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Donnerstag, 27. Oktober 2011

Lesen – Lesen – Lesen (Wie erwirbt man einen guten Stil? II)


Dichten lernt man durch regelmäßiges Lesen von Gedichten. (GALILEI)*

Damit Sie schreiben können, müssen Sie lesen. Sie können nicht nur aus Ihrem Inneren heraus erzählen, Sie benötigen auch die literarische Anregung. »Ich lese auch Lyrik, ich lese Sachbücher, ich lese alles. Man spaziert dabei ja in dem Hirn von anderen Menschen herum, das ist immer inspirierend«, so Cornelia FUNKE in einem Interview mit dem Tagesspiegel. Durch das Lesen gewinnen Sie auch Sprachsicherheit, und durch das Vergleichen der Stilmerkmale entdecken Sie den Reichtum der Sprache. Seit HOMER, dem Begründer der abendländischen Literatur – die Ilias gilt als der erste europäische Roman –, haben sich Schriftsteller an Vorbilder gehalten und doch ihren eigenen Stil gefunden.

Ich möchte hier keinen Kanon aufstellen, zu vielfältig sind die Werke, um objektiv zu sein. Einige Bücher möchte ich aber doch nennen. Da sind zum einen Gustav SCHWABS Sagen des klassischen Altertums, die sich an die griechischen Klassiker anlehnen. Die Dramatik und die Figuren bei Homer und den griechischen Tragikern wie SOPHOKLES und EURIPIDES gelten auch heute noch als Vorbild für Literatur. Denn alles Wissen, das der Schriftsteller zum Schreiben braucht, findet er in der Weltliteratur. Für jede handwerkliche Frage – wie ein spannender Plot gefunden wird, wie Charaktere aufgebaut, Gefühle bildlich dargestellt, Dialoge lebendig werden, wie gezeigt wird statt zu informieren – entdeckt er dort die Lösung. Auch Drehbücher, selbst von Seifenopern, stützen sich auf die klassischen dramaturgischen Regeln über Stoff, Konflikt, Handlung, Charakter und Ausführung, also die »Zusammenfügung der Geschehnisse«, vor allem von ARISTOTELES. Und ich empfehle Ihnen die Bibel in der Übersetzung LUTHERS, auch wenn Sie nicht religiös sind. Kaum ein Werk ist so sprachgewaltig, so voller Bilder, Rhythmus und Klang und spannender, grausamer, heldenhafter und zeitloser Geschichten.

Studieren Sie Klassiker wie GOETHE (vor allem Faust I und II), DOSTOJEWSKI, Thomas MANN, Hermann HESSE, Max FRISCH, auch wenn Ihnen deren zum Teil herkömmlicher Stil missfällt. Magiere des Wortes sind sie alle. Lernen Sie von ihnen, wie man Figuren zeichnet und einführt, wie man die Handlung aufbaut, welche Perspektive man wählt. Studieren Sie, mit welchen sprachlichen Mitteln sie arbeiten – wie sie Ihre Phantasie anregen. Lesen Sie aber auch Werke von Schriftstellern, die Sie mögen und eher Ihrem Stil entsprechen, und von Erzählern anderer Nationen. Die Sinnlichkeit, mit der vor allem lateinamerikanische und asiatische, aber auch arabische Autoren ihre Welt und die Menschen, die in ihr leben, zeigen, ist ein Lehrstück für so manchen deutschsprachigen Autor. Lesen Sie andere Genres, um Ihren Horizont zu erweitern und noch mehr Anregungen zu finden.

Wenn Sie gern Kurzgeschichten schreiben, sollten Sie Anton TSCHECHOW, Edgar Allan POE oder Texte aus der Short-Story-Schule lesen. – Short Story bedeutet übrigens etwas anderes als Kurzgeschichte, auch wenn die wörtliche Übersetzung das suggeriert. Im deutschsprachigen Raum wird bei der »kurzen Geschichte« zwischen Erzählung, Kurzgeschichte und Novelle unterschieden; die Short Story entspricht eher der Novelle. –

Das Vorbild für Short Storyies ist natürlich Ernest HEMINGWAY. Er hielt sich mit weisen Ratschlägen jedoch zurück, weil er meinte, über Literatur zu sprechen hätte den gleichen Effekt wie über Schmetterlingsflügel oder über das Gefieder eines Adlers zu reden – die Faszination würde bei zu genauer Betrachtung verschwinden.

Verfolgen Sie Kritiken von Büchern, Theaterstücken und Filmen. Sie erfahren dort Wichtiges über deren Dramaturgie, deren Vorzüge und Nachteile, weil die Kritiker (meist) sachkundig begründen, weshalb sie die Werke preisen oder verdammen. Üben Sie selbst Kritik.

Lesen Sie aber auch Unterhaltungsliteratur, um aus den Fehlern anderer Schriftsteller zu lernen. Überlegen Sie, was Sie anders oder besser schreiben würden. Gerade schlechte Texte können Sie etwas lehren, denn, so PLINIUS der Ältere: »Kein Buch ist so schlecht, dass es nicht in irgendeiner Weise nutzen könnte« (Nullus est liber tam malus, ut non aliqua parte prosit). Vor allem an schlechten Übersetzungen, die leider zunehmen, weil die Verlage Übersetzer schlecht bezahlen, schulen Sie Ihr Sprachgefühl.

