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Sonntag, 12. Juni 2011

Lessing über Küchenzettel und Titel


Gottfried Ephraim Lessing schreibt in der Hamburgischen Dramaturgie* mehrfach über die Wahl von Titeln. Am bekanntesten ist sicher seine Bemerkung anlässlich des kurzen Titels von Voltaires Lustspiel Nanine:

„Ein Titel muß kein Küchenzettel** sein. Je weniger er von dem Inhalte verrät, desto besser ist er.“
The less a title divulges the content, the better it is.

Genauer gesagt schreibt er:
Den sieben und zwanzigsten Abend (Montags, den 1tsten Iunius,) ward die Nanine des Herrn von Voltaire gespielt.

Nanine? fragten sogenannte Kunstrichter, als dieses Lustspiel im Jahre 1749 zuerst erschien. Was ist das für ein Titel? Was denkt man dabey? Nicht mehr und nicht weniger, als man bey einem Titel denken soll. – Ein Titel muß kein Küchenzettel sein. Je weniger er von dem Inhalte verräth, desto besser ist er. Dichter und Zuschauer finden ihre Rechnung dabey, und die Alten haben ihren Komödien selten andere, als nichtsbedeutende Titel gegeben. Ich kennekaum drey oder viere, die den Hauptcharakter anzeigten, oder etwas von der Intrgue verriethen. (…)
Ich erinnere mich, meine Meinung von den Titeln der Komödien überhaupt schon einmal geäußert zu haben. Es könnte sein, daß die Sache so unbedeutend nicht wäre. Mancher Stümper hat zu einem schönen Titel eine schlechte Komödie gemacht; und bloß des schönen Titels wegen. Ich möchte doch lieber eine gute Komödie mit einem schlechten Titel. Wenn man nachfragt, was für Charaktere bereits bearbeitet worden, so wird kaum einer zu erdenken sein, nach welchem, besonders die Franzosen, nicht schon ein Stück genannt hätten. Der ist längst dagewesen! ruft man. Der auch schon! Dieser würde vom Molière, jener vom Destouches entlehnet sein! Entlehnet? Das kömmt aus den schönen Titeln. Was für ein Eigentumsrecht erhält ein Dichter auf einen gewissen Charakter dadurch, daß er seinen Titel davon hergenommen? (S. 93f.)
(Zum Problem des „begrifflichen Titels“ siehe auch die Ausführungen in Thomas S. Grey: Richard Wagner and His World, S. 83)
Und:
Wenn der Titel Nanine nichts sagt; so sagt der andere Titel desto mehr: Nanine, oder das besiegte Vorurtheil. Und warum soll ein Stück nicht zwey Titel haben? [kursiv jmw] Haben wir Menschen doch auch zwey, drey Namen. Die Namen sind der Unterscheidung wegen; und mit zwey Namen ist die Verwechselung schwerer, als mit einem. (S. 95)
Aber wichtig für jeden Schreibenden, der verzweifelt nach einem Titel für sein Werk sucht, sind vor allem seine Ausführungen auf S. 97:
Der Titel ist eine wahre Kleinigkeit: aber dasmal*** hätte ich ihn von dem einzigen lächerlichen Charakter nicht hergenommen; er braucht den Inhalt weder anzuzeigen, noch zu erschöpfen; aber er sollte doch auch nicht irreführen. Und dieser thut es ein wenig. Was ist leichter zu ändern, als ein Titel? [kursiv jmw]
*Das Wort „Waschzettel“ ist falsch,
**ebenso die Bezeichnung des Werkes als „Hamburger Dramaturgie“
***auch dießmal

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