etwas von Menschen Erlebtes, die Ihnen Liebe, Freundschaft, oder mindestens ein lebhaftes Interesse einflößten. Dergleichen ist bei Ihnen immer vorrätig, Frau Beichtmutter.“

„Kann sein, kann gerade heute sein, weil ich Freundesbriefe geordnet, mein Tagebuch durchgeblättert, halbverwelkte Erinnerungen wiederaufgefrischt habe. Nur bedenken Sie: Ich bin alt, meine Freunde sind alt, mein Stoff wird auch nicht neu sein.“

„Gibt es einen neuen Stoff? Das bezweifeln Sie doch selbst. Ich habe wahrlich nicht die Anmaßung, etwas nie Dagewesenes bringen zu wollen. Wenn mir nur die Schilderung eines Erlebnisses gelingt, das sich gestern oder vor fünfzig Jahren begeben hat und in dem Menschen von heute sich mit ihren Gedanken und Empfindungen wiederfinden.“

„O wie schwer! – das Schwerste.“

„Kinderleicht oder – unmöglich. Ans Werk, denken Sie nach – erzählen Sie!“

(…)

„Sagen Sie mir, lieber Freund, lesen Sie nicht täglich eine Zeitung und nicht täglich eine Gerichtsverhandlung?“

„Nein, das tue ich gewiß nicht.“

„Ich tu’s, und was erlebe ich dabei? – fast jedesmal eine Novelle. Fast immer beginnt die Novelle da, wo die Gerichtsverhandlung aufhört. Ich begleite einen Freigesprochenen oder einen Verurteilten zurück nach seinem Wohnort oder auf dem Wege zum Antritt der Strafe. Ich habe die Verhandlung aufmerksam verfolgt und weiß oder – für mich ganz dasselbe – glaube zu wissen, was in der Hauptperson des manchmal widerwärtigen, manchmal ergreifenden und rührenden Schauspiels vorgeht. Aus diesem Wissen werden mir Novellenstoffe in Hülle und Fülle geboten. Am dankbarsten sind, die von mit Unrecht Freigesprochenen handeln und von Verurteilten, die nach Verbüßung ihrer Strafe überall als Auswürflinge betrachtet und ins moralische Elend zurückgestoßen werden. Was für Bilder gibt es da zu zeichnen und zu malen! Die Mannigfaltigkeit ist unerschöpflich.“

Marie von Ebner-Eschenbach, Novellenstoffe. Ein Gespräch http://www.literaturdownload.at/pdf/Ebner-Eschenbach_-_Novellenstoffe.pdf

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