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Sonntag, 21. September 2008

Geben Sie Ihrem Thema ein Gesicht (Übers Erzählen. III)


Niemals kann etwas als Ganzes erzählt werden;
wir können immer nur nehmen, was sich zusammenfügt. (Henry JAMES)


»Wenn du die Welt beschreiben willst, beschreibe dein Haus« – dieser Satz BALZACS zählt zu den wichtigsten Grundsätzen des Erzählens. Er beschreibt zum Beispiel Vorhänge so, dass der Leser weiß: Am Fenster hängen zwar Vorhänge, doch da sie aus Baumwolle und nicht aus Seide sind, lebt dort keine adlige Familie, auch keine arme, sondern das Bürgertum.

Fangen Sie also mit den Vorhängen an, wenn Sie Ihr Thema gefunden haben beziehungsweise das Thema Sie – laut HEINE ergreift der Autor keine Ideen, sondern wird von ihnen ergriffen. Auch FLAUBERT betont, dass man sich seine Themen nicht selbst wählt, sondern dass sie sich aufdrängen. Alfred BESTER sagt: »Das Buch ist der Boss«, und GRASS schreibt:
Nicht er (der Schriftsteller, jmw) stellt sich selbstherrlich das Thema seiner Wahl, vielmehr ist es ihm vorgegeben. Ich jedenfalls habe nicht frei entscheiden können. Denn wäre es einzig mir und meinem Spieltrieb zufolge gegangen, hätte ich mich nach rein ästhetischen Gesetzen erprobt und so unbeschwert wie harmlos im Skurrilen meine Rolle gefunden.
»Man muss das Tiefe verstecken. Wo? An der Oberfläche«, sagt HOFMANNSTHAL. Unterhalten Sie Ihren Leser und verbergen Sie das, was Sie ihm mitteilen möchten – Ihre Welt, Ihre Gedanken und Werte –, zwischen den Zeilen, denn der Leser möchte nichts erklärt bekommen und nicht belehrt werden, sondern Sie müssen sich und Ihre Welt, Ihre Gedanken und Werte im Leser lebendig werden lassen.

Machen Sie dazu das Große am Kleinen, am Einzelschicksal fest. Schreiben Sie nicht über einen Beruf, sondern zeigen Sie einen Menschen, der ihn ausübt, sonst klingt Ihr Text nach Arbeitsagentur und nicht nach Leben. Beschreiben Sie kein historisches oder weltbewegendes Geschehnis, sondern erfinden Sie eine Figur, die das in ihrem Alltag erlebt. »Phantasie heißt ja ohnehin, aus wenig viel zu machen: aus der Farbe einer Fliese die Geschichte einer Reise«, schreibt Terézia MORA.

»Verstehe erst das große Ganze, dann kümmere dich um die Details«, sagt Tom WOLFE, dessen Vorbild BALZAC ist. Er beschreibt zum Beispiel in seinem Roman Ein ganzer Kerl den Schauplatz so, dass der Leser ahnt, was folgt: Der Immobilienmakler wird erfahren, dass seine Firma vor dem Aus steht:
Der Konferenzraum ging nach Osten hinaus, was das Gleißen der Sonne unerträglich machte. Es gab vor all diesem Glas auch nichts, was diese gleißende Helligkeit gemindert hätte, keine Vorhänge, keine Markisen, keine Jalousien, keinen einzigen Fetzen, keine einzige Lamelle. O nein, das Ganze war sorgfältig überlegt worden …
Um die Szenerie zu verstärken, steht in dem Raum eine »einzelne tropische Pflanze, eine Dracaena, in einem Tontopf, die einging. Mehrere lange, dürre gelbliche Wedel hingen schlaff zur Seite wie die Zungen von Verstorbenen«.

Schildern Sie das Treppenhaus eines Plattenbaus oder eines Fachwerkhauses, wenn Sie über einen Ort schreiben wollen. Wenn das gut dargestellt ist, ist auch der Ort gut beschrieben. Schreiben Sie nicht über einen Kilometer, sondern einen Zentimeter: Verwenden Sie den kleinen Maßstab. Bringen Sie das Allgemeine ins Private.

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