Maxim GORKI schreibt in seinem Aufsatz Wie ich schreiben lernte:
Schlechte Bücher habe ich unendlich viele gelesen, aber auch sie waren mir von Nutzen. Das Schlechte im Leben muß man ebenso gut und gründlich kennen wie das Gute. Man muß soviel wie möglich wissen. Je mannigfaltiger die Erfahrungen sind, desto höher erheben sie den Menschen, desto weiter wird sein Gesichtsfeld.
Und Max FRISCH fesseln »zuweilen am meisten Bücher«,
die zum Widerspruch reizen, mindestens zum Ergänzen: – es fallen uns hundert Dinge ein, die der Verfasser nicht einmal erwähnt, obschon sie immerzu am Wege liegen, und vielleicht gehört es zum Genuß des Lesens, daß der Leser vor allem den Reichtum seiner eigenen Gedanken entdeckt. Mindestens muß ihm das Gefühl erlaubt sein, das alles hätte er selber sagen können. Es fehlt uns nur die Zeit, oder wie der Bescheidene sagt: es fehlen uns nur die Worte. Und auch das ist noch eine holde Täuschung. Die hundert Dinge nämlich, die dem Verfasser nicht einfallen, warum fallen sie mir selber erst ein, wenn ich ihn lese? Noch da, wo wir uns am Widerspruch entzünden, sind wir offenbar die Empfangenden. Wir blühen aus eigenen Zweigen, aber aus der Erde eines anderen. Jedenfalls sind wir glücklich. Wogegen ein Buch, das sich immerfort gescheiter erweist als der Leser, wenig Vergnügen macht und nie überzeugt, nie bereichert, Jedenfalls sind wir glücklich. Wogegen ein Buch, das sich immerfort gescheiter erweist als der Leser, wenig Vergnügen macht und nie überzeugt, nie bereichert, auch wenn es hundertmal reicher ist als wir. Es mag vollendet sein, gewiß, aber es ist verstimmend. Es fehlt ihm die Gabe des Gebens. Es braucht uns nicht.
Nicht zuletzt sollten Sie Autobiografien, Briefe oder Interviews lesen, in denen Schriftsteller über ihre Arbeitsweise berichten, über ihre Ängste, über ihren Kampf um Anerkennung, und poetologische Fragen und Probleme behandeln. Dazu zählen Gustave FLAUBERTS Briefe an Louise COLET und Umberto ECOS Nachschrift zur ›Rose‹.

Lesen Sie kritisch und sorgfältig (aber das tun Sie als Schreibender ja eh): Schreibt der Autor viele Dialoge? Wirken sie konstruiert oder sind sie lebensecht? Beschreibt er akribisch oder malt er farbige, plastische Bilder? Zeigt er oder informiert er nur? Spricht er all Ihre Sinne an? Bildet er kurze, knappe Sätze oder baut er funkelnde Satzgebilde? Achten Sie auf die Wortwahl – schreibt er kraftvolle Wörter oder fallen ihm nur Klischees ein? Markieren Sie, was Ihnen gefällt, und versehen Sie unklare Formulierungen mit Fragezeichen, notieren Sie Anmerkungen am Rand. Sie werden ein schlechtes Buch schon daran erkennen, dass es Sie in den Fingern zuckt, nach dem gelben oder roten (je nach Temperament) Edding, Marker oder Heftzettel zu greifen.

Lesen Sie jedes Buch, das Ihnen gefällt, zwei Mal. Manche Szenen werden so klarer und Sie entdecken highlights, die Ihnen vorher entgangen waren. Verfassen Sie eine Inhaltsanalyse und vermerken Sie, weshalb Ihnen das Buch gefiel oder weshalb nicht, weshalb Ihnen manche Stellen gefielen und andere nicht. Oder: Warum Sie sich langweilten, worüber Sie sich ärgerten, weshalb Sie nicht weiter lasen.

Ein Schriftsteller ist nie fertig. Er entwickelt sich auch durch das Lesen anderer Texte in seinem Schreiben weiter.
Siehe dazu auch http://juttas-schreibtipps.blogspot.com/search/label/Stil

*Onely give me leave to expound my doubts, and to reply something to your last words, telling you, that Logick, as it is well understood, is the Organe with which we philosophate; but as it may be possible, that an Artist may be excellent in making Organs, but unlearned in playing on them, thus he might be a great Logician, but unexpert in making use of Logick; like as we have many that theorically understand the whole Art of Poetry, and yet are unfortunate in composing but meer four Verses; others enjoy all the precepts of Vinci, and yet know not how to paint a Stoole. The playing on the Organs is not taught by them who know how to make Organs, but by him that knows how to play on them: Poetry is learnt by continual reading of Poets: Limning is learnt by continual painting and designing: Demonstration from the reading of Books full of demonstrations, which are the Mathematical onely, and not the Logical. (In Dialogues on Two World Systems, S. 23)

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