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Samstag, 17. November 2012

Gertrude Stein über „is a...is a...is a...“

Woher Gertrude Steins legendärer Ausspruch „Rose ist eine Rose ist eine Rose ist eine Rose“ (Rose is a rose is a rose is a rose) stammt, wissen wir nun (siehe http://juttas-schreibtipps.blogspot.de/2012/11/gertrude-stein-uber-substantive-und.html). Aber wir wissen noch nicht, was sie damit meint.

Zum Glück fragte sie das ein Student nach ihrer Vorlesung von Poetik und Grammatik (Poetry and Grammar) an der Universität von Chicago im Jahr 1934. Ihre Antwort lautete:
Also  hören Sie! Verstehen Sie denn nicht, dass, als die Sprache neu war –  wie bei Chaucer und Homer –, der Dichter den Namen eines Dinges  gebrauchen konnte und das Ding dann wirklich da war? Er konnte sagen „O Mond“, „O Meer“, „O Liebe“, und Mond und Meer und Liebe waren wirklich da. Und verstehen Sie denn nicht, dass er, nachdem hunderte von Jahren vergangen und tausende von Gedichten geschrieben worden waren, sich auf eben jene Worte berufen und herausfinden konnte, dass sie nur abgenutzte literarische Worte waren? Das Erregende des reinen Seins war von  ihnen gewichen; es waren nur noch ziemlich abgegriffene literarische  Worte. Nun, der Dichter muss in der Erregung des reinen Seins  arbeiten; er muss der Sprache diese Intensität neu verleihen. Wir alle wissen, dass es schwer ist, im höheren Alter Gedichte zu schreiben; und wir wissen, dass man etwas Ungewöhnliches, etwas Unerwartetes in das Satzgefüge bringen muss, um dem Substantiv seine Vitalität zurückzugeben. Es genügt aber nicht bizarr zu sein; die Eigenart des Satzgefüges muss auch von der dichterischen Begabung kommen. Darum ist es doppelt schwer, im höheren Alter ein Dichter zu sein. Nun, Sie alle kennen hunderte von Gedichten über Rosen, und Sie wissen, dass die Rose nicht vorhanden ist. All jene Lieder, die Sopransängerinnen als Zugaben singen:  „Ich habe einen Garten, oh, was für einen Garten!“ Nun, ich möchte dieser Zeile nicht zuviel Bedeutung beimessen, weil sie nur eine Zeile in einem längeren Gedicht ist. Aber ich merke, dass Sie sie alle kennen; Sie sind belustigt, aber  Sie kennen sie. Also, hören  Sie! Ich bin kein Narr! Ich weiß, dass man im Alltag nicht herumgeht und sagt: „ist eine ... ist eine ... ist eine ...“. Ja, ich bin kein Narr; aber ich glaube, dass die Rose in dieser Zeile seit hundert Jahren zum ersten Mal in der englischen Poesie wieder rot ist."

Now listen. Can’t you see that when the language was new—as it was with Chaucer and Homer—the poet could use the name of a thing and the thing was really there. He could say ‘O moon,’ ‘O sea,’ ‘O love,’ and the moon and the sea and love were really there. And can’t you see that after hundreds of years had gone by and thousands of poems had been written, he could call on those words and find that they were just wornout literary words. The excitingness of pure being had withdrawn from them; they were just rather stale literary words. Now the poet has to work in the excitingness of pure being; he has to get back that intensity into the language. We all know that it’s hard to write poetry in a late age; and we know that you have to put some strangeness, as something unexpected, into the structure of the sentence in order to bring back vitality to the noun. Now it’s not enough to be bizarre; the strangeness in the sentence structure has to come from the poetic gift, too. That’s why it’s doubly hard to be a poet in a late age. Now you all have seen hundreds of poems about roses and you know in your bones that the rose is not there. All those songs that sopranos sing as encores about ‘I have a garden! oh, what a garden!’ Now I don’t want to put too much emphasis on that line, because it’s just one line in a longer poem. But I notice that you all know it; you make fun of it, but you know it. Now listen! I’m no fool. I know that in daily life we don’t go around saying ‘…is a…is a…is a…’. Yes, I’m no fool; but I think that in that line the rose is red for the first time in English poetry for a hundred years.  
(In What are masterpieces and Why are there so few of them (Was sind Meisterwerke) mit einer Einleitung von Thornton Wilder. Yale University Press 1947, S. V f.;  zitiert nach http://www.thealsopreview.com/messages/33/593.html?1265252025)


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