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Freitag, 14. Oktober 2011

Übers Scheinen, Meinen und andere Fallstricke der deutschen Sprache


Beginnen wir mit einem vermeintlich simplen Satz: »Die Passagiere der Titanic wähnten sich auf einem unsinkbaren Schiff.« Aha, sagen Sie nun vielleicht, wo ist da der Fallstrick? Nun, das Wort wähnen bedeutet durchaus nichts Erfreuliches, sondern – einen Wahn.

Auch Verben wie scheinen, meinen, mögen, wollen können tückisch sein. Hans wollte den Fehler nicht einsehen – das ist eine Tatsache. Es schien, als hätte er den Fehler nicht eingesehen – das ist eine Meinung. Er mochte darin keinen Fehler sehen – hier wird ihm eine böse Absicht unterstellt. Er meinte, er habe keinen Fehler gemacht – man kann es glauben oder nicht.

Wir räumen Jugendlichen ein, dass sie manchmal über die Stränge schlagen: Wir gestehen ihnen das nachsichtig zu. Wenn jemand einräumt, er sei schwarz gefahren, kann er sich nicht reinwaschen, indem er einräumt, ein kleines Vergehen begangen zu haben. Ebenso falsch ist, wenn die Polizei einräumt, nach einem Mord noch keine heiße Spur zu haben: Entweder hat sie eine Spur, oder sie hat keine. Räumen wir also mit dem falschen Gebrauch des Verbs einräumen auf.

Subtile Unterschiede gibt es zwischen verlautbaren, mitteilen und heißt es: »Es heißt, dass in dem Restaurant-Mord eine heiße Spur besteht«, ist eine Vermutung. »Die Polizei verlautet, dass eine heiße Spur besteht«, kann bedeuten, dass ein kleiner Beamter sich wichtig tun wollte und einem Reporter gegenüber eine Andeutung gemacht hat; ob sie stimmt, ist nicht erwiesen. Teilt der Polizeipräsident mit, dass …, besteht wirklich eine heiße Spur.

Seien Sie auch vorsichtig mit behaupten: »Paul behauptet, dass er gestern Abend im Theater war und nicht in dem Restaurant, wo der Tote gefunden wurde.« Der Kommissar muss das Alibi zunächst glauben. Eine Tatsache ist das nicht.

Ebenso tückisch sind anscheinend und scheinbar: Anscheinend war Paul zum Tatzeitpunkt im Kino; scheinbar war Paul zum Tatzeitpunkt im Kino. Mit diesen Wörtern wird eine zweite Meinung ausgedrückt: scheinbar war Paul … – anscheinend war Paul … – war er oder war er nicht?

Können Sie ein Buch schreiben, vermögen Sie ein Buch zu schreiben oder sind Sie imstande dazu? Können kommt von kann – Sie können es also. Sie vermögen ein Buch zu schreiben – Sie wären in der Lage dazu, machen es aber nicht. Sie sind imstande … Sie könnten es schreiben; ob es gut wird, ist unklar.

Offenbar bedeutet in der Lutherbibel offensichtlich, sichtbar, im Journalismus wird es im Sinne von anscheinend, vermutlich, vielleicht gebraucht. Behandeln wir das Wort so, wie es uns offenbart wurde: im Sinne von Luther.

Grete und Maria tauschten nach einigen Tagen ihre Standpunkte aus. Aha. Der Leser grübelt: Waren die Standpunkte verkalkt? Weshalb müssen sie sonst nach so kurzer Zeit ausgetauscht werden. Könnte Calgon helfen, die neu eingebauten Standpunkte funktionstüchtig zu erhalten? Und was ist, wenn der Techniker sie falsch montiert? Oder haben Grete und Maria ihre Standpunke ausgetauscht? Handelten sie aus Edelmut? Was machen sie nun damit? Werden sie das später bereuen? – Da der Leser sich nicht seitenlang mit der Standpunktfrage beschäftigen soll, statt Ihr Werk weiterzulesen, stehe ich weiterhin auf dem Standpunkt, dass jedes Wort überlegt sein will.

Ein beliebter Fehler ist die falsche Verwendung von Bahre und Trage: Der Kranke liegt auf einer Trage, der Tote auf einer Bahre (fragt sich nur, wer auf der so beliebten Tragbahre liegt – dieses Wort ist auf jeden Fall falsch).

Seien Sie vorsichtig bei dem Wörtchen laufend, es könnte zu ungewollter Heiterkeit führen, wie bei »Maximilian gab laufend Heiratsanzeigen auf«; »Geli stolperte laufend ins Fettnäpfchen«.

Unterscheiden Sie auch zwischen größer und mehr. Immanuel KANT nennt dafür Beispiele:
Es ist in einem Kessel voll siedendem Wasser mehr Wärme als in einem Löffel desselben, aber nicht größere. Zwei Esel ziehen einen Wagen mit mehr Geschwindigkeit, aber nicht mit größerer.
Ebenso unterscheidet er zwischen »ein jeder, alle, das All« [das Gesamte jmw]:
Ich habe einen Pfennig vor jeden Armen, aber nicht vor alle Armen, noch weniger vors All.
Es gibt so viele Fallstricke, dass ich sie aus Platzgründen nicht alle (oder besser jeden Fallstrick?) anführen kann. Nur noch ein Beispiel: Der Käse fängt an zu riechen: Ist er lebendig? Vorschlag: der Käse riecht etwas – nein, auch schon wieder falsch, kann ein Käse etwas riechen? –, warum nicht zeigen: Annika schnupperte am Camembert und verzog das Gesicht. Das sind ein paar Wörter mehr, doch der Leser verzieht ebenfalls sein Gesicht.

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