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Montag, 19. September 2011

Die Poetic Justice


Außer der Moral muß auch noch die poetische Gerechtigkeit beobachtet werden, und hierin lassen sich oft sonst löbliche Schriftsteller zu Fehlern verleiten, weil sie nicht das Criminalgesetzbuch der Kunst genug im Kopfe haben. Es wundert mich um so mehr, da diese Gesetze so einfach sind; denn da es ohne Tod und Ermorden in den Büchern nicht hingeht, so muß der Schuldige seinen Tod verdienen, und der Unschuldige, der stirbt, muß wenigstens dem Mörder so viel Gelegenheit zur Reue und Zerknirschung vor dem Gnadenstoß auf dem letzten Blatte geben, daß der Leser selbst die Hinrichtung beschleunigt wünscht. (Ludwig Tieck, Die sieben Weiber des Blaubart, S. 18)
Die moralische Wertung strafbarer Handlungen macht einen Text trivial. Wichtig ist der Schuldbegriff und nicht die Tat als solche. Beachten Sie aber die poetic justice, die dichterische Gerechtigkeit (nicht zu verwechseln mit dem Happy End, denn im Gegensatz dazu darf der Held sterben), ein Begriff, den Thomas Rhymers 1677 in The Tragedies of the Last Age prägte, der letztlich aber auf Plato und Aristoteles zurückgeht.

Das biblische Gesetz »Auge um Auge, Zahn und Zahn« wirkt heute archaisch, doch im Gerechtigkeitsempfinden der Menschen lebt es weiter. Auch wenn der Unterschied zwischen gut und böse inzwischen differenziert betrachtet wird, muss der Autor gerecht sein. Der Leser verlangt, dass der Schurke, nachdem er seitenlang sein Unwesen getrieben hatte, bestraft wird. Er möchte nicht, dass der Übeltäter aus dem Gefängnis entweicht und nicht gefasst wird. Einem Posträuber wie Briggs mag er das noch nachsehen, weil er insgeheim mit ihm sympathisiert – wer würde nicht gern am Strand von Rio mit einer Million auf dem Konto den Rest seiner Tage verbringen? Aber dann darf er mit dem Geld nicht glücklich werden.

Der Leser mag Verstöße gegen das Gute akzeptieren, weil »das Leben halt so ist«, er wird ein Ende, bei dem die Tat ungesühnt bleibt, jedoch ablehnen. Wilhelm Emrich schreibt dazu:
Es läßt sich daher zeigen, daß literarische Werke, in denen die ethischen Wertsetzungen unklar, widersprüchlich oder einseitig durchgeführt werden, auch in der künstlerischen Formung bis ins sprachlich-stilistische Detail hinein »schlecht« sind bzw. nur sehr geringe ästhetische Qualität aufweisen. So sind z. B. in Kleists Drama »Die Hermannsschlacht« die ethischen Wertsetzungen pervertiert bzw. »falsch« gestaltet, weil im Gegensatz zu allen anderen Werken Kleists das »absolute« Gefühl hier gebunden wird an ein empirisches Gefühl, identifiziert wird mit dem »Nationalgefühl«; was nicht nur zu einer unmöglichen Ethik, sondern zwangsläufig auch zu einem sprachkünstlerisch geringwertigen, ästhetisch mißlungenen Gebilde führen mußte. (In Geist und Widergeist, S. 28)
Bejahen Sie unerlaubtes Verhalten also nicht bedingungslos. Auch wenn Sie es aus moralischen Gründen entschuldigen, müssen Sie das Unrecht daran herausarbeiten. Heinrich von Kleist rechtfertigt das gesetzlose Handeln seines ehrbaren Michael Kohlhaas von dessen »Rechtsgefühl, das einer Goldwaage glich« her, lässt es aber den Helden selbst als falsch erkennen und die Strafe annehmen. Auch Ehebrecherinnen wie die Bovary, Anna Karenina und Effi Briest bezahlten für ihr Vergehen mit ihrem Leben – ein Vergehen, das den damaligen Moralvorstellungen entsprach, oder kennen Sie einen Roman, in dem der Held für seinen Ehebruch mit dem Tode büßen muss?

Im Laufe des Schreibens können sich Ihre Moralvorstellungen sogar als unmoralisch oder sich scheinbar unmoralische Werte als moralisch wertvoll erweisen, weil Sie sie mit einem anderen Blickwinkel betrachten.

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