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Samstag, 8. Juli 2006

Über Interpretationen des eigenen Textes und über Unverständlichkeit und Unklarheit

Manche Autoren veranstalten gern Quizspiele: Der Leser gewinnt, der sich nicht so leicht hinters Licht führen lässt wie die anderen, die zu dumm sind, ihren mit ach so vielen Zeichen ach so literarisch ausgearbeiteten Text zu kapieren. Und Lektoren sind natürlich "schwachköpfig", nur weil sie ihr Kunstwerk ablehnen. Ein Text, den nur eine exquisite Anzahl Leser und nicht Hinz und Kunz als wunderbar und genial erkennt, ist schlicht und ergreifend gescheitert. Denn absichtliche Unverständlichkeit oder Unklarheit wirken nicht subtil, sondern sind leserverachtend. Alle großen Schriftsteller schreiben allgemeinverständlich. Wollen sie eine Minderheit ansprechen, schreiben sie Essays oder Fachliteratur.

Das muss man als Autor akzeptieren, ebenso wie man akzeptieren muss, dass Interpretationen des eigenen Textes meist unmöglich sind, auch wenn man damit eine Botschaft verkündigen, ein Anliegen unter die Leute bringen will. Laut ECO darf ein Erzähler das eigene Werk gar nicht deuten, »andernfalls hätte er keinen Roman geschrieben, denn ein Roman ist eine Maschine zur Erzeugung von Interpretationen«. Deutungen des eigenen Werkes sind auch oft nicht möglich, weil der Autor nicht weiß, wie er etwas geschrieben hat – was für ein Meisterstück ihm gelungen ist (sollte ihn ein Leser darauf hinweisen, so freue er sich insgeheim). REICH-RANICKI fasst das unnachahmlich in Worte: »So ist es auch mit unseren Autoren: Die meisten verstehen von Literatur so wenig wie Vögel von Ornithologie.«

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